Das Hauptproblem, dass ich mit Religionen habe, bezieht sich auf den damit meist einhergehenden »Glauben«. Da dieses Wort in verschiedenen Bedeutungen verwendet wird, muss ich es zunächst definieren:
Glauben, im wissenschaftlichen wie philosophischen Sinn, bedeutet so viel wie »annehmen, vermuten, für wahr halten, mutmaßen, spekulieren, erwarten, vertrauen«. Wenn ich sage »Ich glaube, der Schlüssel liegt auf dem Tisch«, dann besagt dies: ich nehme an, ich vermute, dass er dort liegt – aber sicher bin ich mir nicht«. Wenn ich keine Zweifel habe, dass er dort liegt, formuliere ich das anders: »Der Schlüssel liegt auf dem Tisch«, oder »Ich weiß, dass der Schlüssel auf dem Tisch liegt«. »Ich glaube« ist also eine Einschränkung der Gewissheit.
Damit wird ein Spektrum an Möglichkeiten ausgedrückt. In der Philosophie wird Wissen so definiert: Wissen ist rational gerechtfertigter Glauben. Es handelt sich um eine »geadelte Vermutung«. Man könnte einen breiten Bogen ziehen von »absoluter Gewissheit« (die kaum möglich ist) über »jenseits eines rational begründbaren Zweifels« oder »mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit« über »begründete Mutmaßung« und »zweifelhaftem Glauben« bis hin zu »haltloser Spekulation«. In jedem Fall reden wir von einem Kontinuum, bei dem die Güte der vernünftigen Argumente für einen Sachverhalt das Qualitätskriterium bilden. Wichtig ist zu bemerken, dass Glauben in dieser alltäglichen, wissenschaftlichen und philosophischen Bedeutung falsch sein kann. Man kann einen kolossalen Irrtum glauben. Der Übergang zwischen Wissen und Glauben ist kontinuierlich – jedes Wissen basiert auf Vermutungen, die man mal mehr, mal weniger gut vernünftig zu rechtfertigen sind.
Dieser breiten Streuung steht ein Gegensatz gegenüber: der religiöse Glauben. Dieser kennt keine Ausprägungen, entweder, man glaubt es, oder nicht. Zweifel gibt es, Verunsicherung, dann tritt das sonst übliche Moment der »Glaubensgewissheit«, der starken subjektiven Überzeugung, in den Hintergrund. Per Definition ist der religiöse Glauben eine »nicht rational gerechtfertigte Vermutung«.
Rational (Synonym: vernünftig) hat die folgende Bedeutung: Wenn wir uns zwischen mehreren Alternativen, die ein Problem lösen, für das entscheiden, dass das Problem besser löst als die konkurrierenden Alternativen, unter Berücksichtigung der Folgewirkungen, dann ist das rational. Der Gegensatz zu rational ist irrational, nämlich eine andere Möglichkeit als die optimale zu bevorzugen. Anders ausgedrückt: Das Gegenteil von Vernunft ist Beliebigkeit (Irrationalität, Unvernunft).
Nehmen wir an, wir testen einen sechsseitigen, unwuchtigen Würfel. Wir haben in langen Testreihen herausgefunden, dass die Wahrscheinlichkeit, dass eine »Eins« fällt, 20% beträgt, statt 16,666...% wie bei einem ausgewogenen Spielwürfel. Die anderen Seiten fallen zu 16%. Wenn wir jetzt wetten sollen, welche Zahl beim nächsten Wurf fällt, dann ist es rational, die »Eins« zu wählen, die Auswahl jeder anderen Zahl ist irrational. Hätten wir eine zweite Fläche, die auch mit 20% Wahrscheinlichkeit oben liegt, dann wäre es auch in vernünftiger Hinsicht beliebig, eine der beiden Seiten willkürlich auszuwählen!
In logischer Hinsicht ist »rational gerechtfertigter Glauben« das genaue Gegenteil zu »rational nicht gerechtfertigtem Glauben«. Wissen ist nicht religiöser Glauben! Beides schließt sich wechselseitig aus. Wir haben außerdem auf der einen Seite ein Spektrum, von schwach bis stark begründet, auf der anderen Seite fehlt die Begründung.
Nicht alles, was in den Religionen geglaubt wird, ist »religiöser Glauben« in dem von mir definierten Sinne. Der Glauben an einen Schöpfergott jedoch ist »nicht rational gerechtfertigt«. Das liegt daran, dass es keine gültigen Argumente für einen Gott gibt. Das wird oft sogar mit der Bemerkung ausgeschlossen, dass es keine Beweise für Gott geben könne. Im Christentum waren daher die Gottesbeweise von jeher umstritten, weil sie den Glauben – eine »Tugend« – durch Wissen ersetzen würden, das nicht als tugendhaft angesehen wird.
Während auf der wissenschaftlichen Seite die Güte der Argumente eine Rolle spielt, die Nachvollziehbarkeit, die Prüfbarkeit, die Kritisierbarkeit, die Widerlegbarkeit, das Abwägen von Für und Wider, die Beobachtungen, allgemein zugänglichen Erfahrungen, die kollektiv zu einem sich im Laufe der Zeit akkumulierenden Wissensnetz summieren, ist die Quelle des religiösen Glaubens das subjektiv geprägte Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der Aussagen eines anderen. Der Andere weiß jedoch nicht, sondern glaubt ebenso. Wissen ist objektiv, d. h., vom Standpunkt des einzelnen Individuums unabhängig oder invariant, während auf der anderen Seite eine rein subjektive Überzeugung steht. Glauben akkumuliert nicht, man fängt im Grunde genommen immer von vorne an.
Hier haben wir einen ersten kleinen Widerspruch: Realität ist objektiv – die beste Definition stammt von Phillip K. Dick: »Realität ist das, was übrig bleibt, wenn man aufhört, daran zu glauben«. Wenn Gott existiert, muss er Teil der Realität sein. Eine Einbildung kann keine Realität erschaffen, nur eine vorhandene beeinflussen. Aber man muss eine subjektive Überzeugung gewinnen, deren Grundlage nicht die Realität Gottes ist, sondern die sich auf subjektive Überzeugungen eines Anderen stützt. Gott existiert objektiv, kann aber mit den Methoden der Analyse subjektunabhängiger Gegebenheiten nicht erfasst werden.
Glaubwürdigkeit ist zudem ein nicht recht passendes Kriterium, weil es zum einen unsicher ist – wir sind notorisch schlecht darin, einen Lügner zu identifizieren. Lüge in diesem Sinne heißt nicht »die Unwahrheit sagen«, sondern etwas anderes zu erzählen, als man selbst glaubt. Zum anderen kann man von einem Irrtum überzeugt sein und diesen glaubwürdig vertreten, es ist keine Lüge zu erkennen. Hier liegt leicht eine völlig falsche Schlussfolgerung vor: Ich bemerke bei X keine Lüge, also muss er die Wahrheit sprechen! Das ist deswegen falsch, weil der andere einen Irrtum oder eine Lüge glauben kann. Die Stärke seiner Überzeugung ist ebenso wenig ein Kriterium für Wahrheit wie bei mir.
Das Hauptproblem besteht jedoch darin, dass man versucht eine Art »epistemisches Gleichgewicht« zu schaffen, in der Art: Meine subjektive, rational nicht gerechtfertigte Überzeugung ist dasselbe wie Dein rational gerechtfertigter Glauben, weil beides auf Glauben beruht! Das ist ein linguistischer, intellektuell unredlicher Trick: beides trennt Welten, es handelt sich um Gegensätze. In der Diskussion mit Gläubigen begegnen wir diesem Manöver, in dem man den eigenen religiösen Glauben aufwertet und das Wissen abwertet, um einen Gleichstand vorzugaukeln. Kurz, haltlose Spekulationen meist antiker Autoren werden mit kollektiv über Generationen abgesicherten Wissen, das oft mit einigem Aufwand entstand, auf eine Stufe gestellt. Glauben geht mühelos, ohne Anstrengung, Wissen bekommt man nicht so billig.
Die Voraussetzung zum Erwerb von Wissen ist eine Leidenschaft bei der Suche nach der Wahrheit. Fälschlicherweise wird oft ein Gegensatz zwischen Rationalität und Emotionalität gesehen. Aber das Gegenteil von Rationalität ist Irrationalität (oder Beliebigkeit), von Emotionalität Gefühlslosigkeit. Für die Wissenschaft braucht man die eifernde Gefühlslage, das unbedingte Wissenwollen, bei der man die Emotionen, die einem einflüstern, es sei, wie man es sich wünscht, hinten anstellt. Im Glauben ist es umgekehrt, da bevorzugt man, sich den Wünschen hinzugeben, oft nicht weniger inbrünstig. Deswegen wird der Glauben mehr mit Gefühlen in Verbindung gebracht, während man in der Tätigkeit des Forschenden eher eine »kalte Berechnung« sieht. Was man aber sehen sollte ist ein Mensch, der für die Wahrheit alle der Suche entgegenstehenden Emotionen zügelt, weil er seine Leidenschaft für die Wahrheit allem überordnet. Wenn wir sehen, dass jemand sichtlich seinen Hass auf einen anderen zügelt, sprechen wir demjenigen auch nicht die Gefühle ab, sondern sind froh, dass er sie kontrollieren kann!
Übrigens braucht man auch, um rational sein zu können, Fantasie und Kreativität. Wenn man alternative Lösungen untersucht, ist es besser, so viele wie nur möglich zu berücksichtigen. Sonst bleibt man dabei stehen, die »erstbesten« Möglichkeiten abzuwägen. Das ist aber ein »Privileg« des religiösen Glaubens, bei dem man es sich erspart, Alternativen zu berücksichtigen, denn da übernimmt man als Grundlage, was vorgedacht wurde.
Als Einstein sein oft zitiertes Bonmot formulierte: »Wissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion ohne Wissenschaft ist blind«, da meinte er nicht die Religion des Christentums oder eine andere, sondern das Staunen angesichts eines überwältigenden Kosmos. Der Sinn des Zitats ist der: Wissenschaft ohne Staunen ist lahm (denn dem ganzen fehlt die Motivation), Staunen ohne Wissenschaft ist blind (denn Staunen ist erst der Anfang der Erkenntnis, nicht ihr Ende). Staunen ist ebenso eine wichtige, für den Wissenserwerb unerlässliche emotionale Haltung. Nur darf man bei ihr nicht stehen bleiben, sonst wird man blind.
Wissenschaft ohne Gefühle führt zu nichts, aber Staunen alleine ist keine Erkenntnis. Letzteres wird dem religiösen Glauben aber fälschlicherweise zugeschrieben, dabei hat man über seine ersten vagen Eindrücke hinaus keinen Erkenntnisgewinn erhalten.
Religiöser Glauben ist aber noch mehr, was oft übersehen wird: Es handelt sich um eine Art des Gehorsams gegenüber dem Denken anderer. Das ist deswegen der Fall, weil dazu Handlungsvorschriften gehören, die in Form einer Moral kommen. Das gilt vor allem, weil Vieles in der Religion gegen Kritik immunisiert wird. Diese Kritikimmunität ist das Kennzeichen aller Ideologien. Kritische Würdigungen der Religion werden auf mehreren Wegen unterbunden, einer ist der, dass man für den eigenen Glauben einen besonderen Respekt einfordert und auf Einwände mit Gegenvorwürfen reagiert. Etwa, in dem man dem Atheismus einen kämpferischen, militanten, eifernden, fundamentalistischen Missionierungswahn unterstellt. Das ist ganz klar eine Projektion der eigenen Wünsche auf die Handlungen der anderen, man duldet keinen Widerspruch. Und man empfindet diesen bereits eine Beleidigung, weil man keine Belehrung darüber wünscht, keine Erinnerung daran, dass man falsch liegen könnte. Wer andererseits und er Wahrheit interessiert ist, der hört sich die Argumente der anderen an, denn das ist die Gelegenheit, dazuzulernen. Lernen heißt fast immer: einen Irrtum loswerden. Gläubige werden nicht gerne daran erinnert, dass sie eventuell eine Fehleinschätzung leben könnten.
Die zweite Methode der Abwehr von Kritik besteht darin, im Vagen, Unverbindlichen zu bleiben, in Metaphern zu reden, den Worten ungewöhnliche Bedeutungen zu geben. Wenn man nicht genau definiert, was ein »Gott« eigentlich sein soll, dann kann man dem Kritiker immer entgegnen, dass er es falsch verstanden hat, dass seine Argumente nicht den »wahren Glauben« treffen. Auf die Frage, wie es denn nun wirklich sei, kommt dann eine weitere Flut nebulöser Worte: Man hasst es, sich festzulegen. Weil dann die Gegenargumente gezielt angreifen können, man gibt sich aber nicht gerne eine Angriffsfläche.
Jetzt ist es aber so, dass wenn man eine Metapher benutzt, die einen Sachverhalt beschreibt, man dies auch immer wörtlich.konkret ausdrücken kann. Wenn ich sage »Ich stehe in der Kreide« ist das nicht wörtlich gemeint. Vielmehr beschreibt dies einen Umstand: »Ich habe Schulden«. Eine Metapher, oder Symbolik, die einen Sinn enthält, kann man immer auch in Worte fassen, die diesen enthüllen. Kann man das nicht, dann, weil man den Sinn selbst nicht verstanden hat, oder weil man ihn nicht bloßlegen möchte.
Die dritte Methode umfasst alle logischen Tricks, die man benutzen kann, um Kritik abzuwehren. Beispiel: »Es gibt Geister!« – »Ich habe noch nie einen gesehen.« – »Das liegt daran, dass Du nicht empfindsam genug bist!«
Man sieht Geister, wenn man empfindsam (oder »offen«) dafür ist, sieht man keine, beweist dies nichts außer, dass man eben nicht empfindsam genug ist. Die Liste solcher Tricks ist endlos lang, ich will hier nicht alle aufführen. Allen gemeinsam ist, dass man sie leicht umkehren kann. »Es gibt keine Geister!« – »Ich habe aber einen gesehen!« – »Das beweist nichts weiter, als dass Du eine überschießende Fantasie hast«. Man gesteht sich dabei »hinterrücks« eine Art »Erkenntnisprivileg« zu: größere Empfindsamkeit oder das Gegenteil, größer Nüchternheit, wenn man es umdreht. Es wird gerne so getan, als ob »religiöser Glauben« eine besondere Erkenntnis sei, dem Uneingeweihten verschlossen, eine besondere Art des Verstehens. Beliebt ist der Vergleich mit Farbenblinden oder Unmusikalischen.
Dabei ist der einzige Unterschied: Man besitzt keine rationale Rechtfertigung für das, was man glaubt. Rational ist diese Form der Irrationalität oder Sprunghaftigkeit im Denken, die Beliebigkeit, die Inkonsequenz, nicht nachvollziehbar. Das ist die Hauptursache für das »mangelnde Verständnis der Ungläubigen«: Sie können nicht nachvollziehen, wie man auf so eine Idee kommt. Wäre die Idee vernünftig, dann könnte man es – das ist das Echtheitszeichen vernünftiger Vorstellungen. Das ist kein Mangel, auch keiner an »Offenheit«, sondern eine andere Sichtweise, eine eher kollektive statt egozentrierte Perspektive, wobei in ersterer deutlich mehr Arbeit steckt. Der »Sinn« des Glaubens verbirgt sich nicht in den Inhalten, sondern in der Erfüllung der eigenen Wünsche – mehr muss man nicht verstanden haben. Denn die Wünsche lassen sich oft leicht nachvollziehen.
Religiöser Glauben ist beseelt von dem Willen, die Welt so zu sehen, wie man sie sich wünscht, statt so, wie sie ist. Da die Realität selten so ist, wie wir sie uns wünschen, sind beide Sichtweisen so schwer miteinander vereinbar und erscheinen als unversöhnliche Gegensätze.
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