Moral ohne Gott?

Buchbesprechung von Klaus Steiner

Moral ohne Gott?

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Inhalte aus dem Buch werde ich im Konjunktiv verfassen. Antworten oder Erwiderungen, die sich nicht auf das Buch beziehen, kennzeichne ich durch explizite Quellenangaben, welche am Ende als alphabetisch sortierte Literatur aufgeführt werden. Eigennamen (z. B. „GOTT“ oder Namen von Autoren) kennzeichne ich in GROSSBUCHSTABEN.

Dr. Markus WIDENMEYER (M. W.) studierte Chemie und Philosophie, promovierte in Chemie und ist ehrenamtlich bei Wort und Wissen [Anm. d. Red.: Kreationisten in Deutschland] in den Themenbereichen Philosophie und Apologetik tätig.

Vorweg sei der Leser, für den Metaethik „Neuland“ ist, darüber aufgeklärt, dass diese „auf den ersten Blick“ nicht immer einfach zu verstehen ist. Es wird hier ans Eingemachte gehen!

In seinem Buch versucht M. W. die Grundlagen von Moral darzustellen und dabei aufzuzeigen, dass eine objektive Moral nur unter Annahme eines Schöpfers / einer Gottheit möglich sei. Dazu definiert er objektive Moral. Für M. W. sei objektive Moral letztlich kein Produkt der Menschheit, sie sei nichts Natürliches.

Am Anfang erläutert M. W. die in der Ethik gebräuchliche Unterscheidung von Werten und Normen. Dann werden verschiedene metaethische Positionen wie der Non-Kognitivismus, der antirealistische Kognitivismus/Konstruktivismus, die Diskursethik nach APEL und HABERMAS, der metaethische Naturalismus mit seinen verschiedenen Unterteilungen, der moralische Realismus, der gottlose normative Realismus WIELENBERGS und der Platonismus besprochen. Dann folgt eine erkenntnistheoretische Kritik des nichttheistischen moralischen Realismus, eine Diskussion des Kausalitätsproblems, es geht um mathematisches Wissen, prästabilisierte Harmonie, evolutionäre Argumente gegen den nichttheistischen moralischen Realismus, das Problem der Supervenienz moralischer Eigenschaften und um Intelligibilität. Zum Schluss hin folgt eine Verteidigung des personalen moralischen Realismus, bei dem sich M. W. fünf verschiedener Einwände annimmt und versucht, diese klarzustellen. Der letzte Teil beschäftigt sich mit dem theistischen moralischen Realismus und Gott als maximal denkbare Autorität; Gott als intrinsisch vollkommen gut; Gott, das Gutsein der Dinge und dessen Erkennbarkeit; wie Gott intrinsisch und notwendig gut sein kann; und zu guter Letzt geht es um die Qualität des Moralischen.

Objektive Moral

Objektive Moral müsse wahrheitsfähig (wahr oder falsch), universell gültig und notwendig sein (S. 22). Für moralische Nihilisten oder Skeptizisten gäbe es keine objektive Wahrheit in moralischen Fragen (S. 17). Vom Kognitivismus sei die Rede, weil eine Unterscheidung zwischen objektiv berechtigten (wahren) und unberechtigten (falschen) moralischen Urteilen sinnvoll und möglich sein solle (S. 39). Für Non-Kognitivisten gäbe es in der Welt nichts objektiv Moralisches zu erkennen, da moralische Vorstellungen kulturrelativ seien. Darüber hinaus müssten nicht-natürliche Tatsachen und ein übernatürliches Erkenntnisvermögen angenommen werden. Ein bekannter Non-Kognitivist ist J. L. MACKIE, der die Irttumstheorie vertritt (S. 37), welches auch als „Queerness-Argument“ bezeichnet wird. „Queer“ bedeutet seltsam/sonderlich, was sich auf moralische Eigenschaften bezieht (NIEDERBACHER 2021, S. 80). Ich erwähne das, weil es am Schluss nochmal auftauchen wird. Die moralischen Eigenschaften erkläre ich später eingehender.

Antirealisten behaupten, es gäbe keine objektiven Werte (HOFFMANN 2008, Anmerkung 14, S. 51). M. W. spricht vom antirealistischen Kognitivismus (S. 40).

Für den personalen moralischen Realismus sind laut M. W. moralische Tatsachen von Gott abhängig und damit subjektabhängig (S. 135). Gibt es hierbei ein Problem? Durchaus! M. W. will seine Position sicherlich nicht mit dem Subjektivismus, der keine normative Funktion mehr ausübt und dem Menschen keine Orientierung mehr bieten kann (Stütz 2015, S. 198), verglichen wissen. So heißt es in einer Anmerkung „versteckt“: Zumindest aus realistischer Sicht wäre die bloße Pflichtwahrnehmung ohne die Existenz solcher realer, vom wahrnehmenden Subjekt unabhängig existierender Instanzen nicht verpflichtend, objektive Moral wäre in diesem Fall eine Illusion (Anmerkung 283, S. 131). Diesbezüglich habe ich gemischte Gefühle; zum einen ist das ehrlich, andererseits wurde diese Anmerkung sicherlich nicht ohne Grund an den Rand gedrängt. Später heißt es, wenn man „objektiv“ entsprechend über Subjektunabhängigkeit definiert, ist Moral im Rahmen des personalen moralischen Realismus nicht objetivistisch. Dies sei aber kein Sachargument, sondern lediglich eine Wortdefinition, wobei auch ganz andere Definitionen des Wortpaars objektiv/subjektiv möglich und sinnvoll seien (S. 135). An diesem „Ablenkungsmanöver“ merkt man, dass M. W. das Problem des Subjektivismus durchaus bewusst ist.

Würde man sagen, dass die Natur uns moralische Empfindungen gegeben hätte, bräuchte man nach M. W. einen höheren, wirklich objektiven Standard (S. 33). Eine moralische Empfindung, die ausschließlich über rein natürliche Prozesse zustande gekommen wäre, würde uns nicht offenbaren, was wirklich objektiv gut oder böse wäre (S. 34). Das hat bereits David HUME mit seinem Sein-Sollen-Prinzip gezeigt, dass aus einer deskriptiven Aussage über Tatsachen nie eine präskriptive Aussage über ein Sollen abgeleitet werden kann (STAHL 2013, vgl. S. 21 f.).

Metaethischer Naturalismus

M. W. verweist auf den metaethischen Naturalismus. Er teilt diesen in einen konsequenten, in den biologischen metaethischen Naturalismus und in den psychologischen Naturalismus (dieser wird wiederum in den individuellen ethischen Subjektivismus = IES und den kollektiv verrechnenden Subjektivismus = KVS unterteilt, S. 56) auf (S. 52). Die Formulierungen „KVS“ und „IES“ gehen auf C. S. Lewis zurück, auf den sich auch U. MEIXNER bezieht (S. 56). Eine persönliche Nachfrage bei U. MEIXNER ergab, dass beim IES das richtig ist, was aus dem Bewusstseinszustand des Individuums und beim KVS nach einer bestimmten Verrechnungsmethode aus den ethischen Bewusstseinszuständen vieler Individuen auf ein Sollen geschlossen wird. Da bei beiden von einem Sein auf ein Sollen geschlossen wird, läge ein ethischer Naturalismus vor.

Warum werden diese verklausulierten Bezeichnungen verwendet? Ein Grund dafür könnte darin liegen, dass der Leser nicht direkt mit der Nase auf den Vorzug des Naturalismus gestoßen werden soll, der mit der Objektivität der Moral zu tun hat. Damit ist nicht nur die Intuition angesprochen, dass wir mit moralischen Urteilen wahre oder falsche Aussagen formulieren. Vielmehr ist auch gemeint, dass es subjektunabhängige moralische Tatsachen gibt (analog dem „KVS“), welche die Wahrheitsbedingungen dieser Urteile festlegen (RÜTHER 2015, vgl. S. 170).

Anders ausgedrückt, erwerben Menschen im Zuge ihrer Sozialisation eine „zweite Natur“, die ihnen begrifflich strukturierten Tatsachen zugänglich macht (STAHL 2013, vgl. S. 197 f.). Was sind moralische Tatsachen? Laut M. W. sind sie der tiefste Grund dafür, dass Mord und Lüge moralisch falsch, Ehrlichkeit und Liebe moralisch gut sind. Moralische Tatsachen drücken aus, dass etwas sein oder nicht sein soll (S. 11).

Dieser Umstand ist für M. W. problematisch, denn Sozialisation steht zu seiner Auffassung in Konkurrenz (vgl. auch den Absatz „Die Deutung des Gewissen“). Nach M. W. sei unser kognitiver Apparat nicht „rein natürlichen Ursprungs“. Wir seien durch einen „kausaler Input“ mit der von Gott gegebenen Fähigkeit ausgestattet, moralische Wahrheiten, Pflichten und Werttatsachen prinzipiell zuverlässig zu erfassen (vgl. S. 145).

M. W. meint, für den biologischen metaethischen Naturalismus sowie für die evolutionäre Ethik gelte, dass sie nicht die Funktion einer normativen Ethik oder Metaethik erfüllen könnten (vgl. S. 56). Warum das so ist, sagt uns M. W. nicht. RÜTHER klärt darüber auf, dass Naturalisten behaupten müssen, dass natürliche Tatsachen, die für sie die Grundlage der Moral darstellen, normativ neutral sind, da uns natürliche Tatsachen aus sich heraus keine normativen Gründe für unser Handeln vorgeben (RÜTHER 2015, S. 178 f.). Die Evolutionäre Ethik ist keineswegs als Alternative zur philosophischen Ethik zu sehen, sondern als Versuch, in die Ethik als philosophische Disziplin evolutive Gesichtspunkt einzubeziehen (GRÄFRATH 1997, S. 161).

Non-Naturalismus

Eine Gegenposition zum metaethischen Naturalismus stellt der Non-Naturalismus dar. M. W. erwähnt diesen in Bezug auf WIELENBERG, der seine Moraltheorie als nicht-naturalistisch bezeichne (S. 64). Die Tatsache, dass M. W. das Kind - den Non-Naturalismus - nicht explizit beim Namen nennt, hat es mir als Metaethik-Laie sehr erschwert, zu verstehen, was damit gemeint sein könnte. Es ist zu vermuten, dass das Knausern mit Fachtermini in diesem Kontext Programm ist: Hier zeigt sich die von Wort & Wissen sattsam bekannte Verwendung von Nebelkerzen.

Non-Naturalisten gehen zunächst mit dem Supra-Naturalisten davon aus, dass sich moralische Tatsachen weder reduzieren noch eliminieren lassen (RÜTHER 2015, S. 187). „Reduzieren“ meint hier, dass moralische mit natürlichen Tatsachen nicht gleichzusetzen sind. „Eliminieren“ bezieht sich auf den Eliminativismus, der die Nicht-Existenz moralischer Tatsachen behauptet (RÜTHER 2015, S. 186).

M. W. schreibt, eine vergleichbare Situation gäbe es in der Philosophie des Geistes. Philosophen wie D. CHALMERS hätten Argumente geliefert, dass Qualia (Erlebnisqualität unseres Bewusstseins wie z. B. Geruchs-, Schmerz- und Farbempfindungen) nicht auf physikalische Eigenschaften reduzierbar seien (S. 64, S. 128). M. W. fragt sich, ob es auch nicht psychische Zustände (z. B. Schmerzen) geben könne, die selbst objektiv gut oder schlecht sind? In einer gewissen Weise seien sie es (S. 57). Er spricht von einem „liberalen Naturalismus“, der offen bezüglich einer Erweiterung einer strikt materialistischen bzw. physikalistischen Ontologie sei und hält die Position CHALMERS in der Philosophie des Geistes für instabil, weil man Bewusstseinsqualitäten nicht von geistigen Subjekten trennen könne (S. 64). Anders ausgedrückt sehen Non-Naturalisten keinen Grund, dem „Primat der Naturwissenschaft“ zu folgen, stattdessen plädieren Sie für einen erweiterten Begriff des Natürlichen, der auch moralische Tatsachen umfasst (RÜTHER 2015, vgl. S. 187).

Hier muss ich einhaken, da M. W. an dieser Stelle Emergenztheorien unter den Tisch fallen lässt. Eine Theorie mentaler Verursachung kann mit der stärksten Version der Emergenztheorie, der synchronen, ontologischen Emergenz, gewonnen werden (SCHULTE-OSTERMANN 2011, S. 153). Vertreter der ontologischen Emergenz behaupten nicht nur die theoretische Irreduzibilität mentaler Eigenschaften auf die physikalischen Eigenschaften des zugrunde liegenden Systems, für Sie stellen emergente gegenüber physikalischen Eigenschaften etwas vollständig Neues dar, was eine eigene kausale Wirksamkeit besitzt (SCHULTE-OSTERMANN 2011, S. 152). Insofern sich synchrone, ontologische Emergenz belegen lässt, würde sie mentale Verursachung zulassen, aber um den Preis, dass die kausale Handlungstheorie nicht mehr im Rahmen eines rein physikalistischen/naturalistischen monistischen Weltbildes haltbar wäre (SCHULTE-OSTERMANN 2011, S. 157).

M. W. kritisiert, dass in beiden Fällen (IES und KVS) moralische Sachverhalte mit nicht-moralischen Sachverhalten, nämlich mit psychischen Eigenschaften, gleichgesetzt würden, was aber nicht aussichtsreich sei. Die Feststellung solcher Präferenzen gehöre ins Feld einer Sozialpsychologie bzw. einer deskriptiven Ethik, die lediglich beschreibe, welche Präferenzen in einer menschlichen Gemeinschaft faktisch vorhanden seien, und nicht in das Feld einer normativen Ethik, die ein wirkliches, autoritatives Sollen zum Gegenstand hätte (S. 57). An dieser Stelle möchte ich ergänzen/einwenden, dass man hier evolutionstheoretische Überlegungen einfließen lassen kann, die den psychologischen mit dem biologischen Altruismus verbinden (SCHMIDT 2011, vgl. S. 88). Was die Relevanz evolutionärer Erklärungen von Moral für die normative Ethik anbetrifft, so ist es weitestgehend unstrittig, dass es oftmals hilfreich, wenn nicht gar unumgänglich ist, allgemeinen Aussagen der normativen Ethik empirische Thesen - darunter auch solche über evolutionäre Zusammenhänge - an die Seite zu stellen, um hinreichend konkrete normative Folgerungen ziehen zu können (SCHMIDT 2011, S. 94).

Psychologischer Naturalismus

Psychische Merkmale könnten uns laut M. W. entweder über 1. natürliche Tatsachen (biologische, chemische oder physikalische Tatsachen), 2. über andere wesentliche psychische und als natürlich aufgefasste Tatsachen (wie z. B. soziale Tatsachen), 3. über nichtnatürliche Tatsachen und 4. über nichts weiter bzw. nur über sich selbst informieren. Laut M. W. verbleibe nur die 4. Option. Unter dieser Voraussetzung sei der moralische Gehalt psychischer Zustände etwas rein Zufälliges. Die psychischen Zustände wären wohl Gehirnprozesse, die wieder von irgendwelchen anderen materiellen Vorgängen verursacht wären (S. 58).

Beim 4. Punkt verstand ich erst wieder einmal nur Bahnhof. Nach meiner Recherche in anderer Literatur fand ich heraus, dass M. W. mit „nichts weiter“ Absichten/Wünsche/Überzeugungen als mentale Zustände allein im „Innern“ der Person meint (SCHULTE-OSTERMANN 2011, S. 244). Damit ist also der IES gemeint!

Die von M. W. erwähnte „Information über andere wesentliche psychische Tatsachen“, welche nicht weiterführen würde, meint nicht-kausale Ansätze, welche die Autorität dahin verlagern, dass das einzelne Individuum von anderen korrigiert werden kann, da Absichten nicht mehr als Zustände verstanden werden, die sich allein im „Innern“ der Person abspielen, sondern ebenso im sozialen Raum, an dem das Individuum partizipiert, verortet werden müssen. Damit ist also der KVS gemeint! M. W. wendet hier ein, dass ein Mehrheitsprinzip wie jedes andere Entscheidungs- oder Verrechnungsprinzip selbst wieder normativ sein müsste (S. 57).

Überzeugungen und Gründe

Ein anderer Kritikpunkt ist, dass M. W. metaethisches Hintergrundwissen unerwähnt lässt. Was ist genau damit gemeint, wenn nach M. W. die Empirische Psychologie nur teilweise aufzeigen könne, wie wir zu Überzeugungen kämen, aber nicht, wie wir zu Wissen kämen und was Wissen sei (S. 78)?

Damit ist gemeint, dass gute, epistemische Gründe für die Wahrheit einer Überzeugung sprechen können, die Wahrheit aber nicht garantieren (NIEDERBACHER 2021, S. 108). Angemessene Gründe können auch angefochten werden (NIEDERBACHER 2021, S. 108).

Es gibt widerlegende Gegengründe (rebutting defeaters) und untergrabende Gegengründe (undercutting defeaters). Weil hinsichtlich der meisten Überzeugungen, die wir haben, Gegengründe auftauchen können, sagt man, dass die Überzeugungen einer Person i. d. R. prima facie gerechtfertigt ist (NIEDERBACHER 2021, S. 109). Hinter dem prima facie steht also die Frage, was wirklich als epistemischer Grund taugt (NIEDERBACHER 2021, vgl. S. 111).

Die Empfindung, dass manche moralische Wahrheiten nicht anders sein könnten, als sie es sind, hätte im Rahmen eines nichttheistischen AMR (apersonale moralischen Realismus) neurophysiologische und letztlich evolutionsbiologische Ursachen (S. 121). Eine theistische Grundlegung der Moral sei gerade auch dort angezeigt, wo gefordert würde, dass Pflichten mit guten Gründen zu rechtfertigen seien (S. 123).

Eine Überzeugung ist dann erkenntnistheoretisch gerechtfertigt, wenn sie auf einem angemessenen Grund beruht. „Gute Gründe“ sind angemessene und damit gerechtfertigte (epistemische) Gründe (NIEDERBACHER 2021, S. 107 f.). Der Haken daran ist, dass Epistemische Gründe zwar für die Wahrheit einer Überzeugung sprechen, diese aber aufgrund möglicher Anfechtung nicht garantieren (NIEDERBACHER 2021, S. 108)! Der metaethische Naturalismus kann beispielsweise nicht verständlich machen, was es heißen soll, einen guten Grund zum Handeln zu haben (RÜTHER 2015, S. 183).

Gibt es dazu eine Alternative? Konstruktivistische Strategien gehen davon aus, dass zumindest für einige moralische Gründe gilt, dass wir wahre und falsche Urteile über diese Gründe fällen können, weil es ein Verfahren gibt, mit dem wir Prinzipien konstruieren können. Wir könnten z. B. überlegen, welche Normen wir fair fänden, wenn wir in den Schuhen anderer stecken würden. Wenn eine Handlung nach solchen Normen für uns geboten ist, sehen wir, dass wir einen moralischen Grund haben, diese Handlung auszuführen (STAHL 2013, vgl. S. 163) - und dazu bedarf es keines göttlichen Handelns.

Naturalistisch-evolutives Narrativ

M. W. behauptet, dass jede nicht-theistische Theorie ein naturalistisch-evolutives Narrativ benötigen dürfte, um die Existenz des Menschen und seiner kognitiven Fähigkeiten (versuchsweise) zu erklären (S. 96). An dieser Formulierung ist ärgerlich, dass wieder einmal nicht klar wird, was damit in der Metaethik gemeint sein könnte. Möglicherweise geht es hier um das „Argument der evolutionären Entlarvung“ (evolutionary debunking argument). Die Argumente verlaufen ungefähr so: Moralische Überzeugungen seien oft von Vorteil gewesen, weil sie uns (unsere Vorfahren und die meisten Menschen) dazu führten, so zu handeln, dass wir überlebten und uns fortpflanzten. Weil sie von Vorteil gewesen wären, habe natürliche Selektion uns dazu disponiert, diese Überzeugungen - egal ob sie wahr oder falsch sind - zu bilden (NIEDERBACHER 2021, S. 146). Diese evolutionstheoretische Überlegung will einen untergrabenden Gegengrund (undermining defeater) gegen die Rechtfertigung von moralischen Überzeugungen liefern (NIEDERBACHER 2021, S. 146), womit es sich meist gegen moralische Realisten richtet (NIEDERBACHER 2021, S. 145). Allerdings gibt es eine Reihe von Einwänden gegen die These der evolutionären Entlarvung. Damit könnte klarer werden, warum M. W. die Vokabel „versuchsweise“ verwendet (NIEDERBACHER 2021, vgl. S. 147 f.).

Alternativ könnte M. W. auch folgendes naturalistisch-evolutive Narrativ gemeint haben:

Intentionalität und die evolutionäre Erkärung der Moral

Erstens sei Intentionalität laut M. W. etwas Geistiges, zweitens würden moralische Tatsachen das Merkmal der Intentionalität aufweisen, womit als Konklusion moralische Tatsachen etwas Geistiges seien und ihre Quelle in Personen hätten (vgl. S. 105). Tiere hätten zwar Bewusstsein, Empfindungsfähigkeit und vermutlich auch zielorientiert Vorstellungen, seien aber keine Personen, die objektive moralische Tatsachen wahrnehmen könnten (S. 105, Anmerkung 220).

Gerade die Intentionalität ist im Übrigen der Schlüssel für eine evolutionäre Erklärung der Moral, M. W. „zerredet“ diese u. a. mit einer zu strikten Trennung in Tier/Mensch. TOMASELLO et al. argumentieren und belegen, dass sich die Entwicklung des Menschen zu einem „ultrakooperativen“ Wesen in zwei evolutionären Schritten vollzog.

Im ersten Schritt ändert sich etwas in der Umwelt der Menschen, dass sie dazu zwang, bei der Nahrungssuche zusammenzuarbeiten: Individuen mussten gute Kollaborateure sein, wenn sie nicht Hunger leiden wollten. Bei der Zusammenarbeit entwickelten die Individuen neue Fähigkeiten geteilter Intentionalität und neue Formen der sozialen Einbindung anderer. Wechselseitige Abhängigkeit begünstigte also Hilfsbereitschaft. Das Resultat könnte man als gemeinsame Moralität bezeichnen (NIDA-RÜMELIN 2016, S. 194 f.).

Als moderne Menschen mit anderen Gruppen in Konkurrenz traten, hoben sie in einem zweiten Schritt ihre neuen kollaborativen Fähigkeiten sowie ihre Bereitschaft zum Leben in der Gruppe im Allgemeinen auf ein noch höheres Niveau. Durch die konstante Bedrohung seitens anderer Gruppen entwickelte sich das Gruppenleben im Allgemeinen zu einer großen interdependenten (voneinander abhängigen) Zusammenarbeit zum Zweck der Gruppenerhaltung, bei der jedes Individuum seine Rolle ausfüllen musste. In diesen größeren kulturellen Gemeinschaften mit Stammesstruktur basierten viele Interaktionen nicht auf einer gemeinsamen Historie von Individuen, sondern allein auf der Zugehörigkeit zur Gruppe. Das daraus hervorgegangene Resultat könnte man eine kollektive Moralität nennen (NIDA-RÜMELIN 2016, vgl. S. 195). Wir nehmen an, dass diese zwei Schlüsselschritte in der Evolution menschlicher Moralität schon zu Zeiten der Wildbeuter-Kulturen stattfanden (NIDA-RÜMELIN 2016, vgl. S. 195 f.).

In anderen Worten ist die Moral nach KITCHER als eine Sozialtechnik zu verstehen, die dazu diente, Probleme sozialer Wesen in gemeinschaftlich lebenden Gruppen zu bewältigen, die unter den Bedingungen der Knappheit um Ressourcen konkurrierten und nicht in einem hohen Grade altruistisch agierten (SCHMIDT 2011, S. 52). Es entstanden im Zuge veränderter Lebensbedingungen und vermehrter sozialer Differenzierung im weiteren Verlauf der Geschichte neue Problemkonstellationen. Moralische Kodizes blieben dabei das zentrale Mittel der Problemlösung. Lag die ursprüngliche Funktion der Moral in der Verbesserung sozialer Kohäsion, so nahm sie hier zusätzliche Funktionen an (SCHMIDT 2011, S. 52).

Man sieht also, dass es tragfähige Ansätze zur evolutionären Erklärung des Phänomens „Moral“ gibt. Man muss eingestehen, dass es für M. W. einem Eigentor gleich käme, wenn er ein naturalistisch-evolutives Narrativ mit womöglich höherer Erklärungskraft erwähnt hätte, was in Konkurrenz zu seinen Ansätzen steht.

Sind moralische Überzeugungen wahr oder Fiktionen?

Um sinnvoll handeln zu können, bräuchten wir laut M. W. eine wohlbegründete Zuversicht, dass unsere moralischen Überzeugungen wahr und keine Illusionen seien (S. 101).

Die gegenteilige Ansicht ist der „Fiktionalismus“. Demnach ist die „objektive Wahrheit“ moralischer Normen eine Fiktion (SUMSER 2016, vgl. S. 385). Es könnte sein, dass M. W. in einer undeutlichen Ausdrucksweise auf den Fiktionalismus durch die Erwähnung eines „(fiktiven) Sachbereichs“ hinweist (vgl. S. 89).

Diese verklausulierte Formulierung mag seinen Grund darin haben, dass M. W. nicht an einer zu ehrlichen Aufklärung seiner Leser gelegen ist.

Apersonale Realisten würden i. d. R. abstrakte Objekte (nichtmaterielle, nichtgeistige, notwendige und zeitlos existierende, unverursachte, kausal wirkungslose, nichträumliche und nichtzeitliche) zur Erklärung objektiver Moral postulieren. Neben dem Geistigen und dem Materiellen würden abstrakte Objekte eine dritte Art von Seiendem darstellen (S. 65 f.).

Im Gegensatz dazu halten Naturalisten am Fiktionalismus fest, sie rechnen weder unseren Geist, noch abstrakte Objekte der Übernatur zu (MAHNER 2018, S. 35).

Der theistische Aktivismus / Supra-Naturalismus

M. W. ist als theistischer Aktivist (bzw. als Supra-Naturalist) einzuordnen. Theistischen Aktivisten zufolge würde Gott abstrakte Objekte erschaffen und im Dasein erhalten (NIEDERBACHER 2021, S. 170). Für sie würden Moralgesetze nicht aus sich heraus wie platonische Ideen existieren, sondern seien von Gott abhängig (NIEDERBACHER 2021, S. 163). Das passt zu M. W., der sich nicht als Platonist bezeichnet (S. 132).

Projektion

Gemäß M. W. würden Menschen „antropomorph projizieren“, wenn sie geistlose Dinge mit Begrifflichkeiten beschreiben, die ihrer Selbsterfahrung entstammen. Vertreter des apersonalen moralischen Realismus würden wesentliche Eigenschaften von Personen auf imaginäre apersonale Objekte zu projizieren scheinen (vgl. S. 102).

Offenbar fällt M. W. dabei nicht auf, dass er das bei GOTT ebenso macht, wenn er GOTT als „reinen Geist“ bezeichnet (S. 147). Hier besteht allerdings das Problem, dass der menschliche Geist keinerlei Zugriff auf einen „freistehenden Geist“, wie ihn Theisten konzipieren (DETEL 2018, vgl. S. 72), hat und haben kann.

Die Deutung des Gewissens

Ein von Gott installierter Mechanismus, der lediglich verursachen würde, dass jemand glaubt, er sei moralisch verpflichtet, könne laut WIELENBERG keine echte Verpflichtung auferlegen (S. 130). M. W. entgegnet dem, dass es keinen hinreichend begründeten Atheismus gäbe (S. 131). Wenn jemand wohlbegründet - gemeint sind epistemische Gründe - meinen sollte, dass es keinen GOTT gäbe, dann müsse er auch wohlbegründet meinen, dass es keine moralischen Pflichten gäbe. Wir bräuchten besonders starke Argumente gegen GOTT, die M. W. zumindest nicht bekannt seien (vgl. S. 132).

M. W. spricht auch von S. FREUD, für den das „Über-Ich“ Normen und Werte seien, die eine Person verinnerlicht hätte. Sie seien letztlich personalen Ursprungs (z. B. der Eltern), obwohl einem dieser personale Ursprung oft nicht bewusst sei (S. 130). Nun kommt der springende Punkt: Was M. W. in diesem Zusammenhang nicht auf dem Schirm hat, ist, dass nach Freud das Gewissen nicht von GOTT, sondern GOTT vom Gewissen kommt (VOLAND 2014, S. 207).

Daraus lässt sich schließen, dass auch Atheisten durch ihr Gewissen moralischen Pflichten nachkommen können. Dazu braucht es keinen „hinreichend begründeten Atheismus“, da das Gewissen für Atheisten eben nicht von GOTT kommt!

An anderer Stelle schreibt M. W., unser Gewissen und die Offenbarung seien (kausal gespeiste) Informationsquellen, durch die der Mensch Einblick in das Reich des Moralischen haben könne. Sie seien intelligent von einem Schöpfer für diesen Zweck geschaffen worden. Deshalb könnten sie uns auch hinreichend moralisches Wissen vermitteln (S. 84).

Daran muss ich kritisieren, dass wir eine Forderung nicht schon deshalb für moralisch verbindlich erachten, weil ein absolutes personales Wesen sie stellt. Wir schreiben die Forderung vielmehr jenem absoluten Wesen zu, weil wir sie für gut, berechtigt und unbedingt verbindlich halten. Damit ist die Idee von einem personalen Seinsgrund zur Erklärung des Gewissens und der Begründung seiner Forderungen nicht geeignet bzw. notwendig. Warum trotzdem so viele Menschen glauben, im Gewissen die Umrisslinien eines göttlichen Richters wahrnehmen zu können, kommt zum einen daher, dass der personale Seinsgrund in der Gottesidee stets mit dem moralisch Guten verknüpft gedacht wird. Letzteres führt aber dazu, dass man aus den Regungen des Gewissens etwas heraus deutet, was man durch die Verknüpfung des absoluten Seinsgrund mit dem sittlich Guten erst in die Gottesidee hineingelegt hat (STÜTZ 2015, vgl. S. 52)! Die Verknüpfung des personalen Seinsgrund mit dem moralisch Guten findet sich bei M. W. schon ganz am Anfang: GOTTES Gutsein sei notwendig und ewig, weil es ein Existenzgrund GOTTES sei (S. 13).

Um nochmal auf die Metaethik zurückzukommen: Außerdem folgt für einen Externalisten - welcher bei M. W. keine Erwähnung findet - auf moralische Überzeugungen meist/immer ein gewisses Ausmaß an Motivation. Dass man nach dem Richtigen strebe, könne auf tiefsitzende Einstellungen der menschlichen Natur zurückgeführt werden (NIEDERBACHER 2021, S. 47).

Die Eigenschaft „gut“ und die Supervenienz

Nach M. W. sei MOORE ein bedeutender Vorreiter des moralischen Realismus gewesen. Er hätte zu Recht darauf hingewiesen, dass die Eigenschaft „gut“ keine natürliche Eigenschaft, sondern eine Qualität eigener Art sei (S. 63 f.).

Für MOORE sei „gut“ mit keinem natürlichen Begriff (N-Begriff) definierbar. „Gut“ sei überhaupt nicht definierbar. Es drücke einen einfachen Begriff aus, der sich auf eine einfache, nicht-natürliche Eigenschaft sui generis (die Eigenschaft gut zu sein) beziehe (NIEDERBACHER 2021, vgl. S.75).

WIELENBERG löst dieses Problem folgendermaßen: Für ihn würden ethische Eigenschaften deskriptive Eigenschaften überlagern (WIELENBERG 2014, vgl. S. 25). So zieht WIELENBERG den Schluss, da er sowohl sui generis normative Eigenschaften als auch die Herstellungsbeziehung („making relation“) postuliert, sei seine Theorie nach seiner Ansicht nach ontologisch gut ausgestattet (WIELENBERG 2014, vgl. S. 35).

Bezüglich des „making“ schreibt M. W.: WIELENBERG meine, dass die nicht-moralischen Eigenschaften einer Sache machen, dass sie auch eine moralische Eigenschaft besitzen. Dieses Machen („making“) interpretiere WIELENBERG als kausale Reaktion (S. 69). Die Verursachungsrelation („making relation“) zwischen moralischen und den sie verursachenden nicht-moralischen Eigenschaften sei metaphysisch notwendig (S. 70). WIELENBERG erinnert an das Postulat aller moralischer Realisten, dass moralische Tatsachen notwendig bestehen (S. 80).

Damit dies verständlicher wird, hier eine weitere Erklärung: Bei der Supervenienzstrategie handelt es sich um einen bescheideneren Versuch, das Verhältnis von moralischen und natürlichen Tatsachen zu charakterisieren. Anders als der reduktive kann der nicht-reduktive Naturalist nämlich die Frage, warum eine bestimmte moralische Tatsache eine bestimmte moralische Qualität hat, nicht mit dem Hinweis auf eine identische natürliche Tatsache beantworten. Er wird vielmehr auf strukturell vergleichbare Fälle aufmerksam machen müssen, die eine bestimmte Korrelation zwischen natürlichen und moralischen Grundbegriffen nahelegen (RÜTHER 2015, S. 174 f.).

WIELENBERG ist also ein nicht-reduktiver naturalistischer Realist, für den moralische nicht auf natürliche Eigenschaften reduzierbar - also nicht identisch - sind. Er sieht die Relation zwischen beiden Eigenschaftsklassen nicht als symmetrisches Identitätsverhältnis, sondern als asymmetrische Supervenienzbeziehung (RÜTHER 2013, S. 193). WIELENBERG vertritt einem robusten normativen Realismus (WIELENBERG 2014, S. 14, S. 65). Mit dem „robust“ sei laut M. W. gemeint, dass moralische Eigenschaften wie „gut“ keine natürlichen Eigenschaften und nicht auf solche zurückführbar seien, es seien Eigenschaften eigener Art (S. 65).

Kausalität

Zur „Kausalität“ schreibt M. W., dass einige Philosophen meinen würden, dass mathematische Entitäten wie z. B. Zahlen/Mengen als abstrakte (platonische), kausal wirkungslose Objekte existieren würden. Dennoch würden wir mathematisches Wissen haben. Nach dieser Überlegung müsse es eine nicht kausal bedingte Erkenntnisweise geben, durch die man Einblick in das Reich kausal nicht wirksamer Entitäten erhalten könne. Jetzt würde diese Idee auf das Moralische übertragen. Denn auch die moralischen Entitäten, wie sie sich apersonale Realisten i. d. R. denken würden, wären in diesem Sinne platonisch. Jedenfalls seien sie kausal wirkungslos (S. 86). Mit anderen Worten: Auch wenn moralische Tatsachen kausal unwirksam sind, könnten wir sie erfassen und die Fähigkeit dazu hoffentlich irgendwann durch die komplexen Strukturen unseres Gehirns erklären (NIEDERBACHER 2021, S. 145).

Wesley MORRISTON meine, dass bestimmte Merkmale von Personen einfach die moralischen Qualitäten haben, dies sie haben, ohne dass es dafür irgendeinen Grund/eine Erklärung gäbe. Es müsse einen Endpunkt für Warum-Erklärungen geben. Laut M. W. würden nichttheistische moralische Realisten an zentralen Stellen auf nötige explanatorische Tiefe verzichten (S. 81). Mit dem „Endpunkt für Warum-Erklärungen“ meinen metaphysische Partikularisten „letzte Tatsachen“ (engl. „brute facts“). Diese Position ist jedoch - womit man M. W. Recht geben muss - unplausibel (NIEDERBACHER 2021, vgl. S. 94). Der Gegensatz zum Partikularismus ist der Generalismus. Im „realistischen Lager“ finden sich weit mehr Generalisten als Partikularisten (RÜTHER 2015, S. 97).

Wie löst M. W. die Kausalitätsproblematik? Für Ihn ist eine „Feinabstimmung“ nötig, er erinnert an die Feinabstimmung des Universums (vgl. S. 80) und nimmt damit Bezug auf das anthropische Prinzip, also letztlich auf GOTT. Man könne nach M. W. von einer Feinabstimmung zwischen unserem moralischen Wissensfundus und der Gesamtheit moralischer Tatsachen sprechen. Eine systematische Übereinstimmung zwischen Überzeugungen ohne Kausalität und ohne irgendeine Datenübertragung könne nicht vorkommen (S. 87). Kausal aktiv sein könnten materielle Dinge oder Personen (S. 98).

Wie zuvor von M. W. angedeutet, kann man das auch ganz anders sehen: Wir haben viele Überzeugungen mit analytischen, mathematischen, modalen Inhalten. Bei ihnen gibt es zwar keine kausale Relation zu den sie wahr machenden Tatsachen, dennoch haben wir Gründe anzunehmen, dass sie wahr sind. Ähnlich kann es auch bei moralischen Überzeugungen sein. Manche moralischen Überzeugungen allgemeinen Inhalts leuchten von sich aus ein, andere sind deduktiv oder induktiv gerechtfertigt. Obwohl es keine kausalen Relationen zwischen den Überzeugungsbildungsprozessen und den moralischen Tatsachen gibt, können ihre epistemischen Gründe prima facie als verlässlich angesehen werden (NIEDERBACHER 2021, S. 147 f.).

Kontingenz

M. W. schreibt, es könnte auch die Auffassung bestehen, dass das Moralische nur dann notwendig gelten könne, wenn es unabhängig von den „subjektiven“ Einstellungen geistiger Subjekte sei, gedacht als kontingente Einstellungen. Kontingent meint also, dass etwas möglich, aber nicht notwendig ist. Unsere Einstellungen seien alles andere als notwendig, da wir endliche und kontingente Wesen seien. Daher hält M. W. antirealistische metaethische Ansätze, die Moral lediglich in der Gesellschaft oder der menschlichen Vernunft gegründet sehen, für falsch (vgl. S. 129).

Auch dieser Einwand ist nicht überzeugend. Bei notwendigerweise extensionsgleichen Ausdrücken dürfe man darauf schließen, dass sie dieselbe Entität bezeichnen. Wir sagen ja nicht, dass alle richtigen Handlungen kontingenterweise glücksmaximierend sind und umgekehrt (so sie es denn sind), sondern dass sie es notwendigerweise sind. Wenn eine Handlung glücksmaximierend ist, muss sie richtig sein und umgekehrt (NIEDERBACHER 2021, S. 76).

Für M. W. ist das Moralische ein kontingentes Produkt der geistigen Tätigkeit GOTTES. GOTT würde damit unabhängig und damit „vor“ dem Moralischen existieren (S. 60). Mit dem „vor“ ist ein Apriori-Wissen gemeint, das nicht natürlicher Art sei, welches wir nicht über unsere natürlichen Sinnesorgane erhalten hätten (S. 89).

Kognitivismus/Konstruktivismus

Dass Moral ein Produkt des Menschen/der menschlichen Gemeinschaft sei, nennt M. W. antirealistischen Kognitivismus (ARK)/Konstruktivismus. Zum ARK gehören nach M. W. zwei Arten der Diskursethik, die nach Karl-Otto APEL (S. 40) und die nach Jürgen HABERMAS (S. 47). Als Resümee der Diskursethik sei Moral kein Produkt menschlicher Diskurshandlungen. Solche Diskurse bedürften selbst einer Regulierung von außen (S. 50).

Dagegen lässt sich einwenden, dass die Theorie des Konstruktivismus - zu der die Diskursethik gehört - den Eindruck vermeiden kann, dass moralische Gesetze uns „von außen“ verpflichten und unsere Intuition aufnehmen, dass Moral auch immer etwas damit zu tun hat, dass wir uns Normen unterordnen (STAHL 2013, S. 166). Dass Diskurse nach M. W. eine „Regulierung von außen“ benötigen würden, zeigt, dass die Objektivität, als auch die praktische Relevanz moralischer Urteile für konstruktivistische Positionen stark vom Begriff der Vernunft abhängt (STAHL 2013, S. 166). Übrigens übersieht M. W. mit schöner Regelmäßigkeit, dass dies für eine „göttlich gesetzte Ethik“ ebenso gilt: Man muss die höchst persönliche Entscheidung treffen, sich einer religiösen (islamischen, christlichen, hinduistischen…) Ethik (der Version XY) unterzuordnen, und auch dies ist letztlich eine willkürliche Entscheidung.

Nebenbei sei erwähnt, dass auch der von M. W. vertretene personale moralische Realismus eine „Regulierung von außen“ benötigt, nämlich von GOTT.

Gleichwohl liegt der Vorteil des Konstruktivismus darin, dass er moralischen Aussagen objektive Wahrheit zuschreiben kann, ohne auf metaphysisch problematische „moralische Tatsachen“ zu verweisen (STAHL 2013, S. 165).

Intrinsisch vs. extrinsisch

Kurz vor Schluss der Rezension möchte ich auf den „expansiven Naturalismus“ hinweisen, der die Vorteile des moralischen Realismus mit dem Naturalismus kombiniert (RÜTHER 2013, S. 220). Der expansive Naturalismus unternimmt gegenüber der naturalistischen Grundidee eine methodisch-epistemologische Erweiterung (RÜTHER 2013, S. 221). Moralische Eigenschaften eignet intrinsische Normativität (RÜTHER 2013, S. 222). Mit „intrinsischer Normativität“ ist gemeint, die moralische Tatsache gibt dem Handelnden eine Richtung, einen Grund für sein Handeln (RÜTHER 2015, S. 113). Dadurch, dass der Bereich des Natürlichen um evaluative Kriterien erweitert wird, handelt es sich bei moralischen Eigenschaften nicht um absonderliche Entitäten, wie sie der Eliminativist MACKIE bezeichnet, sie werden stattdessen als integrale Bestandteile der Wirklichkeit interpretiert (RÜTHER 2013, vgl. S. 222). Der expansive Naturalismus ist auf Arbeiten von J. GRIFFIN, J. MCDOWELL und D. WIGGINS zurückzuführen (RÜTHER 2013, vgl. S. 220).

M. W. hält es für fraglich, dass ein Ding eine intrinsische moralische Eigenschaft notwendig und nur kraft seiner selbst besitzen würde (S. 125). Dagegen lässt sich einwenden, dass beispielsweise die Hilfsbereitschaft 20 Monate alter Kinder, die für Ihre Hilfsbereitschaft materiell entlohnt wurden, über die Zeit hinweg abnahm, sobald es keine Belohnung mehr gab. Bei Kindern, die nicht oder nur durch Lob belohnt wurden, blieb die Hilfsbereitschaft auf hohem Niveau. Dieses Resultat deutet an, dass schon die Motivation junger Kinder intrinsisch ist und nicht von konkreten extrinsischen Belohnungen abhängt (NIDA-RÜMELIN 2016, S. 198 f.). Die Eigenschaft „gut“ sei für M. W. eine extrinsische Eigenschaft eines M-Dinges (S. 144). Aus der Sicht eines Supra-Naturalisten ist dieser Standpunkt nur konsequent. Ob er richtig ist, steht auf einem anderen Blatt.

Von objektiver Moral zu Gott

Das Buch endet mit einem Modus Ponens:

Prämisse 1: Wenn es objektive Moral gibt, existiert Gott; Prämisse 2: Es gibt objektive Moral; daraus sei die Konklusion: Gott existiert (S. 162). Allein schon aufgrund der Umstrittenheit der 1. Prämisse folgt logisch gesehen die Falschheit der Konklusion. Die Aussage „Gott existiert“ (1. Prämisse und Konklusion) ist leider weder empirisch noch analytisch (NIEDERBACHER 2021, S. 21)!

Die große Schwäche dieses Buches ist, dass man als Laie oft nur Bahnhof versteht. Für ein transparentes und umfassendes Verständnis kommt man um Ergänzungsliteratur zur Metaethik (z. B. RÜTHER bzw. NIEDERBACHER) nicht herum. Das Knausern mit Fachtermini kam für mich einer Verwendung von Nebelkerzen gleich. Offenbar sollen die Leser nicht allzu tiefgehend über die Metaethik aufgeklärt werden, damit noch genug Raum für den Glauben bleibt. Glauben war schon immer bequemer als Wissen. Zugegeben, das Eindringen in die Metaethik gestaltet sich aufgrund einer Vielzahl unterschiedlichster Positionen vielschichtig und kompliziert. Allzu oft gibt es in der Metaethik gerade keine „letzten Antworten“, wie sie gerne von gläubiger Seite vorgebracht werden.

Markus Widenmeyer: Moral ohne Gott?
Eine Verteidigung der theistischen Grundlegung objektiver Moral
SCM Hänssler im SCM Verlag GMbH & Co. KG, 1. Auflage 2022, 167 Seiten

Literatur

DETEL, W. (2018) Warum wir nichts über Gott wissen können, Felix Meiner Verlag Hamburg

GRÄFRATH, B. (1997) Evolutionäre Ethik? Philosophische Programme, Probleme und Perspektiven der Soziobiologie. Walter de Gruyter & Co.

MAHNER, M. (2018) Naturalismus. Die Metaphysik der Wissenschaft, Alibri

NIDA-RÜMELIN, J. /HEILINGER J. C. (2016) Moral, Wissenschaft und Wahrheit. Walter de Gruyter GmbH

NIEDERBACHER, B. (2021) Metaethik, Verlag W. Kohlhammer

RÜTHER, M. (2013) Objektivität und Moral. Eine problemgeschichtlich-systematischer Beitrag zur neueren Realismusdebatte in der Metaethik. mentis Verlag GmbH

RÜTHER, M. (2015) Metaethik zur Einführung, Junius Verlag GmbH

SCHMIDT, T. & TARKIAN T. (2011) Naturalismus in der Ethik. Perspektiven und Grenzen. Mentis Verlag GmbH

SCHULTE-OSTERMANN K. (2011) Das Problem der Handlungsverursachung. Eine kritische Untersuchung zur kausalen Handlungstheorie. Ontos Verlag

STAHL, T. (2013) Einführung in die Metaethik, Philipp Reclam jun. GmbH & CO. KG, Stuttgart

STÜTZ, W. (2015) Die Fraglichkeit von Religion und Moral. Tectum Verlag Marburg

SUMSER, E. (2016) Evolution der Ethik. Der menschliche Sinn für Moral im Licht der modernen Evolutionsbiologie. Walter de Gruyter

VOLAND, E. & R. (2014) Evolution des Gewissens, S. Hirzel Verlag

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