Eine Reise auf der Suche nach der Antwort
Als ich als Student im fortgeschrittenen Studium war, lernte ich, dass das menschliche Gehirn aus 100 Milliarden Neuronen besteht (Kolb und Whishaw 2009). Über diese Zahl wurde in wissenschaftlichen Zeitschriften, Lehrbüchern und in Hochschulvorlesungen berichtet. Sie wurde als Tatsache akzeptiert. Ich habe nie ein Zitat einer Originalquelle zur Untermauerung dieser Behauptung gesehen, und ich habe auch nie jemanden fragen hören, ob es Beweise zur Untermauerung dieser Behauptung gibt oder nicht. Ich nahm einfach an, es sei allgemein bekannt und müsse durch eine große Datenmenge gestützt werden. Selbst die breite Öffentlichkeit wusste, dass das menschliche Gehirn aus 100 Milliarden Neuronen besteht. Neben der Verbreitung der vermeintlichen Tatsache durch die Wissenschaft wurde die Idee der 100 Milliarden Neuronen auch von den Massenmedien aufgegriffen und verbreitet.
Gehirnzellen zählen
Im Jahr 2003 wurde Suzana Herculano-Houzel (Neuroanatomin vom Comparative Neuroanatomy Lab an der Vanderbilt University) neugierig, woher die Zahl kam, und begann, leitende Neurowissenschaftler zu befragen. Niemand war in der Lage, ihr die ursprüngliche Quelle zu nennen. Nach ausgiebiger Suche in der wissenschaftlichen Literatur konnte sie keine einzige Quelle finden, die die Behauptung untermauert (Herculano-Houzel 2016). Zu dieser Zeit arbeitete sie an der staatlichen Universität Rio de Janeiro und betrachtete sich selbst nicht als Neuroanatomin, hatte kein Labor und verfügte über keine Forschungsfinanzierung. Aber sie war sehr skeptisch und sie interessierte sich für das Zählen von Gehirnzellen: Hatte sie jemand zuverlässig gezählt?
Als sie den Nobelpreisträger Eric Kandel, Koautor von Principles of Neural Science, um eine Originalquelle für die Behauptung bat, konnte er keine zur Verfügung stellen, obwohl die Behauptung in Principles of Neural Science aufgestellt wurde. Kandel sagte, er sei nicht für das Kapitel verantwortlich, das die 100-Milliarden-Neuronen-Behauptung enthält, einer seiner Koautoren habe dieses Kapitel geschrieben. „Es war 2004, und niemand wusste wirklich, wie viele Neuronen im menschlichen Gehirn im Durchschnitt zu finden waren.“ Als Roberto Lent, Autor von One Hundred Billion Neurons, gefragt wurde, woher die Zahl stamme, konnte auch er laut Herculano-Houzel keine Antwort geben. Der Titel des Buches wurde später in One Hundred Billion Neurons? geändert, wobei dem Titel ein Fragezeichen hinzugefügt wurde.
Ein Schlüsselproblem bei dem Versuch, Neuronen im Gehirn zu zählen, ist die Variabilität ihrer Verteilung im gesamten Gehirn. Die Dichte der Neuronen kann in verschiedenen Strukturen um Faktoren von bis zu 1.000 variieren. Selbst innerhalb einer einzigen Struktur können verschiedene Schichten aus einer unterschiedlichen Anzahl von Neuronen bestehen.
Nach zahlreichen Versuchen, eine zuverlässige, fundierte Methode zum Zählen von Gehirnzellen zu entwickeln (dazu gehörte das Zählen von Neuronen, nicht-neuronalen Glia- und Endothelzellen des Gehirns), war der „isotrope Fraktionator“ fertig. Die Methode besteht darin, Zellmembranen unter Erhalt der Kernmembranen (jedes Neuron besteht aus einer Kernmembran) aufzulösen und das herzustellen, was Herculano-Houzel als Gehirnsuppe bezeichnet. In der Gehirnsuppe befinden sich freischwebende Kerne, die sich relativ einfach zählen lassen, indem man winzige Mengen der Suppe entnimmt. Alle Zellkerne der Zellen werden blau angefärbt, gesammelt und gezählt. Das Zählen der Kerne ist einfach und erfordert keine spezielle Ausbildung. In dem 2016 erschienenen Buch The Human Advantage beschreibt Herculano-Houzel, wie die Technik entwickelt wurde, einschließlich der Einzelheiten zu den ersten fehlgeschlagenen Versuchen, eine Gehirnsuppe herzustellen. Andere Forscher, darunter Christopher von Bartheld von der University of Reno und Jon Kaas von der Vanderbilt University, haben gezeigt, dass diese Methode schnell, zuverlässig und relativ einfach anzuwenden ist (Bahney und von Bartheld 2014).
Die Ergebnisse des isotropen Fraktionierers zeigen, dass das menschliche Gehirn durchschnittlich 86 Milliarden Neuronen und 85 Milliarden nicht-neuronale Zellen (Gliazellen und Endothelzellen) besitzt. Leute, die gerne darauf hinweisen, dass „Sechsundachtzig fast Einhundert“ sind, und die behaupten, dass die 100 Milliarden als Schätzung der Größenordnung akzeptabel sind, kontert Herculano-Houzel, indem sie sagt, dass ein ganzes Pavianhirn elf Milliarden Neuronen enthält. Vierzehn Milliarden ist eine bedeutende Anzahl von Neuronen. Sie wird noch bedeutsamer, wenn man bedenkt, dass sich jedes Neuron mit Tausenden von anderen Neuronen verbinden kann.
Beständige Skepsis
Die ursprüngliche Forschung von Herculano-Houzel und die durch ihre Ergebnisse beeinflusste Forschung hat zu Veränderungen im Verständnis des Gehirns geführt. Sie hat Hirnzellen verschiedener Spezies gezählt, so dass ihre Arbeit auch im Hinblick auf nichtmenschliche Tiere von Bedeutung ist. Schulbuchautoren und führende Hirnforscher würdigen ihre bahnbrechende Arbeit. In einem kürzlich geführten Gespräch mit Bryan Kolb, Koautor von Fundamentals of Human Neuropsychology (2009), sagte er mir, dass es in zukünftigen Ausgaben des Textes keine Hinweise auf den 100 Milliarden-Neuronen-Mythos geben werde. Ich setzte mich mit Kolb in Verbindung, nachdem ich gelesen hatte, dass in einem Lehrbuch, das er mitverfasst hatte, steht, dass das menschliche Gehirn etwa 100 Milliarden Neuronen enthält. Es war dieser Text, Fundamentals of Human Neuropsychology, den ich im fortgeschrittenen Studium verwendete. Ich war glücklich, als ich in Eric Kandels Buch The Disordered Mind: What Unusual Brains Tell Us about Ourselves (2018) las, dass das Gehirn „seine bemerkenswert schnellen und genauen Rechenleistungen erbringen kann, weil seine 86 Milliarden Nervenzellen - seine Neuronen - durch sehr präzise Verbindungen miteinander kommunizieren“. Wie Sie sich erinnern, war Kandel Mitautor eines Buches, in dem es hieß, das menschliche Gehirn bestehe aus 100 Milliarden Neuronen. Das von ihm mitverfasste Buch Principles of Neural Science wird oft als bahnbrechendes Werk auf dem Gebiet der Neurowissenschaften angesehen.
Der Weg, den Herculano-Houzel zur wissenschaftlichen Entdeckung zurückgelegt hat, ist beeindruckend. Er zeugt von einer beständigen Skepsis, die für die Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnisse unerlässlich ist. Neben der Widerlegung der 100-Milliarden-Neuronen-Statistik hat ihre Forschung auch andere lang gehegte neurowissenschaftliche Dogmen widerlegt. So wurde beispielsweise bis vor kurzem in Lehrbüchern die Behauptung aufgestellt, dass die Anzahl der Gliazellen (eine Art von Hirnzellen, die an zahlreichen Prozessen beteiligt sind, inklusive der Unterstützung von Nervenzellen) die Nervenzellen im menschlichen Gehirn um den Faktor 10 übersteigen. Die Suche nach einer Originalquelle zur Untermauerung dieser Behauptung schlug fehl. Die Zählung der Gehirnzellen erlaubte es Herculano-Houzel, auch diesen Mythos zu zerstreuen. Ein von Herculano-Houzel und Kollegen publiziertes Papier mit dem Titel „Equal Numbers of Neuronal and Non-Neuronal Cells Make the Human Brain an Isometrically Scaled-Up Primate Brain“ (Gleiche Anzahl neuronaler und nicht-neuronaler Zellen machen das menschliche Gehirn zu einem isometrisch vergrößerten Primatenhirn), das jetzt eine viel zitierte Veröffentlichung ist, wurde von prominenten Zeitschriften abgelehnt, darunter Nature, Proceedings of the National Academy of Sciences of the U.S.A., Neuron und das Journal of Neuroscience. Die Arbeit wurde schließlich im Journal of Comparative Neurology veröffentlicht (Azevedo et al. 2009). Selbst angesehene Wissenschaftszeitschriften sind manchmal widerstrebend gegenüber Veränderungen und üben nicht unbedingt die Skepsis aus, die für das wissenschaftliche Denken unerlässlich ist.
Übersetzung. Jörg Elbe
Jamie Hale ist Dozent am College und ist mit dem Cognitive Neuroscience Lab und dem Perception & Cognition Lab der Eastern Kentucky University verbunden. Er hat Artikel und Bücher zu einer breiten Palette von Themen veröffentlicht. Jamie Hale ist der Direktor der Knowledge Summit Research Group und Autor von In Evidence We Trust: The need for science, rationality and statistics. Seine zukünftigen Artikel werden sich mit Modellen für verbessertes wissenschaftliches Denken, populären Mythen und Rationalität in der Kognitionswissenschaft befassen.
Literaturhinweise
Azevedo, F.A.C., et al. 2009. Equal numbers of neuronal and non-neuronal cells make the human brain and isometrically scaled-up primate brain. Journal of Comparative Neurology 513: 532–541.
Bahney, J., and C.S. Bartheld. 2014. Validation of the isotropic fractionator: Comparison with unbiased stereology and DNA extraction for quantification of glial cells. Journal of Neuroscience Methods 222: 165–174.
Herculano-Houzel, S. 2016. The Human Advantage: A New Understanding of How Our Brain Became Remarkable. Cambridge, MA: The MIT Press.
Kandel, E.R. 2018. The Disordered Mind: What Unusual Brains Tell Us about Ourselves. New York, NY: FSG.
Kandel, E.R. et al. 2000. Principles of Neural Science, 4th edition. New York, NY: McGraw-Hill.
Kolb, B. and I. Whishaw. 2009. Fundamentals of Human Neuropsychology, 6th edition. New York, NY: Worth Publishers.
Kommentare
Seit Jahrzehnten versuche ich - als Arzt im Internet - die Menschheit zu retten, aber die Menschheit ,will die einfachen natürlich komplexen Zusammenhänge nicht schlucken. Sie macht einfach alles schicksalhaft verhängnisvoll antriebsdynamisch - unbewusst dominiert wirksam - weiter. Ja, was können wir da noch tun -, ehe der Zug weg ist? Ja , wo ist denn der GUTE GEIST - wo ist er denn?
Geht
s denn noch größenwahnsinniger, wir wären Guten Geistes, denn wir sind, allesamt, wie das die Menschheitsgeschichte beweist, noch immer unbewusst dominant wirksam, Sklaven der unbewussten, eitlen, vorteils- und macht-orientierten Antriebe, wie alle anderen Tiere auch! Auf geht
s und nicht verdrossen! - Hauptsache ist`s, es wird nicht geschossen!!!Antworten
Lieber Jörg,
ein interessanter Blick ins Gehirn. Darf ich denn noch sagen: Die Anzahl von Neuronen im menschlichen Gehirn beträgt 'größenordnungsmäßig' 100 Milliarden (statt 86 Milliarden)? Dann wäre ja die Schätzung aus unbekannter Quelle nicht so schlecht gewesen! Als Astrophysiker ist zum Vergleich die Anzahl der Sterne in unserer Milchstraße in der Größenordnung ähnlich, nämlich 200 Milliarden.
Für Esoteriker: Wurden da vielleicht 114 Milliarden Neuronen übersehen oder aber 114 Milliarden Sterne zu viel geschätzt?
Jedenfalls ein interessanter Bericht – danke!
Liebe Grüße,
Rolf
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