Zeugen Jehovas – alarmierende Ergebnisse in Züricher Studie

Daten zu Gesundheit und Wohlbefinden ehemaligen Zeugen Jehovas

Zeugen Jehovas – alarmierende Ergebnisse in Züricher Studie

Von Niki.L - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=84445537

Ehemalige Zeugen Jehovas erlebten in der Kindheit dreimal häufiger körperliche und sexuelle Gewalt als die Allgemeinbevölkerung und sechsmal häufiger emotionale Vernachlässigung bzw. Gewalt. Nach Verlassen der Gruppe sind 77 % der ehemaligen Zeugen Jehovas von verordnetem Kontaktabbruch betroffen. Jede dritte ausgestiegene Person hat nach Verlassen der Gruppe Suizidgedanken, 10 % der Ausgestiegenen unternimmt einen Suizidversuch. Ehemalige Zeugen Jehovas sind 40 % häufiger von chronischen Krankheiten und ein Drittel häufiger von psychischen Erkrankungen betroffen.

Das sind Daten aus einer im November 2023 veröffentlichten Studie der Universität Zürich (hier in deutscher Übersetzung) zu Gesundheit und Wohlbefinden von 424 ehemaligen Zeugen Jehovas im deutschsprachigen Raum. Diese alarmierenden Zahlen machen den politischen Handlungsbedarf deutlich.

1. Wichtigste Ergebnisse der Studie

Die Studie macht die schwerwiegenden Folgen des Verlassens der Glaubensgemeinschaft deutlich.

Mit dem Ausstieg

- erfahren 77 % der Befragten verordneten Kontaktabbruch, Ächtung genannt,

- erleben 71 % den Abbruch von Beziehungen zu Menschen in der Gemeinschaft,

- haben 38 % eine schwere Krise, 33 % Suizidgedanken, 10 % unternehmen einen Suizidversuch.

Die befragten ehemaligen Zeugen Jehovas, insbesondere die Frauen, weisen durchschnittlich 13 Jahre nach Verlassen der Gemeinschaft im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung eine tiefere Lebensqualität und ein höheres Stresslevel auf. Die Studienteilnehmenden weisen zudem eine schlechtere Gesundheit auf als die Allgemeinbevölkerung.

Nach dem Ausstieg

- leiden 41 % der Befragten (vs. 27.7 %) an einer diagnostizierten psychischen Erkrankung,

- sind 43 % der Befragten (vs. 26 %) von einer chronischen Erkrankung betroffen,

- nehmen 36 % der Befragten regelmäßig Medikamente gegen körperliche und 20 % gegen psychische Beschwerden ein, 28 % befinden sich in Psychotherapie.

Die schlechte Gesundheit dürfte nicht nur mit der erfahrenen Ächtung, sondern auch mit dem Aufwachsen und Leben in der Glaubensgemeinschaft in Zusammenhang stehen. Von den Teilnehmenden wurden 89 % in die Religionsgemeinschaft hineingeboren oder kamen als Kinder bzw. Jugendliche dazu.

Während der Mitgliedschaft

- hatten 75 % der Befragten kaum Kontakte zu Außenstehenden oder brachen bestehende Kontakte ganz ab,

- verbrachten die Studienteilnehmenden durchschnittlich 15.8 Stunden pro Woche mit religiösen Aufgaben,

- hatten 70% der Befragten nicht genügend Zeit für Arbeit, Familie oder Freizeit.

Schlechte Gesundheit und Wohlbefinden muss auch im Zusammenhang mit dem Ausmaß erlebter Vernachlässigung bzw. Misshandlung in der Kindheit verstanden werden. Die befragten ehemaligen Zeugen Jehovas waren drei- bis sechsmal stärker von Formen von Vernachlässigung und Gewalt betroffen als die Allgemeinbevölkerung, wiederum Mädchen ungleich mehr als Jungen.

In der Kindheit

- erlebten 81 % der Befragten (vs. 14 %) emotionale Vernachlässigung

- 65 % (vs. 10 %) emotionale Misshandlung

- 34 % (vs. 12 %) körperliche Misshandlung

- 18 % (vs. 6 %) sexuellen Missbrauch.

Die Ergebnisse der Studie sind alarmierend. Sie illustrieren, dass verordneter Kontaktabbruch Beziehungen und Familien zerstört und Menschen krank macht. Die Studie macht auch deutlich, wie vulnerabel besonders Kinder und Jugendliche in der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas sind. Die Ergebnisse sind ein Appell an Gesellschaft und Politik, gegen verordneten Kontaktabbruch in religiösen Gemeinschaften vorzugehen sowie Kinder und Jugendliche innerhalb vereinnahmender Gruppen stärker zu schützen. Die Erkenntnisse der Studie decken sich mit den Berichten von Ehemaligen, welche JZ Help gesammelt hat.

2. Zusammenfassung der Studie

Gesundheit und Wohlbefinden ehemaliger Zeugen Jehovas in Deutschland, Österreich und der Schweiz

Im Folgenden werden die Resultate der Publikation «Characteristics of health and well-being in former Jehovah’s Witnesses in Austria, Germany, and Switzerland» (2023) zusammengefasst. Hier findet sich die deutsche Übersetzung der Studie.

Die Studie entstand im Rahmen des Forschungsprojekts «Psychologische Belastung und Resilienz nach dem Austritt oder Ausschluss aus einer fundamentalistischen christlichen Glaubensgemeinschaft» an der Universität Zürich.

2.1 Hintergrund und Ziele der Studie

Es gibt nur wenige Studien zum Befinden ehemaliger Mitglieder fundamentalistischer christlicher Glaubensgemeinschaften. Das Verlassen einer solchen Gruppe ist mit hohem Stress verbunden – ganz besonders, wenn zu ehemaligen Mitgliedern der Kontakt abgebrochen werden muss, sie „geächtet“ werden, wie das bei den Zeugen Jehovas der Fall ist. Durch die Abgeschlossenheit der Gruppe sind Ausgestiegene mit dem Verlassen der Gruppe oft sozial komplett isoliert. Es ist davon auszugehen, dass ehemalige Mitglieder der Zeugen Jehovas besonders gefährdet sind, schlechte körperliche und psychische Gesundheit zu entwickeln.

Daraufhin weisen die Resultate der ersten Studie des Forschungsprojektes «Psychologische Belastung und Resilienz nach dem Austritt oder Ausschluss aus einer fundamentalistischen christlichen Glaubensgemeinschaft». 38 % der Ausgestiegenen aus fundamentalistischen christlichen wurden als gefährdete Personen identifiziert: Ihr Wohlbefinden und ihre psychische Gesundheit waren beeinträchtigt.

Die dritte Studie des Forschungsprojekts fokussiert auf ehemalige Zeugen Jehovas, die 68 % der Teilnehmenden des Forschungsprojekts ausmachten. Es werden auch Belastungen in der Kindheit sowie die Art des Ausschlusses, ob selbst gewählt oder unfreiwillig, berücksichtigt. Die Studie will folgende Fragen beantworten:

- Was zeichnet ehemalige Zeugen Jehovas aus und wie steht es um ihre Gesundheit sowie ihr Wohlbefinden?

- Anhand welcher Eigenschaften können besonders gefährdete Personen erkannt werden?

2.2 Datenerhebung und Datenanalyse

Die Studie wurde zwischen Februar und Juni 2021 durchgeführt. Volljährige deutschsprachige ehemalige Mitglieder fundamentalistischer christlicher Glaubensgemeinschaften aus Deutschland, Österreich oder der Schweiz konnten daran teilnehmen, indem sie einen Online-Fragebogen ausfüllten. In diese Publikation wurden die Daten der 424 Teilnehmenden einbezogen, die angaben, ehemalige Zeugen Jehovas zu sein. Davon waren 65 % weiblich und 35 % männlich.

Im Online-Fragebogen wurden sozio-demografische Angaben wie Alter und Geschlecht, aber auch Ausbildung und Beruf, Angaben zu Mitgliedschaft, Austritt/Ausschluss und der aktuellen Situation, Stress und Trauma, Wohlbefinden, und Angaben zur körperlichen und psychischen Gesundheit erfragt.

Die Teilnehmenden wurden je nach Art des Ausscheidens aus der Religionsgemeinschaft in drei Gruppen eingeteilt: 1. ausgeschlossen, 2. ausgetreten aufgrund traumatischer Erfahrungen und 3. ausgetreten aufgrund persönlicher Gründe.

Weil die meisten der teilnehmenden Personen in Deutschland wohnhaft waren, wurden für Vergleiche soziodemographische Vergleichsdaten aus Deutschland herangezogen.

2.3 Ergebnisse

Merkmale der Stichprobe

Von den 424 Teilnehmenden der Studie waren 65 % weiblich, 35 % männlich, das Durchschnittsalter betrug 42 Jahre. 87 % der Teilnehmenden wohnten in Deutschland, 8 % in der Schweiz, 5 % in Österreich.

Im Vergleich zur deutschen Allgemeinbevölkerung waren die Teilnehmenden der Studie häufiger ledig, getrennt lebend, geschieden oder verwitwet (23 % vs. 33 %). Ansonsten waren ihre soziodemographischen Daten, mit Ausnahme der Überrepräsentation der Frauen, mit jenen der deutschen Allgemeinbevölkerung vergleichbar.

Angaben der Teilnehmenden zu Vernachlässigung und Misshandlung

Formen von Vernachlässigung und Kindesmisshandlung wurden von den Studienteilnehmenden drei bis sechsmal häufiger berichtet als in der deutschen Allgemeinbevölkerung. Nur von körperlicher Vernachlässigung berichteten die Teilnehmenden in der aktuellen Studie seltener.

 

Stichprobe ehemaliger ZJ

Deutsche Allgemeinbevölkerung

Emotionale Vernachlässigung

81%

13.9%

Körperliche Vernachlässigung

33%

48.4 %

Emotionale Misshandlung

65%

10.2 %

Körperliche Misshandlung

34%

12%

Sexueller Missbrauch

18%

6.2 %

Mehr weibliche als männliche Teilnehmende gaben an, von Kindesmisshandlung betroffen gewesen zu sein. Auch bezüglich des Schweregrads gaben Frauen ein größeres Ausmaß von Kindesmisshandlung an als Männer. Hingegen gab es keine Geschlechtsunterschiede bezüglich emotionaler oder körperlicher Vernachlässigung.

Die Autor:innen der Studie weisen darauf hin, dass die Kindesmisshandlung (auch) vor der Mitgliedschaft stattgefunden haben könnte. Angesichts der Tatsache, dass ein Großteil der Teilnehmenden in die Glaubensgemeinschaft hineingeboren worden ist und das Sozialleben größtenteils auf die Glaubensgemeinschaft beschränkt war, muss von einem Zusammenhang zwischen Mitgliedschaft und dem Risiko, Opfer von Kindesmisshandlung zu werden, ausgegangen werden.

Gründe für den Beitritt zur Glaubensgemeinschaft

66 % der Teilnehmenden waren in die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas hineingeboren worden, 17 % waren in ihrer Kindheit beigetreten, 6 % während der Adoleszenz und 11 % im Erwachsenenalter. Minderjährige waren mit ihren Eltern oder anderen nahestehenden Personen beigetreten.

Andere Gründe für den Beitritt waren der Glaube, die Suche nach einer Lösung für persönliche Probleme oder nach Antworten, der Lebensstil, der Kontakt zu nahestehenden Personen, beigetretene Freunde und Familienmitglieder, die Suche nach einem Ort der Zugehörigkeit oder nach Unterstützung infolge eines Schicksalsschlags.

Soziales Leben während der Mitgliedschaft

Bei 62 % der Teilnehmenden war ein großer Teil der Familie oder die gesamte Familie Teil der Glaubensgemeinschaft, von 71 % waren viele oder alle engen Freundinnen und Freunde Teil der Glaubensgemeinschaft. 75 % der Befragten reduzierten Kontakt zu Außenstehenden oder brachen ihn ganz ab aufgrund der Vorstellungen der Glaubensgemeinschaft.

Engagement, Gemeindeaktivitäten und finanzielle Aspekte

Von den Teilnehmenden fühlten sich 62 % während ihrer Mitgliedschaft der Glaubensgemeinschaft (sehr) stark verbunden und verbrachten durchschnittlich fast 16 Stunden pro Woche damit, die Ziele der Glaubensgemeinschaft mitzuverfolgen: durch den Besuch von Versammlungen, Missionieren oder Studium der Wachtturm-Literatur.

Entsprechend gaben 70 % an, immer oder oft nicht genug Zeit für eigene Verpflichtungen gehabt zu haben. 56 % investierten Geld in die Glaubensgemeinschaft, wovon 8 % deswegen in (große) finanzielle Schwierigkeiten gerieten.

Art des Verlassens der Glaubensgemeinschaft und Gründe dafür

Zum Zeitpunkt der Online-Fragebogen-Studie betrug die durchschnittliche Dauer seit Verlassen der Zeugen Jehovas fast 13 Jahre, wobei die durchschnittliche Mitgliedschaftsdauer fast 30 Jahre betrug. Die Hälfte verließ die Zeugen Jehovas freiwillig, 21% wurden von dieser Glaubensgemeinschaft ausgeschlossen und 31 % verließen sie aufgrund von Erfahrungen von Kindesmisshandlung.

Gründe für freiwillige Austritte waren Zweifel an den Lehren, Einschränkungen und abweichende Moralvorstellungen, teilweise aber auch erlebte oder beobachtete Misshandlungen, Konflikte, die Verlagerung des Lebensmittelpunktes und in seltenen Fällen der Wechsel zu einer anderen Glaubensgemeinschaft. Für 16 % der Teilnehmenden führte der Ausschluss aus der Gemeinschaft auch zur Auflösung ihrer Ehe oder Partnerschaft.

Umgang und Erlebnisse nach Verlassen der Glaubensgemeinschaft

Von den Teilnehmenden berichteten 65 % über Verbesserungen ihrer psychischen und 47 % ihrer körperlichen Gesundheit nach Verlassen. 6 % berichteten, keine psychischen Veränderungen wahrgenommen zu haben und 29 % berichteten von Verschlechterungen. 34 % berichteten, keine körperlichen Veränderungen wahrgenommen zu haben und 20 % berichteten von Verschlechterungen.

Nach Verlassen nahmen 31 % der Teilnehmenden professionelle Hilfe in Anspruch. 38 % sahen sich in einer Krise und wussten nicht mehr, was sie mit ihrem Leben machen sollten. 33 % berichteten von Suizidgedanken und 10 % unternahmen einen Suizidversuch.

Bei 37 % zeigte sich ein anderes Bild, sie genossen ihr Leben in vollen Zügen und unternahmen Dinge, die ihnen vorher verboten worden waren. 58 % knüpften neue Freundschaften oder bauten Kontakt zu früheren Bekanntschaften wieder auf.

77 % der Befragten erlebten Ächtung durch aktive Zeugen Jehovas. 71 % mussten Beziehungen innerhalb der Glaubensgemeinschaft aufgeben. 36 % hatten Angst vor einer Strafe durch Gott. 7 % berichteten von keinen negativen Folgen.

Generelle Aspekte und der Glaube

15 % wurden stark und 11 % sehr stark im Alltag durch ihre ehemalige Mitgliedschaft beeinflusst. Bei 13 % der Teilnehmenden wurde der Glaube nach Verlassen schwächer, bei 59 % sogar deutlich schwächer.

Aktuelle Lebensqualität und Gesundheit

Grundsätzlich berichteten die Teilnehmenden von moderater körperlicher und signifikant beeinträchtigter psychischer Gesundheit.

- 43 % gaben an, mit einer chronischen körperlichen Erkrankung zu leben, die sie unterschiedlich stark in ihrem Alltag beeinträchtigte (Vergleich Deutschland: 26.5 %)

- 36 % nahmen regelmäßig Medikamente gegen körperliche Beschwerden ein.

- 41 % hatten eine diagnostizierte psychische Störung (Vergleich Deutschland: 27.7%)
28 % befanden sich aktuell in Psychotherapie und 20 % nahmen regelmäßig Medikamente gegen ihre psychischen Beschwerden ein. Weibliche Teilnehmende gaben mehr psychische Symptome an als männliche.

- Das Stresslevel der Teilnehmenden war relativ hoch (Skalen-Wert von 19.39 vs. 12.57 in repräsentativer deutscher Studie). Auch hier gaben weibliche Teilnehmende ein höheres Stresslevel an als männliche.

- Ihre Lebensqualität wurde von den Teilnehmenden als relativ tief wahrgenommen, hier auch bei weiblichen Teilnehmenden tiefer als bei männlichen (Skalen-Wert von 11.26 vs. 17.58 in repräsentativer deutscher Studie).

Die Dauer der Mitgliedschaft zeigte keinen Einfluss auf die aktuelle psychische Gesundheit oder Lebensqualität, dafür jedoch auf das aktuelle wahrgenommene Stresslevel. Je länger die Mitgliedschaft dauerte, desto niedriger fiel das aktuelle Stresslevel aus. Je mehr Zeit zwischen dem Verlassen und der Studie lag, desto besser war der aktuelle psychische Gesundheitsstatus.

Teilnehmende, welche die Glaubensgemeinschaft aus persönlichen Gründen verlassen hatten, erlebten weniger Stress und berichteten über eine bessere Lebensqualität als Teilnehmende, welche die Gruppe nach traumatischen Erfahrungen verlassen hatten. Diese berichteten von mehr psychischen körperlichen Symptomen und auch von mehr erfahrener Misshandlung als Kind.

2.4 Schlussfolgerung

Dem hohen Vorkommen von Kindesmisshandlung in der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas muss sowohl von Seiten der Forschung als auch von Seiten der Glaubensgemeinschaft Aufmerksamkeit geschenkt werden.

Es gibt recht große Unterschiede bezüglich Wohlbefinden und Gesundheit der Befragten nach dem Verlassen der Gemeinschaft. Das mag mit den Gründen und den Umständen des Ausschlusses zu tun haben, aber auch mit dem individuellen Umgang mit stressreichen Lebenssituationen.

Bezüglich der körperlichen und psychischen Gesundheit weichen ehemalige Mitglieder der Zeugen Jehovas deutlich von der Allgemeinbevölkerung ab. Gründe hierfür könnten die Erfahrungen nach dem Verlassen der Zeugen Jehovas sein, da ehemalige Mitglieder oft Ächtung erleben, Beziehungen und Partnerschaften verlieren und somit großem Stress ausgesetzt werden, der sich negativ auf die Gesundheit auswirken kann.

Um solche negativen Effekte zu vermindern, könnten spezifisch zugeschnittene medizinische und psychotherapeutische Maßnahmen eingesetzt werden. Insbesondere Personen, die in dieser Studie als Hochrisikogruppe anhand ihres stark beeinträchtigten körperlichen und psychischen Gesundheitszustands erkannt wurden, könnten davon profitieren.

2.5 Referenz

Thoma, M.V., Goreis, A., Rohner, S.L., Nater, U.M., Heim, E. & Höltge, J. (2023) Characteristics of health and well-being in former Jehovah’s Witnesses in Austria, Germany, and Switzerland. Mental Health, Religion & Culture. https://10.1080/13674676.2023.2255144

3. Kommentar von JZ Help

Der Verein JZ Help begrüßt die Forschung des psychologischen Instituts der Universität Zürich zu den Folgen von Zugehörigkeit zu den Zeugen Jehovas sowie des Ausschlusses aus der Gemeinschaft. Zusammen mit den Autorinnen und Autoren der Studie hofft JZ Help, dass die Ergebnisse zu einem besseren Verständnis der Situation von Ausgestiegenen beitragen.

Die Erkenntnisse der Studie decken sich mit unserem eigenen Erleben, den Berichten von Ehemaligen und unseren Erfahrungen aus der Beratungsarbeit. Wir erleben täglich, dass Menschen, die durch verordneten Kontaktabbruch alle ihre nächsten Menschen auf einen Schlag verlieren, auch Eltern, Kinder und Geschwister, in eine schwere Krise geraten. Ein Drittel der in der Zürcher Studie Befragten hatte Suizidgedanken, 10 % hat einen Suizidversuch unternommen.

Die schlechte Gesundheit von Ausgestiegenen ist aber wohl nicht auf den Verlust der wichtigsten Bezugspersonen und den Zusammenbruch des eigenen Weltbildes zurückzuführen. Vielmehr weisen die drei- bis sechsmal höheren Werte der Teilnehmenden zu erlebter Vernachlässigung und Gewalt in der Kindheit darauf hin, dass die schlechte Gesundheit auch Jahre nach dem Ausstieg eine Folge des Aufwachsens in der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas sein kann.

Wie es innerhalb der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas zu diesem enormen Ausmaß an Gewalt kommt – auch und gerade gegen Kinder – und welche Folgen das für Betroffene haben kann, wird im Folgenden ausgeführt.

3.1 Grundlage der Gewalt: geteilte Realität, Isolation und Vereinnahmung

Mitglieder der Zeugen Jehovas teilen eine Realität, die sich von jener der umgebenden Gesellschaft stark unterscheidet. In dieser Realität steht das Ende der Welt mit blutigem Gericht kurz bevor. Die Mitglieder leben damit in einer akuten Bedrohungssituation, in der das Überleben nur gesichert werden kann durch strikte Befolgung der Vorgaben der Wachtturm-Organisation.

In einer Gruppe, die so geschlossen und vereinnahmend ist, herrscht eine stark dichotome Weltsicht vor: Das Gute wird in der Gemeinschaft, das Böse in der Außenwelt verortet. Im Kern zielt die Sozialisation von Mitgliedern von derart engen Gruppen immer darauf ab, dass Mitglieder weder sich selber noch die Welt, in der sie leben, kennen dürfen. So steht „die Welt“ denn auch für das Schlechte, mit „Weltmenschen“, also Menschen, die in der „Welt“ leben, soll, außer bei der Mission, möglichst wenig Kontakt bestehen.

Als Folge gibt es kaum enge Beziehungen zu Nicht-Mitgliedern. Von den befragten Ehemaligen reduzierten drei Viertel den Kontakt zu Außenstehenden oder brachen ihn ganz ab, um den Vorgaben der Glaubensgemeinschaft zu genügen. 71 % der Befragten gaben an, dass sie ausschließlich oder fast ausschließlich Beziehungen zu anderen Mitgliedern pflegten.

Die von den Teilnehmenden durchschnittlich genannten 15,8 Wochenstunden für religiöse Aufgaben entspricht in etwa den Angaben der Organisation selbst [1]. Auch Erwachsene haben dadurch oft zu wenig Zeit, eigene Ziele zu verfolgen. Kinder, die sich ebenfalls schon früh an sämtlichen Aktivitäten der Gemeinschaft beteiligen sollen, kann das völlig überfordern.

Diese äußere Isolation bei gleichzeitiger Vereinnahmung durch die Gruppe führt auch zu einer Einschränkung der Weltsicht und damit auch der persönlichen Wahlmöglichkeiten: Akademische Bildung oder eine ambitionierte berufliche Karriere etwa werden als ernste Gefahren für den Glauben wahrgenommen (s. hier ab S. 56). Auch politische Partizipation oder andere Formen gesellschaftlicher Teilhabe gelten als unerwünscht, es gibt keine andere sinnvolle Betätigung außer Missionieren und andere „gute Werke“ für und innerhalb der Gemeinschaft. Auch Sex vor der Ehe, homosexuelle Beziehungen oder eine Änderung der eigenen sexuellen Identität sind innerhalb der Gemeinschaft undenkbar.

Getaufte Mitglieder, die Zweifel an der Lehre haben oder den Vorgaben nicht entsprechen können oder wollen, wissen, dass sie, wenn sie die Organisation verlassen, die meisten ihrer nächsten Menschen verlieren werden. Deshalb leben viele Betroffene oft über Jahre mit dem Wunsch, auszutreten, tun dies aber nicht, wegen der schwerwiegenden Konsequenzen.

Die Abgeschlossenheit der Gemeinschaft trägt zudem dazu bei, dass Frauen in diesem stark patriarchalen und frauenfeindlichen System in ihrer persönlichen und beruflichen Entwicklung noch eingeschränkter sind als Männer. Frauen haben kaum Mitspracherecht in Gemeindeangelegenheiten und leben in großer Abhängigkeit von ihrem Ehemann. Das könnte ein Grund für den höheren Stresslevel und die tiefere Lebensqualität bei den weiblichen Teilnehmerinnen der Zürcher Studie sein.

Vor dem Hintergrund der Bedrohungssituation eines nahen Weltendes mit Leid und Zerstörung wird verständlicher, weshalb viele Eltern in der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas gegenüber ihren eigenen Kindern so gewaltvoll sind: Sie wollen das ewige Leben ihrer Kinder sichern. Eltern, die selbst bei den Zeugen Jehovas aufgewachsen sind – und das ist die überwiegende Mehrheit – haben zudem meist auch selbst eine Kindheit erlebt, in der eine Identitätsentwicklung einschließlich Autonomieerwerb nur eingeschränkt möglich war. Sie konnten nicht lernen, für sich selbst Entscheidungen zu treffen oder für ihre eigene Meinung einzustehen. Von der Organisation selbst wie ein Kind behandelt, gehorchen sie den „Empfehlungen“ der Leitung. In dieser Situation können sie ihre beschützende Rolle gegenüber den eigenen Kindern oft nicht wahrnehmen.

3.2 Körperliche und sexuelle Gewalt

Teilnehmende der Zürcher Studie geben an, dreimal so viel körperliche Gewalt erlebt zu haben wie die Allgemeinbevölkerung. Bis zur Jahrtausendwende wurde körperliche Gewalt befürwortet und war stark verbreitet in der Organisation. Unverändert ist jedoch auch heute die Erwartung an die Eltern, ihre Kinder zu absolut angepassten Mitgliedern der Gemeinschaft zu erziehen. Die Qualifikation für geistliche Ämter hängt auch davon ab, ob ein Mann seine Familie unter Kontrolle hat. So werden Väter, deren Kinder eine ADHS-Diagnose haben, beschämt, wenn sie wiederholt gebeten werden, ihr Kind während der Zusammenkunft ruhig zu halten. Eltern befinden sich deshalb in einer Zwickmühle zwischen den Erwartungen der Gemeinschaft und den Bedürfnissen der Kinder. Auch emotionale Gewalt hat jedoch schwerwiegende Folgen für Kinder.

Tiefere Werte als in der Allgemeinbevölkerung ergaben sich zu körperlicher Vernachlässigung. In der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas gibt es eine hohe soziale Kontrolle und die Tendenz, sich gegenseitig bei der Erfüllung der gestellten Anforderungen zu unterstützen. Das beinhaltet auch die physische Versorgung der Kinder. Weil Zeugen Jehovas ein adrettes Erscheinungsbild wichtig ist und das einzelne Mitglied jederzeit als solches zu erkennen sein sollte, wird auf ordentliche Kleidung und Ernährung der Kinder Wert gelegt.

In der Zürcher Studie fallen die hohen Werte zu sexualisierter Gewalt gegen Kinder auf. Die Befragten erlebten drei Mal häufiger sexualisierte Gewalt als Menschen der deutschen Allgemeinbevölkerung. Viele Ratsuchende berichten JZ Help von erlebter sexualisierter Gewalt, sexuelle Übergriffe in der Kindheit kommen auch in vielen Berichten Ehemaliger vor.

Diese Häufung von sexuellen Übergriffen gegenüber Kindern innerhalb der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas deckt sich auch mit den Erkenntnissen der Studie der australischen Royal Commission aus dem Jahr 2015. Sie lieferte konkrete Zahlen zum verheerenden Ausmaß sexualisierter Gewalt gegen Kinder innerhalb der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas.

Die hohe Gefährdung von Kindern innerhalb der Zeugen Jehovas bezüglich sexualisierter Gewalt hat in erster Linie mit organisationalen Vorgaben zu tun, die Täter auf Kosten der Opfer schützen. Zur Verbreitung sexualisierter Gewalt gegen Kinder tragen aber auch das patriarchale System, der geforderte absolute Gehorsam und das Beschämen als Mittel zur Disziplinierung bei. Grundsätzlich lernt ein Kind, dass es niemals genügt und nicht in Ordnung ist, so wie es ist. Das alles schwächt Kinder und spielt Tätern in die Hände.

3.3 Psychische Gewalt

Die Vereinnahmung und Isolation durch die Gemeinschaft hat schwerwiegende Folgen für Kinder. In der Zürcher Studie hatten Ausgestiegene sechsfach höhere Werte bei emotionalem Missbrauch und emotionaler Vernachlässigung in der Kindheit im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung. Es können vier Faktoren psychischer Gewalt ausgemacht werden: Das sog. Blutverbot, die systematische Verängstigung von Kindern, erlebte und angedrohte Ächtung und Kontaktabbruch, sowie Überforderung und unangemessene Forderungen.

„Blutverbot“

In keiner anderen Situation wird deutlicher, wie die Wachtturm-Organisation die beschützende Rolle der Eltern unterminiert wie beim sog. Blutverbot. Eltern sollen, so die Vorgabe, ihre Kinder vor einer «Bluttransfusion schützen». Es ist für Kinder verstörend zu wissen, dass ihre Eltern ihren Tod der Gabe einer Bluttransfusion vorziehen sollten. Auch die Eltern kommen durch diese Forderung in enorme Nöte. Dass ein Kind eine Bluttransfusion braucht, ist eine eher seltene Extremsituation. Das Prinzip jedoch zieht sich durch das ganze Leben von Eltern und Kinder: Die Anforderungen der Organisation kommen immer vor den Bedürfnissen der Kinder und die Eltern müssen das unterstützen, wenn sie für ihre Kinder und sich selbst ewiges Leben wollen.

Verängstigung

Im rechtskräftigen Urteil von 2019 bestätigt das Züricher Bezirksgericht, dass die Aussage, „Kinder erleben eine permanente Angst“ der Wahrheit entspricht: Böse Geistermächte, die Menschen schaden, ein nahe bevorstehender weltweiter Genozid, den nur wenige überleben werden, wiederkehrende Berichte über grausame Verfolgung von Zeugen Jehovas verbunden mit der Warnung, dass Verfolgung bald auch Gläubige in demokratischen Rechtsstaaten treffen könnte – so sieht die Welt aus, die kleine Zeugen Jehovas kennenlernen. Eine Zusammenstellung von Gewaltdarstellungen aus Wachtturm-Medien für Kinder ist so gewaltvoll, dass das YouTube- Video mit einem Warnhinweis versehen werden muss.

Dass Vernichtung keine leere Drohung ist, lernt jedes Zeugen-Jehovas-Kind durch die Praxis von Ausschluss und verordnetem Kontaktabbruch. Es erlebt das Verschwinden von Menschen – sei es die eigene ältere Schwester oder der Vater eines Freundes – verbunden mit großer Trauer der Angehörigen. Diese praktizierte soziale Auslöschung von Menschen macht die angedrohte physische Auslöschung bei Harmagedon noch realer.

Ächtung und Kontaktabbruch

Durch Ächtung verlieren manche Kinder Elternteile oder Geschwister, s. dazu dieses Video. Kinder und Jugendliche sind aber auch selbst Ziel von Ächtung, wie das Zürcher Bezirksgericht 2019 in seinem rechtskräftigen Urteil bestätigte. Die Ächtung von Minderjährigen war für Norwegen einer der Gründe, der Religionsgemeinschaft die staatlichen Gelder und die Registrierung zu streichen. Welche Verheerungen verordnete Ächtung in Familien und Leben anrichtet, berichten Betroffene in diesem Video.

Für gläubige Zeugen Jehovas hat Loyalität gegenüber Jehova und seiner Organisation höchste Priorität. Eine verhängnisvolle Deutung von Loyalität ist, dass im Interesse des höchsten Gutes – ewiges Leben im Paradies – jede jeden verraten muss. Das ist verheerend für die Eltern-Kind-Beziehung und auch die Freundschaften von Teenagern. In einer Zeit, in der Jugendliche höchst vulnerabel sind und ihre Identität erst finden müssen, ist es essentiell, dass sie sichere Bezugspersonen haben. Das können die Eltern sein, oft sind es auch gleichaltrige Freunde. Gerade in der Adoleszenz können sich diese Vertrauensbrüche verheerend auswirken und dazu führen, dass Kinder sich immer mehr in sich selbst zurückziehen.

Überforderung und unangemessene Forderungen

Psychische Gewalt erleben Kinder nicht nur durch die chronische Überforderung durch religiöse Aktivitäten, sondern auch durch unangemessene Forderungen, die an sie ergehen. Sei das, weil die Anforderungen nicht altersangemessen sind oder das Kind in eine vulnerable Situation bringen.

So werden etwa Neugeborene zu späten Zusammenkünften mitgenommen noch bevor sie einen stabilen Schlafrhythmus entwickeln können. Oder es wird erwartet, dass Vorschulkinder anderthalb Stunden in den Zusammenkünften stillsitzen, in denen es häufig um verstörende Inhalte geht. In einem Kindervideo der Wachtturm-Organisation ist die kleine Sophia in der späten Versammlung eingeschlafen, draußen ist es bereits dunkel. Es werden aber nicht die Eltern für ihre mangelnde Fürsorge getadelt, vielmehr belehrt der Vater die Kinder: Wer nicht aufpasst, stirbt wie damals die Ungläubigen in der Sintflut.

Kinder sollen nach einem getakteten Zeitplan Versammlungen besuchen, Literatur studieren und missionieren, während sie gleichzeitig kaum Zeit haben für Hausaufgaben, Sport, Kreativität und Muße. So wie ihre Eltern zu nichtangemessenem Verhalten den Kindern gegenüber gedrängt werden, verlangen die Eltern nichtangemessenes Verhalten von ihren Kindern, etwa durch die geforderte Selbstisolation oder auch durchs Missionieren. So sollen auch Kinder den Kontakt zur Außenwelt möglichst einschränken und auf alles verzichten, was mit religiösen Aktivitäten kollidiert oder zu viel Kontakt mit „weltlichen“ Menschen oder Inhalten bedeutet. Auch in der Schule bleiben Zeugen-Jehovas-Kinder bei den sozial besonders wichtigen Anlässen wie Geburtstagsfeiern meist außen vor. Alle diese Elemente ergeben eine ziemlich umfassende Isolation von Kindern und Jugendlichen und tragen erheblich zu einem Gefühl von Verunsicherung und Hilflosigkeit bei.

3.4 Psychische Vernachlässigung

Das Aufwachsen bei den Zeugen Jehovas schneidet Kinder von ihrem inneren Erleben ab, da viele ihrer Bedürfnisse, Gefühle oder Gedanken von ihren Eltern nicht validiert werden oder sogar abgewertet werden müssen. Nur so kann das Erleben mit der Ideologie der Gemeinschaft in Übereinstimmung gebracht werden. Gleichzeitig wird das erfahrene Leid der Kinder negiert oder verharmlost. Überzeugungen wie „Meine Bedürfnisse sind nicht wichtig“ oder „Es war nicht so schlimm“ bleiben auch nach dem Verlassen der Gemeinschaft oft lange erhalten und können die Inanspruchnahme von Unterstützung erschweren.

Gaslighting, Beschämung und Bestrafung

In der rigiden Ordnung, in der Kinder aufwachsen, lernen sie schnell, sich einzufügen. Damit Mama, Papa und Jehova sich freuen und das Kind weiterhin lieben, muss es gehorchen. Seine Bedürfnisse sind zweitrangig und sein Leid wird verharmlost.

Vieles, was kleine Zeugen Jehovas als Realität akzeptieren sollen (Jehova, Satan, Engel, Dämonen, Paradies …), können sie weder mit ihren fünf Sinnen noch mit Logik erfassen. Gleichzeitig können gläubige Eltern keinen Zweifel zulassen – weder bei sich noch bei den Kindern. Kinder lernen so, dass sie sich nicht auf die eigene Wahrnehmung und Logik verlassen können. Vielmehr sind sie angehalten, immer nach Schlechtem oder Bösem im eigenen Ich zu suchen. Wenn sie später in der Adoleszenz auf ihrer eigenen Wahrnehmung bestehen, kann ihnen Stolz oder rebellisches Denken vorgeworfen werden.

Auch Gefühle können nicht als wichtige Informationsquelle genutzt werden. Das Kind lernt, dass eigene Gefühle täuschen und gefährlich sind, sofern sie nicht mit der Doktrin übereinstimmen: Gott muss geliebt werden, auch wenn er grausame Dinge tut. Die böse Welt muss gehasst werden, auch wenn das Kind Mitschüler oder Lehrerinnen nett und liebenswert findet. Geburtstagsfeiern sind böse, auch wenn sie harmlos und schön wirken. Missionieren in der Schule kann sich schrecklich anfühlen – und bleibt trotzdem lebensrettend (für das Kind und die Missionierten). Eine Freundin in der Schule kann keine gute Freundin sein.

Kinder, die häufig einen Konflikt zwischen ihren Gefühlen und den Anforderungen ihrer Eltern erleben, können zu dem Schluss kommen, mit ihnen stimme etwas nicht. In letzter Konsequenz kann diese fehlende Validierung der Gefühle so weit führen, dass ein Gemeindemitglied sein normales menschliches Verhalten (wie das Ausrücken von Zweifeln, Kritik an der Leitung oder das Ausleben seiner sexuellen Identität und Orientierung) als „Sünde“ und eine dafür verhängte Bestrafung als „liebevolle Zuchtmaßnahme“ akzeptiert. Ein lang andauernder Beschämungsprozess kann eigene Impulse mit Schlechtigkeit verbinden, so dass sich die Person jetzt selbst verachtet, satt gerechtfertigten Ärger über die erfahrenen Grenzverletzungen zu empfinden.

Fehlende Unterstützung und Förderung der Entwicklung

Weil Eltern sich aus Sorge um das ewige Leben der Kinder nicht von den Vorgaben der Leitung lösen können, ist es ihnen nicht möglich, sich auf die Kinder einzustimmen und ihnen damit das Gefühl zu geben, gesehen und gehört zu werden. Kinder können deshalb ihre Bedürfnisse mit ihren Eltern nicht wirklich verhandeln. Normale Wünsche werden als „weltlich“, unmoralisch oder selbstsüchtig abgetan.

Dazu kommt, dass Kindern Rollenmodelle fehlen. In der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas erleben sie keine Vorbilder für eigenständige Problemlösungs- und Entscheidungsprozesse oder für eine gute Streitkultur. Erwachsene, die sie schätzen und denen sie vertrauen, benehmen sich in Fragen, welche die Leitung als relevant bezeichnet, nicht selbstbestimmt. Sie verzichten auf eigenes kritisches Denken, lassen andere für sich entscheiden und gehorchen.

Die Endzeiterwartung der Zeugen Jehovas macht zudem eine normale Zukunftsplanung scheinbar unnötig. Da das Ende so nahe sei, soll die gesamte Energie auf die wirklich wichtigen Dinge fokussiert werden – nämlich die von der Leitung definierten Ziele. Eigene Ziele zu verfolgen, gilt nicht nur als kurzsichtig, sondern tendenziell auch als Zeichen von Stolz, Egoismus und Materialismus. Universitäten sind ebenso verpönt wie Berufe, die in irgendeiner Weise mit gottesdienstlichen Zeiten kollidieren könnten oder Karrierepläne in den Bereichen Sport und Kunst. Verängstigte Eltern, die um das ewige Seelenheil ihrer Kinder fürchten, werden sich nicht auf die Wünsche der Kinder einlassen können – und auch wenig geneigt sein, auf Argumente Außenstehender, etwa eines Lehrers oder einer Psychologin, zu hören.

Genauso ungehört und einsam bleiben Jugendliche, die eine andere als die von der Leitung der Zeugen Jehovas anerkannte sexuelle Identität oder Orientierung aufweisen. Und auch Jugendliche, die Zweifel oder Kritik an der Leitung äußern, werden, völlig unabhängig von vorgebrachten Argumenten, meist nicht von ihren Eltern gehört oder gar unterstützt. Ihre eigene Angst und Unsicherheit hindern Eltern daran, sich auf die Bedürfnisse ihrer Kinder einzustimmen und deren eigenständige Entwicklung zu unterstützen und zu fördern.

Ein ganz normaler Ablöseprozess von den Eltern durch das Entwickeln einer eigenen (sexuellen) Identität ist unter diesen Bedingungen kaum möglich. Wenden sich bereits getaufte Kinder vom Glauben ab, werden sie in der Regel geächtet. Anstatt die Kinder in dieser besonders vulnerablen Entwicklungsphase zu begleiten, kommt es in der Adoleszenz oft zu einem Bruch zwischen Eltern und Kindern.

3.5 Fazit

Die schlechte körperliche und psychische Gesundheit der ehemaligen Zeugen Jehovas in der Zürcher Studie sind vermutlich nicht nur eine Folge von verordneter Ächtung sowie des Zusammenbruchs des gesamten Wertesystems. Die Studie macht deutlich, dass es im Leben der Mehrheit der befragten ehemaligen Zeugen Jehovas potenziell traumatisierende Erfahrungen gegeben hat: Die meisten Betroffenen berichten von emotionaler Vernachlässigung und emotionaler Misshandlung, viele von körperlicher Misshandlung und sexualisierter Gewalt. Die meisten Betroffenen berichten von verordnetem Kontaktabbruch.

Das deckt sich mit den Erfahrungen von JZ Help: Betroffene, die sich an uns wenden, weisen häufig Anzeichen einer Traumatisierung auf. Die Studie zeigt überdies bei Ausgestiegenen eine weit über dem Durchschnitt der Allgemeinbevölkerung liegende Häufigkeit von chronischen körperlichen und psychischen Erkrankungen sowie ein deutlich höheres Stresslevel.

All das könnte darauf hindeuten, dass mögliche Traumatisierungen bei Ausgestiegenen bisher noch nicht ausreichend erkannt und behandelt worden sind. Das kann auch damit zu tun haben, dass es für Therapeut:innen und andere Fachpersonen nicht einfach ist, die erlebte Gewalt zu erkennen. Aus diesem Grund bietet JZ Help Weiterbildungen für Therapeut:innen und andere Fachpersonen an.

4. Unterstützung von und für betroffene (Fach-)Personen / Unterstützung für Betroffene und Angehörige

Das Beratungsteam des Vereins JZ Help unterstützt sowohl Betroffene als auch Angehörige. Wir beraten und begleiten Betroffene rund um den Ausstiegsprozess und bieten auch Unterstützung für Menschen, welche die Gemeinschaft schon lange verlassen haben. Melden Sie sich über hilfe(at)jz.help.

Unterstützung für Fachpersonen

Nicht nur Betroffenen hilft es, die psychologischen Wirkmechanismen von vereinnahmenden Gemeinschaften zu verstehen, auch für Fachpersonen ist das wichtig. JZ Help bietet Informationen und Beratung für Fachpersonen aus den Bereichen Medizin, Psychologie, Pädagogik, Rechtswesen, soziale Arbeit und Jugendhilfe. Für Therapeut:innen und auch andere Berufsgruppen bietet JZ Help Online-Kurse an, Kontaktaufnahme über hilfe(at)jz.help.

Wie Sie helfen können – Steuern Sie Ihren Ausstiegsbericht bei!

Der Verein JZ Help sammelt Ausstiegsberichte, sogenannte ÜberLebenswege. Unterdessen umfasst die Sammlung 80 Berichte von Menschen, welche die Wachtturm-Organisation verlassen haben. Wenn Sie selbst betroffen sind, freuen wir uns, wenn auch Sie Ihre Geschichte erzählen mögen! Diese Berichte von Betroffenen sind wichtig, etwa um politischen Akteurinnen und Behördenvertretern aufzuzeigen, wie im Namen von Glauben und Weltanschauung Gewalt gegen Menschen ausgeübt wird.

Wie Sie helfen können – Werden Sie Mitglied!

Werden Sie Mitglied von JZ Help – unabhängig davon, ob Sie von Zeugen Jehovas betroffen sind oder nicht. Sie können sich aktiv an Aktionen beteiligen oder Aussteigerinnen und Aussteiger unterstützen. Auch wenn Sie selbst nicht aktiv werden möchten, leisten Sie durch Ihre Mitgliedschaft (ab 10 Euro jährlich) einen wichtigen Beitrag: Je mehr Mitglieder wir sind, desto lauter können wir sprechen.

Fußnoten

[1] In dieser Broschüre wird von 17.5 Stunden Aufwand für religiöse Tätigkeiten gesprochen:
Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft Deutscher Zweig, e. V. (1995), Hg. Jehovas Zeugen. Menschen aus der Nachbarschaft. Wer sind sie? Selters und Taunus: Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft.

Hier geht's zum Originalartikel...

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