Wissenschaftsleugnung ist eine Form der Pseudowissenschaft

Die Gemeinsamkeiten von Leugnung und Propagierung von Pseudotheorien

Wissenschaftsleugnung ist eine Form der Pseudowissenschaft

Foto: Pixabay.com / MiraCosic

Der Begriff Pseudowissenschaft hat in den letzten Jahren das Interesse der Wissenschaftsphilosophen geweckt. Dies liegt nicht nur daran, dass das so genannte Abgrenzungsproblem - die Frage, was Wissenschaft von Pseudowissenschaft unterscheidet - für Philosophen und Erkenntnistheoretiker von Natur aus interessant ist. Es liegt auch daran, dass Pseudowissenschaft von Bedeutung ist, wie im Fall der immer deutlicher werdenden negativen persönlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen von z. B. Impfstoff- und Klimawandelleugnung.

Aber ist Leugnen dasselbe wie Pseudowissenschaft? Was haben Menschen, die z. B. die Evolution ablehnen, mit Menschen gemeinsam, die homöopathische „Heilmittel“ propagieren? Mein Kollege Sven Ove Hansson von der Königlichen Technischen Hochschule in Stockholm hat darüber einen aufschlussreichen Artikel geschrieben (Hansson 2017)(1) Hansson beginnt damit, zwei Arten von schlechten epistemischen Praktiken zu unterscheiden, die unter den breiteren Begriff der Pseudowissenschaft fallen: Wissenschaftsleugnung und Propagierung von Pseudotheorien. Zu Ersterem gehören die Leugnung der Evolution, des Klimawandels, der Wirksamkeit von Impfstoffen usw. Letzteres hat mit Homöopathie, Astrologie, altertümlichen Astronautentheorien und so weiter zu tun.

Hansson schlug in einem früheren Aufsatz vor, dass eine Aussage als pseudowissenschaftlich betrachtet werden sollte, wenn sie drei Kriterien erfüllt: 1) sie bezieht sich auf ein Thema, das in den Bereich der Wissenschaft im weitesten Sinne fällt; 2) sie ist so unzuverlässig, dass man ihr nicht trauen kann; und 3) ihre Befürworter versuchen aktiv, den Eindruck zu erwecken, dass die Aussage in ihrem eigenen Kompetenzbereich höchst zuverlässig ist.

Nehmen wir je ein Beispiel für Leugnung und Propagierung von Pseudotheorien, um zu sehen, wie sie die drei Kriterien erfüllen. Die Evolutionsleugnung betrifft den Bereich der biologischen Entwicklung und Veränderung, der eindeutig in den Bereich der Biologie fällt. Sie ist unzuverlässig, weil sie auf einer gravierenden fehlerhaften Interpretation der Beweise beruht, wie z. B. bei der Behauptung der Kreationisten, der Grand Canyon sei während einer einzigen weltweiten Flut entstanden. Und doch bestehen Kreationisten darauf, dass sie nicht nur eine solide Wissenschaft betreiben, sondern dass diese „Wissenschaft“ in öffentlichen Schulen gelehrt werden sollte.

Betrachten wir nun die Astrologie als ein Beispiel für die Propagierung von Pseudotheorien. Es ist leicht zu erkennen, dass auch sie die drei Kriterien von Hansson erfüllt. Astrologen interessieren sich für einen Bereich, der eigentlich zur Wissenschaft gehört - in diesem Fall zur Psychologie und nicht zur Astronomie, wie oft behauptet wird, denn Astrologie hat mit den Ursachen menschlichen Verhaltens zu tun, nicht mit Himmelsmechanik oder Physik. Behauptungen von Astrologen haben sich wiederholt als höchst unzuverlässig erwiesen, beispielsweise in einem berühmten Artikel von Shawn Carlson (1985), der in Nature veröffentlicht wurde.(2) Und Astrologen stellen sich in ihrem Fachgebiet durchaus so dar, als wenn sie verlässliche Aussagen machen würden.

Beachten Sie, dass die beiden von Hansson genannten Kategorien von Pseudowissenschaft sich nicht gegenseitig ausschließen und vielmehr als Endpunkte eines Kontinuums betrachtet werden sollten. Manchmal ist ein und dieselbe Behauptung sowohl ein Beispiel für Leugnung als auch für die Propagierung einer Pseudotheorie. Kreationisten leugnen sowohl die wissenschaftliche Evolutionstheorie, ebenso wie sie ihre eigenen Pseudotheorien vorantreiben, als ob sie wissenschaftlich fundiert wären.

Wissenschaftsphilosophen haben schon seit einiger Zeit erkannt, dass es zwei konzeptionell unterschiedliche, jedoch miteinander verflochtene Aspekte sowohl der Wissenschaft als auch der Pseudowissenschaft gibt. Nennen wir sie den epistemischen und den soziologischen Aspekt. Wissenschaft ist eine soziale Aktivität, nicht im naiven sozialkonstruktivistischen Sinne, sondern in dem offensichtlich unbestreitbaren Sinne, dass es sich um ein menschliches Unterfangen handelt, das durch anerkannte Praktiken (Peer-Review, Agenturen, Veröffentlichungen usw.) und Machtstrukturen (studentischer Mentor, Senior-Junior-Kollege, Administrator-Forscher usw.) gekennzeichnet ist. Aber Wissenschaft ist natürlich auch eine epistemische Tätigkeit, d. h. sie zielt darauf ab, verlässlich etwas über die Welt zu entdecken.

Erkenntnistheoretische Fehler

Hansson verwendet denselben doppelten Ansatz, um Pseudowissenschaft besser zu charakterisieren. Beginnen wir mit dem erkenntnistheoretischen Aspekt, bei dem wir sozusagen vier Arten von wiederkehrenden erkenntnistheoretischen Fehlern in der Praxis der Pseudowissenschaft finden. Der erste ist die Rosinenpickerei. So haben beispielsweise Leugner der allgemeinen Relativitätstheorie (oh ja, das gibt es!) eine Liste angeblicher Gegenbeispiele zu dieser Theorie in der Conservapedia, dem konservativen „Äquivalent“ zu Wikipedia, veröffentlicht. Während viele dieser Anomalien von zeitgenössischen Physikern tatsächlich perfekt erklärt werden können, ignoriert die Liste völlig die überwältigenden positiven Beweise für die Theorie, die sich im letzten Jahrhundert stetig und eindrucksvoll angesammelt haben.

Ein zweiter für die Pseudowissenschaft typischer epistemischer Fehler ist die Vernachlässigung von gegenteiligen oder widerlegenden Informationen. Die oben erwähnten Leugner der allgemeinen Relativitätstheorie halten beispielsweise an der prärelativistischen Physik fest, obwohl diese von der gesamten Physikgemeinschaft aufgegeben wurde. Sie berufen sich zum Beispiel auf einen Vorschlag des Schweizer Physikers Georges-Louis Le Sage, der im 19. Jahrhundert behauptete, dass die Gravitation aus dem kollektiven Druck resultiert, den eine große Anzahl kleiner unsichtbarer Teilchen auf Körper ausübt. Wie Hansson anmerkt, mag dies zu Lebzeiten von Le Sage plausibel gewesen sein, aber heute ist es das nicht mehr. Der einzige Grund, warum die Leugner der allgemeinen Relativitätstheorie sie immer wieder ins Spiel bringen, ist die vorgefasste Meinung, die sie unbedingt verteidigen wollen.

Der dritte erkenntnistheoretische Fehler besteht darin, dass die Verfechter der Pseudowissenschaft häufig falsche Kontroversen erfinden. Impfgegner verweisen oft auf die gelegentliche abweichende Stimme innerhalb der medizinischen Forschungsgemeinschaft, um das Bild einer Kontroverse zu projizieren, die es in Wirklichkeit nicht gibt, die aber ihren Zwecken dient, um Zweifel in der Öffentlichkeit zu säen.

Der letzte erkenntnistheoretische Mangel betrifft die Verwendung von - wie Hansson es nennt - „abweichenden“ Bewertungskriterien durch die Befürworter pseudowissenschaftlicher Auffassungen. Man kann sich das so vorstellen, dass man die Messlatte so hochlegt, dass es für die andere Seite unmöglich ist, die eigenen Kriterien für die Zustimmung zu einer bestimmten Theorie zu erfüllen. So fordern Kreationisten oft experimentelle Beweise nicht nur für die Artbildung (d. h. die Entstehung neuer Arten), sondern für den Ursprung ganzer Klassen von Lebewesen. Artbildung ist im Labor möglich, wenn auch selten. Aber die Entwicklung z. B. von Säugetieren aus einem Fischvorfahren lässt sich nur indirekt aus dem Fossilbestand ableiten. Einen direkten Beweis dafür zu fordern, ist entweder unaufrichtig oder äußerst ignorant.

Lassen Sie mich nun kurz auf den soziologischen Aspekt der Pseudowissenschaft eingehen, der ebenso aufschlussreich ist wie der erkenntnistheoretische. Hansson hat in seiner detaillierten Studie sage und schreibe zehn relevante soziologische Merkmale von Pseudowissenschaft gefunden, aber ich werde mich zur Veranschaulichung auf eine Teilmenge konzentrieren. Fehlendes Fachwissen ist ein solches Merkmal. Während sich die wissenschaftliche Gemeinschaft aus oft hochspezialisierten Experten zusammensetzt, ist Fachwissen in pseudowissenschaftlichen Gemeinschaften äußerst selten. Man denke zum Beispiel an die Petitionen, in denen eine große Anzahl von „Wissenschaftlern“ aufgeführt ist, die sich gegen den Klimawandel oder gegen Impfstoffe aussprechen. Es überrascht nicht, dass solche Listen aus Personen bestehen, die als Wissenschaftler gelten, weil sie einen Bachelor of Science haben, oder die als Mediziner tätig sind, z. B. als Zahnärzte, obwohl es um Atmosphärenphysik oder Immunologie geht - Gebiete, auf denen Zahnärzte natürlich keine Experten sind.

Befürworter von Pseudowissenschaften neigen auch ungewöhnlich stark dazu, Verschwörungstheorien Glauben zu schenken. Wie Hansson schreibt, halten die Leugner des Klimawandels das Problem für eine weltweite linke Verschwörung. Kreationisten sehen an jeder Ecke und in jedem Labor unmoralische Atheisten und die Leugnung der allgemeinen Relativitätstheorie in den 1920er und 1930er Jahren war natürlich vom Antisemitismus geprägt.

Darüber hinaus neigen Pseudowissenschaftler dazu, sich direkt an die Öffentlichkeit zu wenden, indem sie Peer-Reviews und andere Formen der Expertenkontrolle umgehen. Sie tun dies unter dem Vorwand, Demokratie und Freiheit zu verteidigen. Doch wenn sie beispielsweise einen finanziellen Rat brauchen oder ihr Auto reparieren lassen wollen, gehen sie - vernünftigerweise - zu einem richtigen Experten, zum Teufel mit Demokratie und Freiheit.

Ein weiteres, immer wiederkehrendes soziologisches Merkmal pseudowissenschaftlicher Gruppen besteht darin, dass sie dazu neigen, Wissenschaftler persönlich anzugreifen. So war Albert Einstein beispielsweise einem solchen Maß an Antisemitismus ausgesetzt, dass er es für unsicher hielt, Deutschland zu besuchen, nachdem er das Land verlassen hatte. Auch zeitgenössische Wissenschaftler, die sich öffentlich zum Klimawandel oder zu Impfstoffen geäußert haben, befanden sich in einer ähnlichen Lage.

Bei sorgfältiger Betrachtung bezieht sich der Begriff Pseudowissenschaft also auf ein Kontinuum von Aktivitäten, das von Leugnung bis hin zu einer Propagierung von Pseudotheorien reicht. Pseudowissenschaftliche Behauptungen leiden unter erkennbaren erkenntnistheoretischen Problemen (Rosinenpickerei, Vernachlässigung widerlegbarer Informationen usw.), während pseudowissenschaftliche Gemeinschaften mehrere erkennbare soziologische Merkmale aufweisen (Mangel an Fachwissen, Neigung zu Verschwörungstheorien usw.). Natürlich kann man auch bei einzelnen Wissenschaftlern feststellen, dass sie die Rosinen herauspicken oder sich weigern, Beweise in Betracht zu ziehen, die für ihre bevorzugte Theorie nicht zuträglich sind. Das Besondere an der Wissenschaft ist jedoch, dass sie als Gemeinschaft solche Mängel im Großen und Ganzen in Schach hält. Aus diesem Grund können weder die Wissenschaft noch die Pseudowissenschaft in Bezug auf einzelne Behauptungen oder einzelne Akteure verstanden werden. Sie können nur verstanden werden, wenn wir unsere Analyse auf die gemeinschaftliche Ebene ausweiten.

Übersetzung: Jörg Elbe

Fußnoten

(1). Hansson schrieb auch „The Hidden Connection between Academic Relativists and Science Denial“ in der September/Oktober-Ausgabe 2021 des Skeptical Inquirer.

(2) [Siehe News and Comment, „Double-Blind Test of Astrology Avoids Bias, Still Refutes the Astrological Hypothesis“, im Skeptical Inquirer vom Frühjahr 1986, S. 194-196, für eine Zusammenfassung dieser Arbeit.]

Massimo Pigliucci ist der K.D. Irani Professor für Philosophie am City College of New York und ein Autor, Blogger und Podcaster. Seine akademischen Arbeiten befassen sich mit Evolutionsbiologie, Wissenschaftsphilosophie, der Natur der Pseudowissenschaft und praktischer Philosophie. Zu seinen Büchern gehören Nonsense on Stilts: How to Tell Science from Bunk und Philosophy of Pseudoscience: Reconsidering the Demarcation Problem (Mitherausgeber mit Maarten Boudry). Weitere Informationen finden Sie unter https://massimopigliucci.org/ . (Bild: Massimo Pigliucci Blog)

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Kommentare

  1. userpic
    Frank Herbrand

    Natürlich kann man auch bei einzelnen Wissenschaftlern feststellen, dass sie die Rosinen herauspicken oder sich weigern, Beweise in Betracht zu ziehen, die für ihre bevorzugte Theorie nicht zuträglich sind. Das Besondere an der Wissenschaft ist jedoch, dass sie als Gemeinschaft solche Mängel im Großen und Ganzen in Schach hält.

    Leider gab (gibt?) es Fachrichtungen, wo das leider nicht so galt (gilt). Ich erinnere an Archäologie. Vor allem solche Fachrichtungen, wo die Datenlage dünn und die Anwendung von Modellen schwierig ist. Dort dominieren Meinungen von Koryphäen, die zu Strömungen werden. Und die durchaus einen Gernerationenwechsel benötigen, um Alternativtheorien zuzulassen, die die Datenlage deutlich besser erklären können.

    Leider ist das Futter für Pseudowissenschaften. Sie beruhen auf Meinungen. In naturwissenschaftlichen Fachrichtungen dominieren Meinungen freilich nicht, weil sie durch Fakten eindeutig ersetzbar sind. Das ist aber nicht überall möglich. Auch Geschichtsforschung ist von Interpretationdansätzen abhängig. Im soziologischen Bereich ist es oft auch so. Selbst in der Volkswirtschaftslehre werden Grundsätze gelehrt, die von Randbedingungen abhängen, die oft in der realen Welt nicht gegeben sind. Gerade dort ist es wichtig, Regeln mit Randbedingungen zu versehen. Oft wird aber die Regel als allgemeines "Naturgesetz" "verkauft". Auch das ist pseudowissenschaftlich. Wenn wir die Halbwahrheiten in der Wissenschaft nicht eindeutig mit ihren Randbedingungen kennzeichnen, betreiben wir Wissenschaftler auch quasi Pseudowissenschaft. Untergraben also die auf Gesetzmäßigkeiten beruhende Wissenschaft. Dass das Otto Normalbürger nicht differenzieren kann, davon müssen wir ausgehen.

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