Zeugen Jehovas und Corona-Harmagedon

Die Folgen für Zeugen Jehovas-Betroffene

Zeugen Jehovas und Corona-Harmagedon

Foto: Pixabay.com / Mysticsartdesign

Menschen mit Zeugen Jehovas-Vergangenheit sind auf die Katastrophe, auf Harmagedon hinsozialisiert worden. Wenn eine reale Krise auftritt, erleben die meisten noch stärkere Ängste als andere Betroffene. Hier findest du Fakten gegen Ängste! Und ein paar Gedanken dazu, wie die aktuelle Situation (ehemalige) Zeugen Jehovas zusätzlich betreffen kann.

Hilfreiche Fakten

Die Corona-Krise stellt eine enorme Herausforderung dar: Für die Älteren unter uns und jene mit gesundheitlichen Belastungen kann eine Erkrankung sehr gefährlich sein, alle müssen wir uns neu organisieren und viele von uns fürchten um ihre wirtschaftliche Existenz – wir erleben eine absolute Ausnahmesituation. Viele (ehemalige) Zeugen Jehovas dürften sie jedoch als noch krisenhafter erleben.

Hast Du Angst?

- dass das Coronavirus SARS-CoV-2 und die damit verbundene COVID-19-Pandemie („Seuche“), eine Bestätigung ist, dass wir in den letzten Tage leben (Lukas 21:11; 2. Timotheus 3:1-5)?

- dass Lebensmittelknappheit ein Zeichen für die letzten Tage ist (Matthäus 24:7; Lukas 21:11; Offenbarung 6:5, 6)?

- COVID-19 eine Bestätigung ist, dass der apokalyptische Reiter des fahlen Pferdes unterwegs ist (Offenbarung 6:8)

Hier einige Fakten!

Vier Beispiele, die verdeutlichen, dass wir weder in den letzten Tagen noch in einer schlechter werdenden Welt leben:

1. Hungersnöte
2. Armut
3. Naturkatastrophen
4. Allgemeine (Verschlechterung der) Lebensbedingungen

1. Hungersnöte:

Es gibt weder eine über die Jahre zunehmende Lebensmittelknappheit noch zunehmende Hungersnöte.

Hungersnöte seit den 1860ern und Anzahl der Verstorbenen

Kernaussage

- Hungersnöte kommen und gehen. Keineswegs lässt sich seit den 1860ern – und schon gar nicht seit 1914 – ein Anstieg nachweisen. Im Gegenteil, insbesondere im Verhältnis zur Entwicklung der Weltbevölkerung, zeigt sich ein eindeutiger Rückgang an Hungersnöten.

Jährliche Sterberate aufgrund von Hungersnöten

Kernaussage

- Hungersnöte kommen und gehen. Keineswegs lässt sich seit den 1860ern – und schon gar nicht seit 1914 – eine Zunahme der jährlichen Sterblichkeit nachweisen. Im Gegenteil, es zeigt sich ein eindeutiger Rückgang der Sterberate!

Was sagen hingegen Jehovas Zeugen?

…DER REITER DES SCHWARZEN PFERDES

[…] Dieser Reiter steht für Hunger. […]

Gibt es Beweise dafür, dass der Reiter des schwarzen Pferdes seit 1914 unterwegs ist? Absolut! Man schätzt die Zahl der Hungertoten im 20. Jahrhundert auf 70 Millionen! In einem Bericht hieß es: „Mehr Menschen sterben jährlich an Hunger als an Aids, Malaria und Tuberkulose zusammen.“ In einem anderen Bericht hieß es, dass „805 Millionen Menschen — rund jeder Neunte der Weltbevölkerung — im Zeitraum von 2012 bis 2014 chronisch unterernährt waren“. Trotz vieler aufrichtiger Bemühungen, die Lage zu verbessern, stürmt der Reiter des schwarzen Pferdes unaufhaltsam weiter.“

 Die vier Reiter der Apokalypse: Wer sind sie? (JW.ORG)

- Falsch: Es scheint, der Reiter des schwarzen Pferdes hat sich mächtig vergaloppiert. 😊

2. Armut

Wahrnehmung und Realität stimmen nicht überein. Die Realität zeigt eindeutig: Armut nimmt weltweit ab.

Die öffentliche Wahrnehmung hinsichtlich der Änderung globaler Armut

Kernaussage

- Laut Wahrnehmung (insbesondere in „reichen“, „westlichen“ Staaten) hat der Anteil der Menschen in extremer Armut in den letzten 20 Jahren zugenommen. Allerdings: dies ist FALSCH.

- Die konträre Realität zur mehrheitlichen Wahrnehmung zeigt sich in der nächsten Abbildung.

Anzahl der Menschen in Armut

Kernaussage

- Die weltweite Armut hat absolut und insbesondere in Relation zur Weltbevölkerung stark abgenommen.

3. Naturkatastrophen und Seuchen

Entgegen diverser Verlautbarungen, dass Erdbeben & Co. zunehmen: Dies ist eindeutig falsch!

Die Entwicklung von Pandemien (Seuchen)

COVID-19 Pandemie: Stand 24.03.2020

Kernaussage

- Seuchen / Pandemien kommen und gehen seit hunderten von Jahren. Wir müssen sie ernst nehmen. Wissenschaft trägt dazu bei, sie zu erforschen und uns zu schützen.

Jährliche globale Sterblichkeit aufgrund von Naturkatastrophen

Kernaussage

- Die Sterblichkeitsrate ist seit Beginn des letzten Jahrhunderts eindeutig rückläufig.

Anzahl der Tode verursacht durch Erdbeben

Kernaussage

- Erdbeben sind singuläre Ereignisse. Ein Trend bzgl. Zu- oder Abnahme lässt sich nicht nachweisen.

Was sagen Jehovas Zeugen?

Die Antwort der Bibel

Die Bibel beschreibt Ereignisse und Zustände, an denen der „Abschluss des [gegenwärtigen] Systems der Dinge“ — auch bekannt als „Ende der Welt“ — zu erkennen wäre (Matthäus 24:3, Einheitsübersetzung). Die Bibel nennt diese Periode „Zeit des Endes“ oder auch „letzte Tage“ (Daniel 8:19; 2. Timotheus 3:1). Hier einige herausstechende Merkmale der Endzeit:
[…]
– schwere Erdbeben (Lukas 21:11)
– Seuchen und Epidemien (Lukas 21:11)
[…]

Was ist das Zeichen der “letzten Tage”? (JW.ORG)

- Nichts deutet auf obige Annahmen hin!

Weltweite Sterberate durch Naturkatastrophen

Kernaussage

- Naturkatastrophen verzeichnen viele Tote. Eine Tendenz hinsichtlich Verschlechterung seit den letzten Jahrzehnten lässt sich nicht erkennen. Im Gegenteil! Verbesserungen der Lebensbedingungen (siehe 4.Allgemeine Lebensbedingungen), Hygiene, stabilere Wohnhäuser und, und, und… tragen dazu bei.

Sterblichkeit durch Naturkatastrophen i.V.z. allg. Sterblichkeit

Kernaussage

- So schlimm Tode durch Naturkatastrophen sind. Die Anzahl im Vergleich zu allgemeiner Sterblichkeit schwankt zwischen 0 bis 0,4%!

4. Allgemeine Verschlechterung der Lebensbedingungen

Nichts deutet auf eine Verschlechterung der Welt, hingegen ALLES auf eine Verbesserung (Statistische Schwankungen und Einzelschicksale bedeuten nicht das Gegenteil)

Global Ungleichheit der Lebensbedingungen (bei gleichzeitiger Entwicklung über die Zeit; 1800 – bis heute)

Kernaussage

- Es gibt nach wie vor starke globale Unterschiede der Lebensbedingungen, ABER: in allen Bereichen haben sich die Zustände seit 1800 kontinuierlich enorm verbessert.

Ursachen der Sterblichkeit

Kernaussage

- Muss wirklich insbesondere die Anzahl der Toten durch Naturkatastrophen (Natural disasters) herausgestellt werden?
Naturkatastrophen stehen an letzter Steller in obiger Grafik!

Bevölkerungsanteil mit Zugang zu Grundbedürfnissen

Kernaussage

- Die Lebensbedingungen der Menschen verbessern sich kontinuierlich. Wir leben global gesehen in einer stetig besseren Welt.

Entwicklung der Lebenszeit seit Beginn der Neuzeit

Kernaussage

- Ist der globale Anstieg der allgemeinen Lebenserwartung nicht durchaus positiv?

Menschen mit Zeugen Jehovas-Vergangenheit sind vulnerabler

Zeugen Jehovas werden auf das Weltende hinsozialisiert. Ihr Lebenszweck ist Harmagedon zu überstehen, die große Endschlacht, in der Jehova die Ungläubigen aber auch die Nicht-genügend-Gläubigen vernichtet.

Sozialisationsziel Weltende

Harmagedon, so die Doktrin, steht unmittelbar bevor, es ist so nah, dass sich höhere Bildung für junge Menschen nicht mehr lohnt und Gläubige stattdessen möglichst viele Menschen «retten» sollen. Für die religiöse Praxis wenden Zeugen Jehovas 17.5 Stunden pro Woche auf – neben Beruf und Familie. Mit anderen Worten: Zeugen Jehovas leben in einem permanenten Ausnahmezustand, die Krisensituation ist sozusagen ihr Default-Modus. Das kommt nicht von ungefähr.

Schon ganz kleine Kinder werden mit Bildern vom Untergang, von Tod und Zerstörung verängstigt. Die Hauptbotschaft von Wachtturm-Medien ist: Sei folgsam, damit du überlebst. Oder anders ausgedrückt: Wenn Du nicht gehorchst, stirbst Du fürchterlich. Oder du verlierst alle Menschen, die du liebst. Und das ist keine leere Drohung. Jedes Zeugen Jehovas-Kind hat erlebt, dass Menschen verschwinden: ein Geschwister, ein Onkel oder gar ein Elternteil, mit denen jeder Kontakt abgebrochen wurde. Zeugen Jehovas-Kindern wird Angst regelrecht ankonditioniert. Angst ist die Grundlage des Glaubens an die Vernichtung und die Folge davon.

In der Versammlung, im Heimbibelstudium oder bei Sommer-Kongressen – es geht es permanent um das bevorstehende Weltende, seit mehr als 140 Jahren. Jede reale Krise wird genutzt um klarzumachen, dass wir in den letzten Tagen leben, gar in den letzten der letzten Tage, so Lett im jüngsten Broadcasting-Beitrag. Reale Krisen scheinen Jahrzehnte geistiger Ausgangssperre zu legitimieren. Und es gab viele Krisen und fürchterliche Kriege – aber kein Weltende. Weder 1914, noch 1925, noch 1975, noch per Jahrtausendende, noch nach dem Tod der 1914 Geborenen.

Seit der Corona-Krise prangt auf der Website der Organisation ein angsteinflößendes Bild der vier apokalyptischen Reiter und es heißt, die Prophezeiung über den Reiter des fahlen Pferdes, der «für Seuchen und Todesursachen» stehe, würden sich erfüllen. Das ist falsch, wie oben ausgeführt wurde.

Bilder von Krankheit und Ansteckung im Sprachgebrauch

Richtig scheint jedoch zu sein, dass für die Wachtturm-Organisation die Corona-Krise eine besonders «gute» Krise ist. Nicht nur, weil die vielen Skandale um Kindesmissbrauch und die aktuellen Untersuchungen dazu in den Hintergrund treten. Sondern auch, weil extreme Sekten häufig über zwei Sektenmerkmale verfügen:
1. Die extreme Beschränkung der Zeit bis zum Weltende. Damit kann man Menschen besonders gut unter Druck setzen und ängstigen.
2. Bilder von Krankheit und Ansteckung. Die aktuelle Pandemie kann von der Wachtturm-Organisation nicht nur als «Zeichen» für die letzten Tage herangezogen werden. Sie verkörpert vielmehr das verseuchte Sündige oder ansteckende Böse, von dem Zeugen Jehovas täglich gewarnt werden.

Das Bild einer großflächigen ansteckenden Erkrankung aktiviert in (ehemaligen) Zeugen Jehovas unvergleichlich mehr negative Bilder, Vorstellungen, Assoziationen und Gefühle als bei anderen Menschen. Es gibt Dutzende von Sprachbildern im Sprachgebrauch der Wachtturm-Organisation rund um Ansteckung und Krankheit. Allein schon der Begriff «Welt» hat, so wie darüber gesprochen wird, etwas Toxisches. Es ist schwer über «Weltmenschen» nachzudenken, ohne leicht zu frösteln, während einem beim Begriff «Abtrünnige» kalte Schauer über den Rücken laufen.

Extreme sektenhafte Gruppen arbeiten mit (Sprach-)Bildern, denen sich Menschen nur schwer entziehen können und instrumentalisieren damit ursprüngliches emotionales Erleben: Alle Menschen fürchten sich vor Krankheit, niemand mag fauliges Essen. So gibt es denn in der Wachtturm-Literatur unzählige Bilder wie das des faulen Apfels, der die anderen Äpfel ansteckt und natürlich für sündiges Verhalten steht, das ansteckend sein soll. Über Abtrünnigkeit wird gesprochen, als wäre sie eine hochansteckende Krankheit, welche zum Tode führt. Abtrünnige werden nicht nur verächtlich behandelt, sondern oft auch wie Todkranke, die sterben werden, beschrieben.

Schlechte Gesellschaft verdirbt nützliche Gewohnheiten.

Du kannst keinen Umgang mit Menschen pflegen, die schlechte Gewohnheiten haben, ohne dass du nachteilig beeinflusst wirst. Die biblischen Grundsätze werden sich auch an dir bewahrheiten. Wie ein fauler Apfel gute Äpfel, zwischen denen er liegt, mit der Zeit ansteckt, so werden Personen, die mit schlechten Menschen Umgang pflegen, von diesen angesteckt. Man kann Gott keine Lüge nachweisen; sein Wort ist Wahrheit. – Joh. 17:17.

Erwachet! vom 8. August 1971, S. 27

Ausgeschlossene/Abtrünnige als geistig Kranke

Angenommen, ein Arzt schärft dir ein, dich strikt von einer Person fernzuhalten, die an einer ansteckenden, tödlichen Krankheit leidet. Dir wäre völlig klar, was der Arzt dir sagen will, und du würdest dich gewissenhaft daranhalten. Über Abtrünnige sagt die Bibel, dass sie „geistig krank“ sind und andere mit ihrem treulosen Gedankengut infizieren wollen (1. Tim. 6:3, 4). Jehova, der beste „Arzt“, rät uns dringend, jeden Kontakt mit ihnen zu meiden. Uns ist klar, was er damit meint. Fragen wir uns: Bin ich fest entschlossen, konsequent auf seine Warnung zu hören?

Wachtturm vom 15. Juli 2011, S. 16

Ausgehend von diesen Bildern muss man schließen, dass bei Zeugen Jehovas permanenter Seuchen-Alarm herrscht: Sünde ist ansteckend und kann viele infizieren. Für Sündeinfizierte wird totale Isolation gefordert, welche sogar ein Grußverbot umschließt. Es gibt für solchermaßen Abgesonderte auch keinerlei Hilfe oder Mitgefühl, in jedem Fall gilt: strikte Meidung. Mit diesen Angesteckten oder gar Todkranken gibt es auch keine Solidarität, denn sie haben den Tod verdient.

Diese Bilder und diese Erfahrungen machen es nicht einfacher, in einer wirklichen Krise Vertrauen zu haben, dass alles gut kommt, dass Solidarität jene auffangen wird, die es nötig haben. Vielmehr ist es absolut verständlich, dass viele (ehemalige) Zeugen Jehovas in der aktuellen Situation großen Stress und Ängste erleben. Auch wenn man die eigene neuronale Vernetzung nicht einfach löschen kann, kann man sie doch verändern, wenn man darüber nachdenkt oder darüber spricht. Das macht man ja auch in einer Psychotherapie, einer Selbsthilfe-Gruppe oder im Austausch mit anderen Betroffenen. Und selbstverständlich sind dabei auch Fakten hilfreich.

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Kommentare

  1. userpic
    S.

    Als jemand, der genau so aufgezogen wurde, wie Sie es nur all zu treffend beschrieben haben und dennoch in Kontakt zu der Familie steht, kann ich nur mit absoluter Bestimmtheit sagen: ja, es ist der Horror. Es ist völlig egal, wie rational man denken möchte, ich bin seit frühester Kindheit auf das Ende vorbereitet worden und mit dem Gedanken konfrontiert, bald zu sterben, denn seit der Pubertät hielt ich es nicht mehr aus, alle Regeln zu befolgen. Nun, in meinen frühen Dreißigern, zweifelt ein Teil in mir noch immer, ob ich noch 35 oder gar 40 werden kann - und der Fanatismus meiner Familien nimmt auch mit politischem Geschehen immer mehr Fahrt auf. Hinter jedem zweiten Prominenten wird ein Satanist gesehen und Reichsbürgertum wird mit den Prophezeiungen der Offenbarung vermischt und so lange gerührt, bis es für sie Sinn ergibt. Ich schaffe es kaum mehr, als am Tag 2,3 Minuten auf mein Handy zu sehen, ohne dass es mir seelisch zusetzt. Zudem habe ich eine Art "depressive Alzheimer" entwickelt, was mein Kurzzeitgedächtnis außer Betrieb setzt. Kaum ein Gedanke bleibt mir im Kopf, wenn ich ihn nicht aufschreibe. Das soll, laut meines behandelnden Arztes, auf eine zu große mentale Belastung zurückzuführen sein. Der Kopf schaltet immer wieder auf und ich muss sagen, an vielen Tagen bin ich dafür dankbar. In meiner unehelichen Partnerschaft finde ich viel Verständnis und das erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit. Ich hoffe, dass viele Menschen diesen Artikel finden und dass er ihnen Hoffnung schenken mag. Vielen Dank.

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