Zauberlehrling der Evolution

Rezension zum Buch „Kritische Studie zur Evolutionstheorie“

Zauberlehrling der Evolution

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Bei den Herausgebern des Buchs handelt es sich um folgende Personen: Marian Christof GRUBER ist Professor für Philosophie an der Hochschule Heiligenkreuz (Österreich) und Vorstand des Instituts für Philosophie an der Päpstlichen Phil.-Theol. Hochschule Benedikt XVI. Heiligenkreuz, die eine Reihe von Schriften herausgebracht hat. Wolfgang WEHRMANN ist Professor an der Technischen Universität Wien und emeritierter Professor für Philosophie an der Hochschule Heiligenkreuz.

Das Buch ist in mehrere Kapitel fünf verschiedener Autoren aufgeteilt, die sich z. B. mit Erkenntnistheorie und Logik, mit Wahrheitstheorie und der Biologie, mit mathematischen und technischen Wissenschaften sowie mit der Frage der Lebensentstehung beschäftigen. Weitere Themen sind die Embryologie, Fossilien, der Menschen, Evolution im Biologieunterricht und der „Zauberlehrling der Evolution“. Gestützt wird sich auf Aussagen von Gewährsleuten wie Teilhard DE CHARDIN, Thomas VON AQUIN und AUGUSTINUS.

Die Autoren des Buches vertreten kreationistische Ansichten - deutlich erkennbar z. B. an Christof GRUBERs Bezeichnung der „fortgesetzten Schöpfung“ (S. 150/160), der „gestuften Schöpfung“ (S. 168) und der „totalen Schöpfung“ (S. 160/167/178). Einen kritisch-rational denkenden Atheisten mag das an den Rand der Erschöpfung bringen, da sich kreationistische Argumentation meist durch Unwissen auszeichnet. Dies mündet dann zumeist in unlogischen Schlussfolgerungen, absichtlichem oder unabsichtlichem Verdrehen oder Verschweigen von Fakten.

Wer wissen will, braucht nicht zu glauben

Im Anhang setzt sich einer der Autoren mit dem Thema „Tradition“ auseinander. Offenbar ist die Intention dafür Sorge zu tragen, dass seine Adressaten die von ihm verbreiteten „alternativen Fakten“ auch glauben und möglichst verbreiten. Ludwig WITTGENSTEIN muss mit einem eigenen Zitat als „Indoktrinator“ herhalten: „Das Kind lernt, indem es dem Erwachsenen glaubt“ (S. 195). Des Weiteren heißt es, die Tradition sei zugleich universal und konkret und habe das zu bieten, wonach allgemein das Bedürfnis stehe: weg vom Spezialistentum und kurzsichtigen, trivialen Problemperspektiven (vgl. S. 198). Im Folgenden werde ich aufzeigen, wie mit „Spezialistentum“ der „Wahrheit“ doch um einiges näher zu kommen ist.

Der Gott des Albert Einsteins

Neben Wissenschaftlern und Philosophen wie z. B. Francis BACON und Sir Isaac NEWTON wird auch Albert EINSTEIN erwähnt, der nach Aussage des Autors ein Weltbild hatte, in dem Gott vorkam (S. 23). Da EINSTEIN gern unpräzise als gottgläubig bezeichnet wird, sei seine wirkliche Gesinnung hier erwähnt: EINSTEIN glaubte an Spinozas Gott, der sich in der gesetzlichen Harmonie des Seienden offenbart, nicht an einen personalen Gott, der sich mit den Schicksalen und Handlungen der Menschen abgibt oder konkret in die Welt eingreift (Quelle 1, vgl. S. 31). Obgleich EINSTEIN keine Mystik, keinen religiösen Kult und nicht einmal einen persönlichen Gott anerkannte, der „sich mit den Schicksalen und Handlungen der Menschen abgibt“, wäre es auch ein Irrtum, ihn einen Atheisten zu nennen, wie es Kardinal O´CONNELL getan hat (Quelle 1, vgl. S. 54).

Alles Zufall, oder was?

Der Autor weist auf unentscheidbare Aussagen hin, die wahr sein könnten aber weder zu beweisen noch zu widerlegen seien (vgl. S. 25 f.). In allen Wissenschaften würden nach Kurt GÖDEL unentscheidbare Aussagen auftreten (vgl. S. 26). Nicht minder einfallsreich ist es, sich aus der Statistik des Phänomens „Pseudozufall“ zu bedienen. Damit soll gezeigt werden, dass Zufall als Beweis für Ziel-, Plan- und Geistlosigkeit in der Evolution ungeeignet sei. Ein ideelles Regulativ mit intelligiblem Hintergrund (Geist), oft mit Schöpfung in Verbindung gebracht, dürfe nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden. Zufall oder Pseudozufall seien in der Evolution eine typisch unentscheidbare Aussage nach GÖDEL. Der angesehene Naturwissenschaftler Francis COLLINS (lt. Wikipedia heute gläubiger Christ und Verfechter der theistischen Evolution!) wird angeführt, nach dem aus unserer menschlichen Perspektive Evolution so aussehen könnte, als wäre sie vom Zufall bestimmt, selbst wenn aus Gottes Perspektive das Resultat vorgegeben wäre (vgl. S. 52).

Bei den unentscheidbaren Aussagen wird auf die GÖDEL'schen Unvollständigkeitssätze Bezug genommen. Der Haken daran ist, dass diese damit aus ihrem mathematischen Kontext gerissen werden (Quelle 2, vgl. S. 252), denn GÖDELs Sätze gelten nicht für die Naturwissenschaften, sondern nur für Formal-, Ideal- bzw. Strukturwissenschaften wie die Mathematik, [1.] deren Gegenstandsbereich rein virtuell ist und deren Aussagen somit [2.] nicht von Experimenten oder Beobachtungen abhängen.

Auf S. 44 heißt es: „Entzieht man aber der Evolutionstheorie den Begriff Zufall, fällt ihre Theorie in sich zusammen, weil dann nur mehr die Deterministik übrigbleibt und Ziel, Plan, Geist und Teleologie Einzug halten müssten“. In der Evolutionsbiologie ist mit Zufall folgendes gemeint: Mutationen, Rekombination und Umweltveränderungen ereignen sich ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse eines Organismus und seiner Nachkommen und ohne eine Ursache, die in Zusammenhang mit der Art und der späteren Auswirkung der Mutation steht. Somit können sie als determiniert (im Sinne von: die Kette von Ursache und Wirkung - die Kausalität - ist nicht durchbrochen) und gleichzeitig als zufällig aufgefasst werden (Quelle 3, vgl. S. 54).

Das Materie-Bewusstseins-Problem

Vom Materialisten erwartet der Autor, dass er den Geist nicht als Epiphänomen der Materie - also rein materiell - interpretiert, sondern als immateriell und intelligibel (nur über den Verstand erfassbar, der Sinneswahrnehmung nicht zugänglich). Warum eigentlich? Weil der Modus der Intelligibilität auch mit der modernen Naturwissenschaft und ihren rein materialistischen Gesetzen methodisch nicht erforscht werden könne (vgl. S. 41). Damit will der Autor das Materie-Bewusstseins-Problem als unlösbar verkaufen. Eine wirklich nachvollziehbare Begründung für die Unlösbarkeit dieses Problems gibt es jedoch nicht (Quelle 4, vgl. S. 407).

Verlief die Evolution allmählich oder sprunghaft?

Nun soll es um die Frage gehen, ob die Evolution allmählich (gradualistisch) oder sprunghaft (saltationistisch) verlief. Auf S. 54 heißt es, dass Makroevolution nicht mithilfe des so genannten Gradualismus erklärbar sei. Komplexe evolutive Neuheiten könnten nach Aussage des Autors nicht durch eine Summe von Kleinmutationen und lange Zeiträume entstehen (vgl. S. 177). Vielmehr bedürfe es simultan einer Reihe unwahrscheinlicher „Großmutationen“, die aber nie beobachtet wurden (vgl. S. 176). Die Übertragung des „darwinistischen Paradigmas“ von der Mikroevolution auf die Makroevolution sei wissenschaftstheoretisch unzulässig (vgl. S. 83).

Dem ist zu entgegnen, dass der Autor auf den Saltationismus bzw. auf die „Hopeful-Monster-Hypothese“ abhebt, die schon zur Zeit ihrer Formulierung sehr umstritten war. Sie findet heute so gut wie keinen Fürsprecher mehr. Zwar ist für eine Makroevolution ein Kontinuum aus unzählig vielen, beliebig kleinen Anpassungsschritten weder notwendig noch möglich (Gradualismus im historischen Sinn). Die meisten Biowissenschaftler sind sich heute jedoch darin einig, dass „makroevolutive“ Entwicklungen keine besonders großen Sprünge (Saltationen) erfordern, schon gar keine simultanen Großmutationen. Vielmehr können die Mechanismen, die eine Mikroevolution bewirken, mitunter auch kleine bis mittelgroße Sprünge im Phänotyp hervorrufen. Davon zeugen Experimente aus der (evolutionären) Entwicklungsbiologie sowie zahlreiche Übergangsformen, etwa hinsichtlich der Entstehung der Wale aus landlebenden Säugern oder zur Entwicklung des Schildkrötenpanzers.

Die Entstehung neuer Baupläne und Großtaxa verläuft also nicht saltationistisch, sondern über etliche, wenn auch nicht unendlich viele Zwischenschritte. Zudem haben viele Mutationen die Potenz, mehr oder weniger ganze Merkmalssysteme kooperativ umzubauen. Die Geschwindigkeit der Evolution kann dabei erheblich variieren: Lange Perioden von langsamer Entwicklung oder gar Stasis werden unterbrochen von kurzen Perioden, in denen die Entwicklungsgeschwindigkeit, also die „Schrittfrequenz“ der in der Population fixierten Mutationen, hoch ist (Theorie des Punktualismus). Der Punktualismus wird auch als „Theorie des unterbrochenen Gleichgewichts“ bezeichnet. Während der Zeiten des Umbruchs findet allopatrische Spezition (auf diese werde ich im Teil „Evolutionismus - ob ich da mit muss?“ eingehen) statt (Quelle 5, vgl. S. 403).

Sollte es einen Designer geben, wo sind die Belege für diesen?

Auf S. 56 versucht der Autor einen „Beweis durch Augenschein“ zu führen: „Wenn etwas nach Design aussieht und die Eigenschaften eines Designs aufweist, warum soll es dann kein Design sein? Die Wahrscheinlichkeit für die Wahrheitsvermutung dieser Annahme ist wesentlich größer als für die gegenteilige Behauptung. Daher müsste das Fehlen eines Designers in der Natur exakt bewiesen werden.“ Ein ähnliches Argument ist auf S. 89 zu finden, wonach der methodische Atheismus eine berechtigte Haltung der Naturwissenschaft sei. Der methodische Atheismus könne aber nicht beurteilen, ob in der Geschichte des Kosmos ein Schöpfer gehandelt habe. Das sei empirisch, also aus Beobachtung und Erfahrung, nicht zu zeigen.

Es handelt sich hier um den geschickten Versuch, den Atheisten den „Schwarzen Peter“ zuzuschieben. Man könnte meinen, zwischen Existenz (Designer) und Nichtexistenz (Fehlen eines Designers) und ebenso zwischen Beweis und Widerlegung bestünde eine gewisse Symmetrie und damit zwischen Theisten und Atheisten eine Pattstellung. Das mag auf den ersten Blick plausibel erscheinen, ist jedoch erkenntnistheoretisch und wissenschaftslogisch falsch. Allaussagen („Alle x haben die Eigenschaft y“) lassen sich nicht beweisen, aber durch ein einziges Gegenbeispiel widerlegen. Existenzaussagen („Es gibt mindestens ein x mit der Eigenschaft y“) lassen sich durch ein einziges Beispiel belegen, aber nicht widerlegen. Deshalb verlangen wir von dem, der eine Existenzbehauptung („Es gibt Gott / den intelligenten Designer“) aufstellt, einen Beleg. Andernfalls müssten wir alles für existent halten, was wir weder belegen noch streng widerlegen können: Nessie, Yeti, Wolpertinger usw. (Quelle 7, vgl. S. 71).

Kein Grund für Grundtypen

Manche Kreationisten vertreten das Modell der „Grundtypen“ (S. 90). Unter Grundtypen werden von ihnen Lebewesen verstanden, die einzeln geschaffen worden sein sollen: „Grundtypen von Lebewesen könnten hypothetisch als Schöpfungseinheiten aufgefasst werden. Die deutliche Abgrenzbarkeit untereinander (keine Kreuzungsmöglichkeit, noch kein Indiz für Makroevolution) kann als Hinweis darauf gesehen werden. Weitere Forschungen sollten die Tragfähigkeit dieser Theorie prüfen“ (S. 108). „Grundtypen“ werden allerdings von der (Evolutions-) Biologie ignoriert (Quelle 8). Es gibt schlichtweg keinerlei Argumente, die für diese Theorie sprechen, aber unzählige dagegen (Quelle 9). Grundtypen wurden von Kreationisten nur zu dem Zweck erfunden, die These von der vermeintlichen Artkonstanz und das Schöpferkonzept („Jedes nach seiner Art“) zu retten.

Wie entstand der Code des Lebens?

Auf S. 96 heißt es, für die Entstehung der Proteine sei genetische Information nötig, die auf dem Kettenmolekül der DNA gespeichert ist. Die DNA besteht aus Nukleotiden. Proteine und Nukleinsäuren sind gleichzeitig nötig, damit (heutiges) Leben existiert. Dann wird gefragt, was zuerst da sein konnte, wenn doch beide in der Entstehung voneinander abhängig sind. Der Autor weiß dabei offensichtlich nicht, dass Carl WOESE, Francis CRICK und Leslie ORGEL bereits in den 60er Jahren die Theorie einer primordialen RNA-Welt entwickelten, da RNA sowohl die Fähigkeit zur Informationsspeicherung als auch zur enzymatischen Aktivität (darunter Polymerase-Aktivität) hat. Das ist mittlerweile experimentell nachgewiesen, und aus diesem Grund ist das Henne-Ei-Paradox kein prinzipielles Problem mehr (Quelle 10, vgl. S. 150).

Rudimentäre Organe

Des Weiteren wird auf rudimentäre Organe (Überbleibsel) hingewiesen, welche die Evolutionstheorie als Indizien auf eine gemeinsame Stammesgeschichte wertet (vgl. S. 98). Rudimente erfüllen bei den heute lebenden Arten entweder keine Funktion mehr oder eine teilweise andere als bei den mutmaßlichen Vorfahrenarten, lassen aufgrund ihrer Lage und Struktur die ursprüngliche Funktion und „Bauart“ aber noch erkennen.

Um einen Widerspruch zu generieren, versucht man den Organrudimenten eine obligatorische Funktion zuzuschreiben. Am Beispiel des Wurmfortsatzes heißt es, dass er eine Abwehrfunktion bei Infektionskrankheiten besitze und die Bakterienflora im Blinddarm kontrolliere (vgl. S. 98). Hierbei ist kritisch anzumerken, dass der Beitrag zum Immunsystem gering ist und es Menschen ohne ihn häufig besser geht (Quelle 5, vgl. S. 338). Eine obligatorische physiologische Funktion dieses rudimentären Organs konnte bis heute nicht eindeutig nachgewiesen werden (Quelle 6, vgl. S. 53). Und auch wenn er eine solche besitzen sollte, änderte das nichts daran, dass es sich aufgrund seiner Struktur und Lage erkennbar um den Rest eines früher größeren Darmanhanges zum Aufschluss schwer verdaulicher Nahrung handelt, wie ihn diverse Primaten heute noch besitzen.

Für Fachleute ist das Steißbein ein Rudiment der Schwanzwirbelsäule (Quelle 11, vgl. S. 637). Für den Autor sei das Steißbein als Rest eines Schwanzes von menschlichen Vorfahren „gedeutet worden“. Dann wird auf die Befestigungsfunktion verschiedener Muskelanteile, die Unabdingbarkeit für den aufrechten Gang und die Wichtigkeit der Bewegung des Steißbeins beim Geburtsvorgang hingewiesen (vgl. S. 98). Hier stellt sich allerdings die Frage, was die Funktion des Steißbeins an der Tatsache ändern soll, dass es sich als Überbleibsel einer Schwanzwirbelsäule interpretieren lässt. Die Frage, ob eine Struktur ein Relikt ist, hat eben nichts mit der Frage zu tun, welche Funktion diese Struktur hat bzw. einst hatte.

Steiler Zahn

Bezüglich der Eckzähne heißt es: „Eckzähne - ein Hinweis auf Raubtiervergangenheit? Laut Evolutionstheorie ist das unmöglich, denn die (angeblich) letzten tierischen Vorfahren des Menschen, die Australopithecinen, hatten kleinere (!) Eckzähne als die Menschen“ (S. 98). Falsch an dieser Aussage ist, dass die „robusten“ Australopithecinen - von denen hier die Rede ist - als unsere Vorfahren auszuschließen sind! Sie werden heute von den meisten Autoren in das separate Genus Paranthropus gestellt. Die Verkleinerung der Frontzähne (Diminuierung) deutet auf einen reduzierten Einsatz im Ernährungsverhalten hin. Unter dieser Veränderung kann eine Adaptation an den Verzehr sehr großer Mengen relativ harter Nahrung (Blätter/Früchte/Körner) verstanden werden (Quelle 12, vgl. S. 43). Es liegt hier also gar kein Widerspruch vor!

Biogenetisches Grundgesetz vs. Biogenetische Regel

Dann wird auf den Schwindel des „Biogenetische Grundgesetzes“ von Ernst Haeckel verwiesen, wonach die Entwicklung eines Individuums (Ontogenese) als auszugsweise Wiederholung (Rekapitulation) der Stammesgeschichte (Phylogenese) zu verstehen sei (vgl. S. 99). Weil Haeckel keine Abbildung menschlicher Embryonen zur Verfügung stand, habe er, so der Autor, geschwindelt und Hundeembryonen abgebildet (S. 115). Dem Vorwurf der Fälschung begegnete Haeckel damit, dass er einräumte, die Größenverhältnisse der Embryonen angeglichen zu haben, extraembryonale Strukturen ganz weggelassen und einige der gezeichneten Entwicklungsstadien idealisiert zu haben (Quelle 6, vgl. S. 301). Heute würde man dieses Verfahren „didaktische Reduktion“ nennen, eine Methode, die allgemein anerkannt ist und von keinem kompetenten Pädagogen als „Fälschung“ bezeichnet würde (Quelle 6, vgl. S. 303).

Haeckels Rekapitulationsprinzip wird heute nicht mehr als „Gesetz“, wohl aber als biogenetische Regel bezeichnet, die Abweichungen vom Embryonengrundbauplan zulässt (Quelle 6, vgl. S. 304). Beim genauen Hinsehen können bei der Entwicklung von z. B. Huhn, Maus oder Mensch durchaus Unterschiede auftreten, doch konvergiert diese Frühentwicklung aller Wirbeltiere auf ein Stadium, das durch ähnliche Basisorganisation gekennzeichnet ist. Dieses Stadium wird phylotypisches Stadium genannt (Quelle 13, vgl. S. 182 f.). Evolutive Altertümlichkeiten sind nicht aus purer Traditionsliebe konserviert worden, sondern haben immer noch wichtige Funktionen in der Frühentwicklung zu erfüllen. Im Laufe der Evolution entstandene und bewährte Lösungen können nicht einfach durch andere ersetzt werden, man nennt diese „constraints“ (Zwänge) (Quelle 13, vgl. S. 184). So manches passt nicht in das Bild einer getreuen Rekapitulation, denn hierbei treten z. B. auch Heterochronien auf (relative zeitliche Verschiebungen in der Anlage von Organen, bei Vorgängen des Wachstums oder beim Eintreten der Sexualreife) (Quelle 13, vgl. S. 192).

Das Ziel der neuen Disziplin der Evolutionären Entwicklungsbiologie (Evo-Devo) ist die Entschlüsselung von Entwicklungsprozessen und die Ergründung der Entstehung von Körper-Bauplänen (Quelle 6, vgl. S. 305). Hox-Gene legen die positionelle Identität der Zellen entlang der Körperachse fest. Die Homologie (hohe Sequenzidentität in Genen; Quelle 13, vgl. S. 529) der Hox-Gen-Cluster bei Menschen, Mäusen und Fliegen belegt, dass der von Ernst Haeckel initiierte Forschungsansatz Früchte getragen hat. Somit ist die (molekulare) Analyse der Ontogenese ein Schlüssel zum Verständnis der Phylogenese geworden (Quelle 6, vgl. S. 306).

Ebenfalls wird ein vorgeblicher Irrtum in Biologie-Schulbüchern erwähnt, nämlich dass Wirbeltiere (auch der Mensch) ein Embryonalstadium durchlaufen, in dem Kiemen angelegt würden. Das sei einer der vielen Belege dafür, dass die Evolution der Wirbeltiere von wasserbewohnenden Formen mit Kiemenapparat ausgegangen sein muss. Laut Erich BLECHSCHMIDT seien allerdings „Beugefalten im Kopfbereich des jungen Embryos“ irrtümlicherweise als Kiemen gedeutet worden (vgl. S. 118). Die Beugefalte-Idee ist jedoch unhaltbar und wird daher in der Entwicklungsbiologie nicht diskutiert. Es ist im Gegenteil anhand der Anatomie (z. B. dem Verlauf der Blutgefäße) klar erkennbar und daher allgemein akzeptiert, dass die Pharyngealbögen den Kiemenbögen der Fische entsprechen, dass die erste Kiemenspaltenanlage zeitlebens erhalten bleibt und später durch das Trommelfell verschlossen wird (Quelle 6, vgl. S. 305). Da es beim Menschen aber nicht zur Ausbildung eines Kiemenapparates kommt, sollte man nicht von Kiemenspalte (-bögen/ -furche), sondern von Pharyngealbögen (-furche/-tasche) bzw. von Schlundbögen (-furche/-tasche) sprechen. Alle Wirbeltierembryonen bilden ein Innenrelief des Kopfdarmes aus, das Anlage für so unterschiedliche Bildungen wie die Kiemen der Fische oder - bei den Säugern und beim Menschen - die Tuba auditiva, die Tonsillarbucht oder Anlagen von Thymus und Epithelkörperchen werden kann (FRAZER 1923; 1941; DE BEER 1958) (Quelle 14, vgl. S. 148 f.).

Anzumerken ist noch, dass der Autor Alois Wimmer bezüglich der „Kiemen“ phylogenetische Herkunft und physiologisch/anatomische Funktion in einen Topf wirft. Wenn es sich bei den Pharyngealbögen im phylogenetischen Kontext sowie im strukturellen Aufbau um Kiemenanlagen handelt, heißt dies nicht, dass daraus schlussendlich auch tatsächlich Kiemen ausgebildet werden (Quelle 15, vgl. S. 138).

Ohne Selektionsdruck kein Artenwandel?

Evolution sei bei Fossilien von Mikroorganismen nicht nachweisbar, da sie in radiometrisch datierten, etwa 3,5 Milliarden Jahre alten Gesteinsablagerungen gefunden worden und von heute lebenden häufig nicht unterscheidbar seien (vgl. S. 101). Auf S. 152 ist zu lesen, dass einem „allgemeinen Gesetz der Evolution“ der empirische Faktenbestand entgegenstehe. Einschlägige Autoren würden darauf hinweisen, dass es im Naturreich Arten gäbe, die in Jahrhunderttausenden entweder keine Evolution oder nicht das Geringste davon erkennen lassen würden.

(Foto: www.pixbay.com / Makro_Wayland)

Bei dieser Aussage wird verschwiegen, dass es sich bei den Mikroorganismen wohl um Cyanobakterien („Dauergattungen“ bzw. „lebende Fossilien“) handeln muss, welche schon damals optimal an ihre Umwelt angepasst waren. Ohne einen richtenden Selektionsdruck kommt es i. d. R. zu keinem Artenwandel (Quelle 6, vgl. S. 156). Auch dies ist schon längst eine Binsenweisheit: Es gibt in der Evolution - entgegen dem, was Kreationisten glauben machen wollen - kein „Bestreben“ oder gar „Gesetz der Fort- oder Höherentwicklung“.

Wenn langfristig Arten existieren, mit denen nicht viel passiert, nennt man das Stasigenese oder Stasis - so sind auch die „lebenden Fossilien“ (Pfeilschanzkrebse, Lungenfische, Brückenechsen) zu verstehen bzw. einzuordnen. Ob für Artenwandel immer ein Selektionsdruck herrschen muss, ist Gegenstand von Expertendebatten (Selektionismus versus Neutralismus) (Quelle 5, vgl. S. 61), die für ein Gesamtverständnis der Evolution ohne Belang sind und für Evolutionskritik nichts taugen.

Motoo KIMURA entwickelte das Konzept der neutralen Evolution (Neutralismus) (Quelle 5, vgl. S. 34). Wir wissen mittlerweile, dass in der Tat ein erheblicher Teil der Mutationen selektionsneutral ist und Zufallsprozesse (Gendrift) zur Fixierung von Genen (genauer: Allelen) führen (Quelle 5, vgl. S. 61). Formen der Gendrift sind insbesondere der Flaschenhals- und der Gründereffekt (Quelle 5, vgl. S. 59). Der Autor André DERNDARSKY erwähnt auf S. 91 zwar die Gendrift (worauf ich beim „Evolutionismus - ob ich da mit muss?“ noch eingehen werde), sieht aber allem Anschein nach nicht, dass dieser Faktor einem „allgemeinen Gesetz der Evolution“, so wie er es darstellen will, widerspricht.

Die kambrische Explosion

Wie immer darf auch die kambrische Explosion in Verbindung mit vermeintlichen „Ungereimtheiten“ bei Fossilfunden nicht fehlen. Schon DARWIN habe die Vielfalt der kambrischen Fossilien als Problem für seine Theorie vermerkt, lesen wir auf S. 101. Dabei wird verschwiegen, dass DARWIN das plötzliche Erscheinen der Tiere damit erklärte, dass ältere Fossilien nicht erhalten oder schlicht noch nicht entdeckt worden seien (Quelle 5, vgl. S. 213). Immer mehr Wissenschaftler vertreten die Meinung, dass der Fossilbericht wegen seinerzeit fehlender Hartteile (Skelette/Panzer) unvollständig sei, dass also die meisten der im Kambrium plötzlich auftauchenden „Stämme“ schon länger davor „unsichtbar“ existiert hatten (Quelle 5, vgl. S. 213). Außerdem hat diese „Explosion“ immerhin einige 10 Millionen Jahr gedauert.

Tiktaaliks Merkmalsmosaik

Danach geht es um Übergangsformen (vom Wasser ans Land): „Interessant wären diese Übergangsformen unter anderem beim Wechsel der Lebewesen vom Wasser auf das Land. Nach neueren Theorien (aufgrund anatomischer Tatsachen) sollen die Extremitäten („Beine“) im Wasser entstanden sein. Aber müsste die Selektion das nicht verhindern, da Beine beim Schwimmen hinderlich sind? Anatomie steht gegen Selektion“ (S. 101). Vom Autor wird verschwiegen, dass es sogar ein konkretes Beispiel für die hier genannte Übergangsform gibt: Tiktaalik roseae. Das Merkmalsmosaik von Tiktaalik passt gut in einen Übergangsbereich zwischen Fischen und Vierbeinern. Bei Tiktaalik handelt es sich um ein als „Bein“ taugliche Brustflosse, die deutliche Anklänge an der Tetrapodenextremität zeigt, zugleich aber noch „fischähnliche“ Züge trägt (Quelle 16, vgl. S. 125).

Was kann der Schmetterling dafür, dass er so schön ist?

In der Folge wird die vermeintlich „zwecklose Schönheit“ der Schöpfung angesprochen. Für den Autor stellt sich die Frage, warum sich beim Schmetterling ein so farbenfrohes und vollendet wirkendes Muster entwickelte, das jegliche Tarnung verhindert (vgl. S. 110). Es ist ärgerlich, dass der Autor auf diese Frage keine Antwort liefert, wo es doch dafür das besonders schöne Beispiel des Tagpfauenauges gibt! Mit zusammengeklappten Flügeln sieht der Schmetterling eher wie ein dürres Blatt aus. Bei drohender Gefahr werden die Flügel ruckartig auseinandergeklappt, dabei wird ein zischendes Geräusch erzeugt und die augenförmigen Flügelzeichnungen werden gezeigt. Zoologen der Universität Stockholm haben durch vergleichende Versuche herausgefunden, dass bei dieser Abwehrstrategie von dem auf der Flügeloberseite befindlichen Augensignal die größte Abschreckungswirkung gegen Vögel ausgeht. Die Zeichnung gaukelt Fressfeinden ein zu den Augen proportional großes Tier vor (Quelle 17), was abschreckend wirken soll.

Manche andere, giftige oder wenig schmackhafte Falter signalisieren dies ihren potenziellen Fressfeinden mit auffälligen, sogenannten aposematischen Farben und Farbmustern (Quelle 5, vgl. S. 438). Ahmt eine harmlose Art eine giftige/ungenießbare Art nach, spricht man von BATES-Mimikry. Ein Beispiel dafür ist der Monarchfalter Danaus plexippus (Quelle 18, vgl. S. 569). Von der BATES-Mimikry ist die MÜLLER'sche Mimikry abzugrenzen, bei der es sich um unterschiedliche Arten handelt, die beide giftig oder ungenießbar sind (Quelle 5, vgl. S. 438). Ein Beispiel hierfür sind Tagfalter der Gattung Heliconius (Quelle 18, vgl. S. 569). Außerdem ist anzumerken, dass durch sexuelle Selektion entstandene Merkmale (farbenfrohe Muster) den Männchen in der Konkurrenz um die Weibchen helfen können (intrasexuelle Konkurrenz) bzw. den Weibchen Merkmale liefern, anhand derer sie die Fitness ihrer Paarungspartner abschätzen können. Korrelieren Merkmal und Fortpflanzungserfolge miteinander, wird in einem positiven Rückkopplungsprozess die Ausprägung eines Merkmals verstärkt, was zu extremen Ausformungen (Handicap-Theorie nach Amotz ZAHAVI) führen und die allgemeine Fitness der Männchen wieder beeinträchtigen kann (Runaway-Selektion nach Sir R. Aylmer FISHER) (Quelle 5, vgl. S. 68). Auf solche Zusammenhänge geht der Autor mit keiner Silbe ein, wodurch der falsche Eindruck verstärkt wird, die Evolutionstheorie könne die Entstehung derlei farbenprächtiger Merkmale nicht erklären.

Sind Evolutionstheorie und Schöpfungstheorie gleichartig?

Auf S. 124 ist folgendes zu lesen: „Nach Holubar ist es Pseudowissenschaft, die Evolution nicht als überprüf- und widerlegbare Theorie, sondern als Tatsache hinzustellen. Nach Kutschera ist es genau umgekehrt.“ Erstens wird der Begriff „Pseudowissenschaft“ hier falsch verwendet. Der Kreationismus ist eine Pseudowissenschaft, da er den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt, diesen aber nicht einlösen kann (Quelle 7, vgl. S. 77 f.). Zweitens ist es Unsinn zu unterstellen, dass jemand, der die Evolutionstheorie als Tatsache bezeichnet, sie nicht als überprüf- und widerlegbare Theorie betrachten würde. Selbstverständlich unterliegt die Evolutionstheorie dem Falsifikationsprinzip. Erfahrungswissenschaftliche Theorien sind - vom Prinzip her - fehlbar und müssen an der Erfahrung scheitern können (Quelle 4, vgl. S. 469).

Wie kam der Evolutionsbiologe Ulrich KUTSCHERA dazu, Evolution als Tatsache zu bezeichnen? Hessens Kultusministerin Karin WOLFF plädierte in einem dpa-Gespräch dafür, „fächerübergreifende und -verbindende Fragestellungen aufzuwerfen“. Sie erklärte, „dass nicht einfach Schüler in Biologie mit der Evolutionstheorie konfrontiert und Schüler im Religionsunterricht mit der Schöpfungslehre der Bibel. Sondern dass man gelegentlich auch schaut, ob es Gegensätze oder Konvergenzen gibt“ (vgl. S. 123).

Der Biologenverband warf WOLFF vor, auf die „Taschenspielertricks“ von Kreationisten hereingefallen zu sein. Sie benutze deren Sprache und rede von einer Evolutions- und einer Schöpfungstheorie. Der damalige Verbandsvize Ulrich KUTSCHERA klärte darüber auf, dass wir auf der einen Seite wissenschaftliche Tatsachen und auf der anderen uralte Schöpfungsmythen haben. Es sei inakzeptabel, die Evolution als Faktum in Frage zu stellen (Quelle 19). Eine einzige „Evolutionstheorie“, die alle Teilaspekte der Abstammung mit Abänderung erklärt, gibt es nicht. Wir sprechen daher heute von der Evolutionsbiologie, die ein System zahlreicher Theorien darstellt (Quelle 20, vgl. S. 168). Anders gesagt: Selbstredend ist jedwede empirische Theorie vom Wesen her vorläufig, und revidierbar. Das ändert jedoch nichts daran, dass an der Relativitätstheorie, der Atomtheorie, der Evolutionstheorie oder der Theorie der Plattentektonik keinerlei vernünftiger Zweifel mehr möglich ist. Das wiederum bedeutet natürlich nicht, dass sämtliche Details besagter Theorien korrekt wären oder diese Theorien bereits ihre finale und vollständige Form hätten.

HITLER und das Missverständnis des Sozialdarwinismus

Auf S. 122 wird Erich FROMM zitiert, nach dem die „Religion“ des Sozial-Darwinismus zu den gefährlichsten Elementen im Denken des letzten Jahrhunderts gehöre. Sie verhelfe dem rücksichtslosen nationalen und Rassenegoismus zum Sieg, indem sie ihn zur moralischen Norm mache. Falls HITLER überhaupt an etwas glaubte, so seien es die Gesetze der Evolution gewesen, die sein Handeln und speziell jede Grausamkeit rechtfertigten und heiligten. Diesbezüglich wird gerne unter den Tisch gekehrt, was HITLER tatsächlich glaubte: Er sah sich als Erfüller der Vorsehung und als Vollender des Werks Jesu Christi im gemeinsamen Kampf gegen „den jüdischen Feind“ und ließ Beamte sowie SS- und Wehrmachtsangehörige Ihren Eid „bei Gott“ schwören (Quelle 21, vgl. S. 132).

Beim Sozial-Darwinismus handelt es sich in Wirklichkeit um mehrere Missverständnisse bzw. gezielte Fehlinterpretationen des von Herbert SPENCER geprägten „survival of the fittest“.

1. Missverständnis: Macht als Recht zu definieren. Hier handelt es sich um einen klassischen Fehlschluss vom Sein aufs Sollen. Wenn in der Historie unzählige Menschen mit blanker Gewalt ihre Machtansprüche durchgesetzt haben (Sein), folgt daraus noch lange nicht, dass dies als „ethische Norm“ zu rechtfertigen und in Ordnung ist (Sollen). Zum Glück gibt es noch andere Definitionen von Recht. Z. B. schützt es in einem Rechtsstaat gerade die in der Durchsetzungsfähigkeit Schwachen vor den ausufernden Ansprüchen der Mächtigen. Ob die Justiz diesem Anspruch immer und in hinreichendem Umfang gerecht werden kann, steht auf einem anderen Blatt.

2. Missverständnis: Biologische Fitness wird gleichgesetzt mit physischer Stärke und körperlicher Größe. „Survival of the fittest“ bedeutet aus evolutionsbiologischer Sicht aber schlicht „Überleben des Bestangepassten“. Je höher die Fitness eines Individuums, desto mehr Nachkommen produziert es. Was die Fittesten sind, stellt sich unter den jeweiligen ökologischen und sozialen Verhältnissen immer wieder neu heraus, und das hat in den seltensten Fällen etwas mit roher Körperkraft oder Aggressivität zu tun. Bei Nahrungsknappheit können das z. B. die Kleinsten und Genügsamsten sein. Sogar eine genetische Krankheit (Sichelzellenanämie) kann unter bestimmten Voraussetzungen (hier: Parasitendruck durch Malaria) fitnessfördernd sein. Bei eusozialen Tieren begünstigt wiederum Kooperation und altruistisches Verhalten die Fitness.

3. Missverständnis: Bei der Annahme, alles, was die Natur produziert, sei auch „gut“, handelt es sich um einen naturalistischen Fehlschluss (Quelle 22, vgl. S. 34 f.). In diesem Zusammenhang sei auch noch auf HUMEs Gesetz und MOOREs Gesetz verwiesen.

Noch Tier oder schon Mensch?

Auf S. 152 wird Evolutionsforschern vorgeworfen, sie hätten nicht einmal Kriterien dafür, ob ein bestimmter paläontologischer Fund, der im Tier-Mensch-Übergangsfeld liegt, „noch“ als Tier oder „schon“ als Mensch anzusehen sei. Zur Gewinnung solcher Kriterien sei er auf die philosophische Anthropologie und die geisteswissenschaftliche Prähistorie angewiesen. Es ist jedoch falsch von einem „angewiesen sein“ zu sprechen, da dies den Gegebenheiten nicht entspricht. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass die Anthropologie eine uralte Disziplin ist. Es gibt keinen Philosophen von Rang und Namen, den die Frage „Was ist der Mensch?“ nicht beschäftigt hätte (Quelle 4, vgl. S. 60). Das aber ist die eine Seite der Medaille, und die hat vor allem mit unserem menschlichen Selbstverständnis und Selbstbild zu tun.

Die andere Seite der Medaille ist die Frage, ob es in der Natur überhaupt klare und harte Kriterien für einen diskreten Übergang zwischen zwei Spezies gibt bzw. geben kann. Das ist schlichtweg nicht der Fall. Darwin selbst schrieb in „Die Abstammung des Menschen": „In einer Reihe von Formen, welche unmerkbar aus einem affenähnlichen Wesen in den Menschen übergingen, wie er jetzt existiert, würde es unmöglich sein, irgendeinen solchen Punkt zu bezeichnen, wo der Ausdruck ´Mensch´ angewandt werden müsste“ (Dt. Ausgabe, S. 201 f.) (Quelle 23, vgl. S. 223). Aus genau diesem Grund ist eine taxonomische Einordnung immer bis zu einem gewissen Grad willkürlich, denn die Evolution kennt keine starren Kategorien.

Ab wann Knochenfunde „typisch menschlich“ sind, macht die Paläontologie unter anderem an morphologischen Merkmalen fest. Dazu gehören z. B. der permanente aufrechte Gang (habituelle Bipedie), der ernährungsspezifische Kauapparat (Omnivorie) und die exzessive Hirnentfaltung (Cerebralisation) (Quelle 24, vgl. S. 168). Die Aufrichtung und Zweibeinigkeit ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für die Conditio humana (Bedingung des Menschseins) (Quelle 24, vgl. S. 185 f.). Und nochmals: Diese Kritierien sind künstlich, und die Natur schert sich nicht darum, ob wir Menschen mit unserem Schubladen-Denken in der Lage sind, ihr zu folgen.

Evolutionismus - ob ich da mitmuss?

Vorab möchte ich einen kleinen Abstecher in die Ethnologie (Völkerkunde) und deren Verständnis von Evolutionismus machen, um anschließend auf die „Kennzeichnung des Evolutionismus“ im Buch (vgl. S. 154) zu kommen.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts löste der Evolutionismus als Weltanschauung im euro-amerikanischen Raum das theologische Weltbild ab, demzufolge Gott die Natur und den Menschen geschaffen habe (Quelle 25, vgl. S. 51). Die Vertreter des klassischen Evolutionismus versuchten den Fortschritt der Menschheit von einem primitiven Anfangsstadium zur Zivilisation nachzuzeichnen (Quelle 26, vgl. S. 155). Der Evolutionismus ist im Gegensatz zum späteren Strukturalismus und Funktionalismus keine anthropologische Theorie in dem Sinne, dass er die kulturellen Leistungen der Menschen entweder aus dessen gleichförmigen geistigen Anlagen oder aus den uns allen gemeinsamen biologischen Grundbedürfnissen ableitet (Quelle 26, vgl. S. 156). In den fünfziger und sechziger Jahren wurde der Neoevolutionismus in der amerikanischen Ethnologie zur führenden Schulrichtung (Quelle 26, vgl. S. 159), dessen Evolutionsschema entschieden differenzierter ist als die einfachen Modelle des klassischen Evolutionismus (Quelle 26, vgl. S. 160). Heute ist es ein Gemeinplatz, dass keine Kultur „besser“ als eine andere ist und Kulturen nicht pauschal hierarchisiert werden können (Kulturrelativismus) (Quelle 25, vgl. S. 65). Wie man sieht, gehört der Evolutionismus der Vergangenheit an.

Der Autor Christof GRUBER versteht unter dem Evolutionismus folgendes: „Art A treibt Art B im Verein mit Milieubedingungen notwendig hervor“ (S. 154). Außerdem wird kritisiert, wenn Art II nichts anderes als Art I in einem späteren und „höheren“ Zustand sei; wenn mit Notwendigkeit folge, dass alle Formen des Lebendigen konsequenterweise eine Evolution vor und hinter sich haben würden. Hier zeige sich der Wesensunterschied zwischen Evolution und Evolutionismus. Weiter heißt es, dass der Evolutionismus notwendigerweise totalitär sei (vgl. S. 155).

In der Evolutionsbiologie wird die Auffassung, eine Art bringe eine andere unter bestimmten Milieubedingungen notwendigerweise hervor, nicht vertreten - es handelt sich hier um ein Strohmann-Argument: Evolution hat kein Ziel und verfolgt keine Absichten; sie besteht aus den Auswirkungen der Umweltbedingungen auf das Genom, sie ist also sozusagen Lösung momentaner Probleme, die sich daraus ergeben, dass sich die Umwelt ändert (Quelle 5, vgl. S. 432). Daher ist es ungenau und missverständlich von einem „höheren“ Zustand zu sprechen, der einen Fortschritt impliziert.

Anscheinend ist GRUBER nicht aufgefallen, dass sein Kollege André DERNDARSKY schon eine (halbwegs korrekte) Antwort darauf gegeben hat, wie neue Arten entstehen: „Für eine Aufspaltung einer Art in mehrere „Tochterarten“ (also Bildung neuer Arten!) braucht es Separation und Isolation. Wenn Lebewesen einer Art räumlich getrennt werden, sodass es zu keinem Genfluss zwischen ihnen kommt, spricht man von Separation. Lebewesen gelten als isoliert, wenn nach Separation und darauffolgender neuerlicher Zusammenführung kein Genfluss mehr zustande kommt, also keine fruchtbare Paarung erfolgen kann. Durch Mutation, Selektion und Rekombination können diese „getrennten“ Lebewesen sich zu neuen Tochterarten entwickeln. Bei all diesen Prozessen ändert sich die Zusammensetzung des Genpools ständig. Diese zufälligen (selektiven) Veränderungen werden als Gendrift bezeichnet“ (S. 91).

Gendrift ist nicht gleichzusetzen mit „zufällige, (selektive) Veränderung des Genpools“, sondern es sind zufällige Veränderung der Allelfrequenz in einer Population (Quelle 5, vgl. S. 447). Darüber hinaus wird der Leser nicht über die gebräuchliche Fachterminologie aufgeklärt: Am wichtigsten ist die allopatrische Speziation (Artbildung), bei der neue Arten in getrennten Regionen (durch geographische Isolation: z. B. Gebirgszug/Fluss) entstehen. Bei der peripatrischen Speziation spielt die genetische Drift eine wichtige Rolle. Bei der Extinktionsspeziation stirbt die Art im größten Teil des Verbreitungsgebietes aus, und die neuen Arten entstehen aus den isolierten Resten der ursprünglich weit verbreiteten Population (Quelle 5, vgl. S. 372). Bei der sympatrischen Speziation haben sich die Individuen einer Art auf zwei inkompatible Arten von Ressourcennutzung spezialisiert. Hier muss keine geographische Isolation vorliegen (Quelle 5, vgl. S. 375).

Außerdem hat der Autor versäumt zu erwähnen, was eine Art überhaupt ist. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, seien die wichtigsten Artbegriffe/Artkonzepte genannt: Die morphologische Art (Morphospezies) ist durch ähnliches Aussehen gekennzeichnet. Die biologische Art zeichnet sich durch fortpflanzungsfähige Nachkommen aus. Bei der phylogenetischen Artdefinition handelt es sich um eine Gruppe von Individuen, die ein einzigartiges Merkmal teilen, das in keiner anderen Gruppe vorkommt und nicht an ein bestimmtes Geschlecht oder eine bestimmte Alterskohorte gebunden ist (Quelle 5, vgl. S. 359).

Dann heißt es im Buch weiter, dass die christliche Theologie heute in einem Kampf mit dem Evolutionismus auf Leben und Tod stehe. Nur die These von der totalen Schöpfung könne hier Stand bieten (vgl. S. 179). In der Ethnologie ist der Evolutionismus längst überholt, ebenso wenig wird die Evolutionismus-Definition von Christof GRUBER vertreten. Daher erübrigt sich ein Kampf gegen ihn! Hinzu kommt, dass nur Theorien, die überprüfbar - weil prinzipiell und konkret widerlegbar - sind, wissenschaftlich sein können. Schöpfungsideen sind nicht wissenschaftlich, weil keine Beobachtung mit der Schöpferthese im Widerspruch steht (Quelle 27) und weil kein Fund oder Befund sie widerlegen kann.

Die totale Schöpfung - oder die totale Erschöpfung?

Anschließend beschäftigt sich der Autor Christof GRUBER mit der „Umprägung des Erbgutes“ (vgl. S. 171). Der Schöpfer knüpfe darin an, indem er das gesamte Keimmaterial „umpräge“. Das passiere schon bei der Einwirkung der elterlichen Gameten aufeinander, bei ihrer Verschmelzung, so dass schon die neu entstehende Zygote eine Neuschöpfung sei (vgl. S. 172).

Für den Autor kann der „individuelle Gestaltungsfaktor“ eines der elterlichen Individuen den „individuellen Gestaltungsfaktor“ des neuen Individuums nicht hervorbringen (vgl. S. 161). Gott schaffe den „Gestaltungsfaktor“ und das „psychische Prinzip“ der neuen Art in Verein mit Sein, Wesenheit und Sinn in das Keimmaterial und die natürlich wirkenden Fortpflanzungskräfte hinein (vgl. S. 172). Bei Annäherung und Verschmelzung komme sicherlich eine Zusammenordnung der Chromosomen von Ei- und Spermienkern zustande. Dann fragt sich der Autor, warum bei dieser Zusammenordnung des Genbestandes nicht plötzlich ein Ordnungsfaktor wirksam werden solle, der weder dem Gestaltungsfaktor (und psychischen Prinzip) des väterlichen noch des mütterlichen Teiles entspricht, sondern einem im oben bestimmten Sinne artmäßig ganz neuen Gestaltungsfaktor (und psychischem Prinzip) (vgl. S. 172). Unter dem Gestaltungsfaktor wird beim Menschen ein „Personalitätsprinzip“ (eine „individuelle Form“) verstanden. Mit dem „psychischen Prinzip“ ist der Geist gemeint (vgl. S. 162 f.). Mit dem „Ordnungsfaktor“ ist offensichtlich Gott (Quelle 28, vgl. S. 74) gemeint.

Es ist schwer, dieses heillose Durcheinander zu entwirren und zu verstehen, um welche biologischen Prozesse es hier tatsächlich geht. Offenbar geht es um die Meiose und die Rekombination bei der Zygotenbildung (Befruchtung) - aber GRUBER vermeidet diese Fachbegriffe konsequent. Dabei hat sein Kollege André DERNDARSKY schon auf die Rekombination verwiesen: „Rekombinationen (etwa bei der Befruchtung) schaffen neue genetische Zusammensetzungen“ (S. 91)!

Warum verwendet der Autor keine eindeutig definierten biologischen (speziell genetischen) Fachbegriffe? Woher kommt diese Scheu vor biologischem Klartext? Ahnt der Autor vielleicht, dass die „biologische Konkurrenzerklärung“ sein Schöpfungsgeschwurbel hinfällig machen würde?

Zurück zum Thema: Was genau passiert bei der Meiose? Die Urkeimzellen halbieren ihren Chromosomensatz, so dass die Eizelle der Mutter und die Samenzelle des Vaters jeweils einen reduzierten haploiden (halben) Chromosomensatz besitzen. Nach der Verschmelzung der beiden liegt wieder ein diploider (doppelter) und damit kompletter Chromosomensatz vor, wie er in jeder menschlichen Zelle aufzufinden ist. Damit erübrigt sich die vom Autor zuvor gestellte Frage, warum bei der Zusammenordnung des Genbestandes nicht plötzlich ein Gestaltungsfaktor wirksam werden solle, der weder dem väterlichen bzw. mütterlichen Gestaltungsfaktor entspricht.

Wie kommt nun die „Individualität“, die genetische Vielfalt zustande? Warum sind Geschwister (außer eineiige Zwillinge) immer verschieden? In Bezug auf die Meiose gibt es dafür zwei Ursachen: Die interchromosomale und die intrachromosomale Rekombination (Quelle 29, vgl. S. 28). Deshalb ist jede neu produzierte Ei- sowie jede Samenzelle genetisch einmalig (Quelle 30, vgl. S. 132). Aus diesen Gründen erklärt sich die „neu entstehende Individualität“ ganz ohne Hokuspokus!

Als Fazit lässt sich sagen, dass der Inhalt des Buches in weiten Teilen mangelhaft bis ungenügend ist. Der Preis ist überteuert und ungerechtfertigt.

Kritische Studie zur Evolutionstheorie“, Herausgeber: Gruber, M. & Wehrmann, W.
Dies Academicus, Bd. 3, Frankfurt a. Main, Edition Peter Lang, 2014

Quellen

1. EINSTEIN und die Religion, Max JAMMER, 1995
2. Grenzen der Mathematik, Dirk W. HOFFMANN, 2. Auflage, 2012
3. Evolution, die 101 wichtigsten Fragen, Thomas JUNKER, 2011
4. Im Lichte der Evolution, Gerhard VOLLMER, 2016
5. Evolution, Ein Lese-Lehrbuch, Hynek BURDA & Sabine BEGALL, 2009
6. Evolutionsbiologie, Ulrich KUTSCHERA, 4. Auflage, 2015. Weiterführendes zu Mikro-/Makroevolution: www. ag-evolutionsbiologie.de
7. Gretchenfragen an den Naturalisten, Gerhard VOLLMER, 2013
8. Wikipedia, Grundtyp (Kreationismus)
9. Martin NEUKAMM 2015: http://ag-evolutionsbiologie.net/html/2015/grundtyp-modell-verfehlte-kritik.html
10. Das Phänomen Leben, Heinz PENZLIN, 2. Auflage, 2013
11. Anatomie des Menschen, Anton WALDEYER, 17. Auflage, 2002
12. Bios - Cultus - (Im)mortalitas, Band 16, Menschwerdung als evolutionsökologischer Prozess, W. HENKE & M. HERRGEN, 2012
13. Entwicklungsbiologie und Reproduktionsbiologie des Menschen und bedeutender Modellorganismen, Werner MÜLLER & Monika HASSEL, 5. Auflage
14. Humanenbryologie: Lehrbuch und Atlas der vorgeburtlichen Entwicklung des Menschen, Klaus V. HINRICHSEN, korrigierter Nachdruck, 1993
15. Was uns Menschen verbindet, Gerhard MEDICUS, 4. Auflage, 2017
16. Evolution im Fadenkreuz des Kreationismus, Martin NEUKAMM, 2009
17. Wikipedia, Tagpfauenauge, Fressfeinde
18. Lehrbuch der Entomologie, Konrad DETTNER & Werner PETERS, 2003.
19. Kreationisten im hessischen Biologieunterricht, veröffentlicht 01.11.2006, Internetartikel
20. Designfehler in der Natur, Ulrich KUTSCHERA, 2014
21. Religionsethik, Ein Grundriss, Dagmar FENNER, 2016
22. Die Wurzeln der Kriege, Bernhard VERBEEK, 2004
23. Die Schöpfungslüge, Richard DAWKINS, Taschenbuch, 2012
24. Kosmologie, Evolution und evolutionäre Anthropologie, Winfried HENKE, 2009
25. Ethnologie, Eine Einführung, Frank HEIDEMANN, 2011
26. Ethnologie - die Wissenschaft vom kulturellen Fremden, Eine Einführung, 3. Auflage, Karl-Heinz KOHL, 2012
27. Martin NEUKAMM: Wie man mit Argumenten gegen Evolution umgehen sollte, Internetartikel
28. Studien zur Kosmologie und Theologie der Aristotelischen Schrift „Über die Philosophie“, Zetemata Heft 50, Bernd EFFE, 1970
29. Genetik: Allgemeine Genetik - Molekulare Genetik - Entwicklungsgenetik, Wilfried JANNING & Elisabeth KNUST, 1. Auflage, 2004
30. Biologie für Dummies, Rene Fester KRATZ & Donna Rae SIEGFRIED, 2016

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Kommentare

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    Rom

    In gewisser Weise muss den Kreationisten zustimmen, die Evolution lässt sich nicht alleine durch reinen Zufall erklären. Das ist zu naiv gedacht, dafür ist die Evolution zu Zielgerichtet und der Zufall alleine könnte nicht all die wundervollen Erfindungen der Natur erklären.
    Man könnte natürlich Gott dafür verantwortlich machen, wobei ein solcher Gott sich automatisch als nicht allwissend enttarnen würde, denn auch in der Evolution gibt es Fehler und Sackgassen. Aus der Sicht der Kreationisten würde ich lieber diese Schiene fahren da sich so eher ein Wille beweisen ließe.
    Ich bin auch überzeugt des ein gewisser "Wille" in der Evolution tatsächlich vorhanden ist allerdings nicht so wie es sich die Kreationisten vorstellen und ein Gott ist in diesem Fall nicht Notwendig.
    Was von den Evolutionswissenschaftlern gerne übersehen wird ist das selbst Viren und Bakterien schon über eine gewisse "Intelligenz" verfügen und in der Lage sind ihre eigene Evolution z.B. durch Austausch von Genen zu steuern. Es ist höchstwahrscheinlich falsch anzunehmen das diese Fähigkeit sobald ein Organismus komplexer wird und über ein Nervensystem verfügt verloren geht. Vielmehr und ich glaube mich zu erinnern das dies bewiesen wurde finden Evolutionssprünge bei komplexen Organismen in stärkeren Ausmaß und schneller statt. Denkt man diesen Prozess weiter so muss man jede Spezies als sog. Schwarmintelligenz betrachten die ihre eigene Evolution sobald die Umweltbedingungen nicht mehr angenehm sind in gewisser Weise "gerichtet" einsetzt um einen Ausweg zu finden. Insofern wäre dann tatsächlich so etwas wie ein Wille oder der Anschein vorhanden allerdings nicht unbedingt der eines Gottes.
    Ein Bewies für diese These ist z.B die Veränderung der genetischen Informationen die an die Nachkommen weitergegeben werden im Falle eines erlebten Traumas der Eltern.
    Es wäre sinnvoll einen Vergleich anzustellen in wiefern sich die Evolution von Einfachen zu komplexen Organismen unterscheidet. Eine Untersuchung würde mit Sicherheit einen drastischen Anstieg von Mutationen bei negativen Umweltbedingungen bei komplexen Organismen feststellen womit sich diese These dann vollständig beweisen ließe.

    MfG

    Rom

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      Rom

      P.s: Insofern hat sich jede Spezies aus eigenem wenn auch unbewusstem Willen dafür entschieden das zu sein was sie ist. Eine Schnecke für eine Schnecke, ein Bär für einen Bären und ein Mensch für einen Menschen.
      Was für ein interessanter Gedanke, denn in diesem Falle sind wir alle unsere eigenen Schöpfer und unser eigener Gott :).

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        Klaus Steiner

        Hallo Rom,

        es freut mich, dass Sie sich die Buchbesprechung durchgelesen haben.

        Ihr Zitat: "In gewisser Weise muss den Kreationisten zustimmen, die Evolution lässt sich nicht alleine durch reinen Zufall erklären."

        Zu den Zufallsdriften in der Evolution zählen neben den neutralen Mutationen auf molekularer Ebenen auch Schwankungen der Allelhäufigkeiten, die in kleinen Populationen zum Aussterben von Allelen führen können (solche Schwankungen können durch Zufall, Katastrophen oder Auswanderungen bewirkt werden; vgl. Ridley 1993, Kap. 6). Die Einsicht, dass evolutionäre Entwicklungen nicht nur auf Anpassungsprozessen, sondern auch auf nicht adaptionistischen Zufallsprozessen beruhen, hat das moderne Bild von Evolution, verglichen zum älteren "Pan-Adaptionismus", verändert und realitätsgerechter gemacht. Dennoch wäre es unangebracht, hier von zwei unterschiedlichen "Paradigmen", dem älteren "Selektionismus" vs. dem modernen "Neutralismus", zu sprechen. Wie auch Dennett (1997, 366) betont, wandten sich Gould und Lewontiin in ihrer Kritik des Pan-Adaptionismus keinesfalls gegen die Existenz adaptionisticher Prozesse überhaupt, was einige Evolutionskritiker fälschlicherweise herausgelesen haben. Niemand in der gegenwärtigen Kontroverse bezweifelt, dass beide Prozesse evolutionär bedeutsam sind - es geht nur um die Frage des relativen Gewichts. Auch für die zweite oben genannte Kontroverse haben Eldredge und Gould (1972) die Rolle einer Initialzündung gespielt, als sie betont haben, dass Evolution nicht graduell, sondern diskontinuierlich verläuft, also lange Phasen der Stagnation von schnellen revolutionären Veränderungen unterbrochen werden (sogenannte punctuated equilibia).

        Quelle: Evolution in Natur und Kultur; Eine Einführung in die verallgemeinerte Evolutionstheorie; Gerhard Schurz; S. 139

        Welche Prozesse der Evolution laufen zufällig ab?
        Die dem "Zufall" überlassene Aufteilung der elterlichen Chromosomen während der Reduktionsteilung der Meiose (siehe Buchbesprechung)… und der Nachweis von ungerichteten, bleibenden Veränderungen (Mutationen) der Erbsubstanz (DNA oder RNA). Ebenso sind fundamentale molekulare Zellprozesse stochastischer Natur, etwa die Verdoppelung und Rekombination der DNA oder die als Genexpression bezeichneten Prozesse, die zur Proteinsynthese hinführen. (Quelle 1, vgl. S. 9 f.) Auch die (Makro-)Moleküle und makromolekularen Komplexe der Zelle unterliegen den Schwankungsphänomenen der "Brown´schen Bewegung" (Quelle 1, vlg. S. 27).
        Zufall und Zufälligkeit implizieren die Unabhängigkeit der einzelnen Mutationsereignisse und Regellosigkeite der Ereignisfolgen - das Fehlen vorhersagbarer Muster. Abweichungen vom "Zufall" liegen demzufolge dann vor, wenn die einzelnen Mutationen statistisch korreliert sind. Es gibt Hinweise, dass Mutationen bevorzugt dort auftreten, wo zuvor bereits Mutationen aufgetreten sind ("Hotspot-Mutationen"). Die ungleiche Verteilung entlang eines Chromosoms, einschließlich lokaler Häufungen, schließt aber nicht die "Zufälligkeit" des Auftretens der einzelnen Mutationsereignisse aus; wann und wo eine Mutation auftritt, ist nicht vorhersagbar. (Quelle 1, vgl. S. 99 f.)
        Als weniger glücklich stellt sich der fest eingebürgerte Begriff der Auslese heraus, der leicht zu Missverständnissen führen kann; Auslese ist nicht das Ergebnis einer "Selektionskraft", die auswählt. Vielmehr soll natürliche Auslese im Sinne von Darwin und Wallace bedeuten, dass die weniger geeigneten Individuen einer Population verschwinden, die (vorübergehend) besser angepassten Individuen hingegen sich erfolgreich fortpflanzen, also überleben. Um diese Bedeutung der Auslese zu betonen, wurde die Bezeichnung nicht-zufällige Eliminierung anstelle von natürlicher Auslese vorgeschlagen. (Quelle 1, vgl. S. 131)
        Dieser von der Anzahl der sich fortpflanzenden Individuen abhängige Zufallsprozess der Veränderung der Allelverteilung wird als Gendrift bezeichnet. Durch den möglichen, zufallsabhängigen Allelverlust entsteht eine Veränderung der Allelhäufigkeiten innerhalb des Genpools, der Gesamtheit der Allele der Population. Besonders in sehr kleinen Fortpflanzungsgemeinschaften machen sich diese stochastischen Fluktuationen bemerkbar: Die Häufigkeit eines Allels kann hier enorm schwanken. In diesem Fall wird die Gendrift ein gewichtiger Evolutionsfaktor. (Quelle 1, S. 141 f.)
        Auf der Zellebene beobachten wir weiterhin die Dichotomie von zielgereichteten (teleonomischen) Prozessabläufen wie den Zellzyklus und den zugrundeliegenden stochastischen Molkularprozessen. Biologisches Leben vereint beides - Zufallsprozesse und notwendige (deterministische) Prozesse. Auf unterschiedlichen Ebenen der Zellorganisation und Entwicklungsstufen der Organismen ist das "Sowohl-als-auch"-Prinzip erkennbar; Zufall und Notwendigkeit sind logische Gegensatzpaare, keine biologischen. Zufallsprozesse haben im Zellgeschehen eine fundamentale Bedeutung: Molekulare Interaktionen, intrazellulärer Transport und molekulare Signalübertragungen, die unabhängige Neukombination der Erbanlagen, die Befruchtung bei geschlechtlicher Fortpflanzung und die nicht-erbliche Variabilität der ein- und vielzelligen Organismen - alle diese Prozesse weisen die Handschrift des "Zufalls" auf. (Quelle 1, S. 145)

        Quelle 1: Zufall im Leben der Zelle; Variation, Entwicklung und Evolution der Organismen; Hartmut Kuthan; 2016

        Ihr Zitat: "Das ist zu naiv gedacht, dafür ist die Evolution zu Zielgerichtet und der Zufall alleine könnte nicht all die wundervollen Erfindungen der Natur erklären."

        Tatsächlich macht die Evolutionstheorie finalistische, teleologische, vitalistische Hypothesen entbehrlich (Vitalismus – Mechanismus). Gegen die vielfach spekulativ eingeführten „Lebensfaktoren“ (Archeus, vis vitalis, nisus formativus, Entelechie, Zellbewußtsein, élan vital, Telefinalität, Aristogenesis, Dominanten, demiurgische Intelligenz) spricht also nicht, daß sie nachweislich nicht existierten. Wie Wissenschaftstheoretiker wissen, lassen sich Existenzbehauptungen dieser Art ja grundsätzlich nicht widerlegen. Gegen sie spricht vielmehr ihr ad-hoc-Charakter – die Tatsache, daß sie nicht unabhängig von den Fakten überprüfbar sind, zu deren Erklärung sie eingeführt wurden.

        Die Evolutionstheorie zeigt nun aber auch, inwieweit eine teleologische Sprechweise („wozu?“, „um zu“, „damit“) auch in der Biologie legitim ist: Sie ist sachlich zulässig, soweit sie in eine kausale Formulierung übersetzbar ist. Didaktisch unbedenklich ist sie allerdings nur dann, wenn sie nicht eine psychologisch-intentionale Fehlinterpretation nahelegt, die Pflanzen und Tieren Absichten zuschreibt.

        Um den biologischen Fragestellungen und Antworten jeden metaphysischen Beigeschmack (Ontologie) zu ersparen, prägte Colin S. Pittendrigh 1956 das Neuwort „Teleonomie“. Am besten definiert man Teleonomie als „programmgesteuerte, gen-erhaltende Zweckmäßigkeit als Ergebnis eines evolutiven Prozesses (und nicht als Werk eines planenden, zwecksetzenden Wesens)“. Die hier angesprochene Programmsteuerung erstreckt sich natürlich nur auf die Individual-Entwicklung oder Ontogenese, nicht auf die Stammesgeschichte oder Phylogenese. Zudem muß betont werden, daß diese Art der programmierten Zweckmäßigkeit kein Bewußsein voraussetzt. Danach ist es wohl sinnvoll, von der Teleonomie einer angeborenen Verhaltensweise, nicht jedoch von der „Teleonomie einer Uhr“ (Lorenz, Mayr) zu sprechen. In der letzten Bedeutung wäre der Begriff nämlich völlig überflüssig.

        Teleonomie ist keine Lehre (wie Astronomie), sondern eine Eigenschaft (wie Autonomie). Die Zweckmäßigkeit einer Struktur allein liefert freilich noch keine Erklärung. Sie legt nur die Annahme nahe, daß eine evolutionsbiologische Erklärung möglich sein sollte.

        Quelle: [http://www.spektrum.de/lexikon/biologie/teleologie-teleonomie/65691]

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          Rom

          Sehr geehrter Herr Steiner,
          ich danke ihnen für die mühevolle Antwort auf meinen Kommentar.
          Sie haben mir viele wertvolle Informationen gegeben für die ich ihnen dankbar bin. Für die späte Antwort entschuldige ich mich, leider ist es so das Antworten bei mir als Spam landen und ich dieses Problem noch nicht gelöst habe.
          Es scheint das Sie meine Ansicht als eher esoterisch bewerten, deswegen möchte ich auf folgenden Artikel verweisen der mir scheinbar recht gibt.
          http://www.zeit.de/zeit-wissen/2018/02/genetik-dna-code-vererbung-jean-baptiste-de-lamarck?wtzmc=koop.ext.zonaudev.spektrumde.feed.gibt-es-vererbung-ohne-dna-code.bildtext.link.x&utmmedium=koop&utmsource=spektrumdezonaudevext&utmcampaign=feed&utmcontent=gibt-es-vererbung-ohne-dna-codebildtextlinkx

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          Klaus Steiner

          Hallo Rom,

          was genau meinen Sie bezüglich des Artikels, wenn Sie sagen, er scheint Ihnen Recht zu geben?

          In dem von Ihnen verlinkten Artikel befindet sich ein populärer Fehler, nach dem sich der Giraffenhals verlängere, damit die Giraffe an hohe Blätter kommt. Weibchen fressen an häufigsten in 1,5-2,5 Metern Höhe, Männchen in Männchengruppen in der Höhe von etwa drei Metern, Männchen in Weibchengruppen in der Höhe von fünf Metern. Damit symbolisiert der Giraffenhals Dominanz, ist also das Produkt der sexuellen Selektion! Giraffenbullen nutzen ihn für Dominanzkämpfe. Die dominantesten Männchen haben den längsten und dicksten Hals (Quelle: Evolution, Ein Lese-Lehrbuch, Hynek Burda, Sabine Begall, 2009, vgl. S. 295).

          In Zusammenhang mit der Epigenetik und der Möglichkeit, sogar die durchschnittliche Lebensdauer zu berechnen, scheint der Zufall erst einmal nicht vorhanden zu sein. Doch dieser Schluss ist meiner Ansicht nach trügerisch. Erstens einmal ist davon die Rede, dass Horvath den Tod voraussagen will, ob er es kann, ist eine andere Frage. Und was soll es bedeuten, dass die Forscher die durchschnittliche Lebensdauer der Teilnehmer berechnen konnten? Man könnte ja erst nach dem Ableben der Studienteilnehmer sagen, ob und inwieweit die berechnete Lebensdauer mit der tatsächlichen übereinstimmt...

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