Wenn Jesus nicht existiert hat, woher kommen dann seine Gleichnisse?

Sammlung von Zitaten und Gleichnissen

Wenn Jesus nicht existiert hat, woher kommen dann seine Gleichnisse?

Foto: Pexels.com / JUHASZIMRUS

Gleichnisse wurden damals überall erzählt. Sogar heute noch tut man dies, und es werden permanent neue erfunden. Manchmal erklärt ein Gleichnis eine Situation besser, manchmal geht das aber auch schief. Auch im Humor finden wir Gleichnisse:

Wie funktioniert Telegrafie? — Stell Dir einen Dackel vor, der von Hamburg bis München reicht. Tritt man ihm in Hamburg auf den Schwanz, bellt er in München. — Ok, das habe ich verstanden. Wie funktioniert dann drahtlose Übertragung durch Funk? — Genauso wie bei der Telegrafie, nur ohne Dackel!

In der Theologie nahm man lange Zeit an, dass es eine Sammlung solcher Gleichnisse gab namens „Q“ (Q steht schlicht für „Quelle"). Die Evangelisten, so vermutete man, bedienten sich aus dieser Quelle. Q ist eine Sammlung von Zitaten und Gleichnissen, und es ist unklar, ob einige dieser Zitate oder Gleichnisse nur aufgenommen wurden, weil sie so klingen, als ob eine bestimmte Person sie gesagt haben könnte. So wie wir heute eine Sammlung von Zitaten von Albert Einstein im Internet finden, wobei es mit den meisten Zitaten das Problem gibt, das Einstein das nie gesagt hat. Man nimmt in solche Sammlungen Aussagen auf, die so klingen, als ob Einstein sie gesagt haben könnte, weil dies irgendwie zu ihm passt. Oder man nimmt Aussagen auf, um damit bestimmte Ansichten aufzuwerten.

Die Evangelien — so nahm man an — entstanden dadurch, dass jemand die Aussagen und Zitate aus Q aufgriff und diese in einen Kontext stellte. D. h., man gab der Geschichte eine Zeit, einen Ort, und die Zuschauer, die dabei waren. Woher dieser Kontext stammt, ist äußerst unklar. Andererseits sollen die Evangelien auf mündlicher Überlieferung beruhen, so dass man nie sagen kann, was jetzt aus Q kommt und was aus mündlicher Überlieferung, weil das ja auch die Quelle für Q gewesen sein könnte.

Bei den Rekonstruktionen von Q, die man unternommen hat, fällt auf, dass hier eine recht willkürliche Vorannahme eine Rolle spielt, deswegen gerät die Idee von Q zunehmend unter Druck. Man möchte gerne, dass die vier Evangelien eine möglichste genaue Schilderung tatsächlicher historischer Begebenheiten sind. Damit kann man erklären, warum die drei Synoptiker Markus, Matthäus und Lukas eine recht ähnliche Geschichte erzählen (Synopsis = Zusammenschau). Lediglich das Johannesevangelium fällt aus diesem Rahmen, es handelt sich um eine recht eigenwillige Darstellung, verglichen mit der Zusammenschau der Synoptiker. Was man nicht erklären kann sind die Unterschiede zwischen den Erzählungen, die zum Teil recht drastisch sind, vor allem bei der Kreuzigung und der Auferstehung.

Deswegen die Theorie, dass es eine mündliche Tradition gibt, in der der Kontext erzählt wird, und die Zitatensammlung Q, in der nur die reinen Aussagen stehen. Dies erklärt die Übereinstimmungen, und dann gibt es Sondermaterial, das von den Evangelisten verwendet wurde. Mit diesem erklärt man die Unterschiede. Aber was wäre, wenn man sich einmal ansieht, wie sich Geschichten entwickeln? Was wäre, wenn die Evangelisten nicht einfach getreu wiedergeben, was sie gehört haben, sondern wenn es sich beim Schreiben um einen kreativen Prozess gehandelt hat?

Was nämlich deutlich auffällt ist, dass die vier Evangelisten eine jeweils unterschiedliche theologische Agenda haben. Sie beschreiben vier verschiedene Jesusse, und wenn man versucht, diese vier Darstellungen zu harmonisieren, erfindet man einen fünften Jesus, wobei dieser immer anders aussieht, je nachdem, welches Evangelium man als seinen Schwerpunkt nimmt?

Tatsächlich gibt es bisher nur einen einzigen gelungenen Versuch, die Evangelien zu harmonisieren. Dies ist „Das Testament des Afranius„.

Das „Testament des Afranius“ wurde geschrieben, um die Behauptung christlicher Apologeten zu kontern, die behaupten, dass man die Evangelien nur so interpretieren kann, dass ein jüdischer Wanderprediger Wunder tat und auferstanden ist. Der Autor Eskov nahm dies als Herausforderung und schrieb eine Zusammenschau aller vier kanonischen Evangelien, die völlig ohne Wunder und ohne eine reale Auferstehung auskommt, und die Dinge erklären kann, die von Theologen bisher niemals erklärt worden sind. Tatsächlich ist diese Harmonisierung um Größenordnungen besser als alles, was Theologen bisher liefern konnten, obwohl die Grundidee recht absurd ist — aber erheblich weniger absurd als die Idee, dass ein jüdischer Wanderprediger gekreuzigt wurde und wieder von den Toten auferstand. Demnach handelt es sich bei den Geschichten um Jesus um eine römische Verschwörung, bei der man versuchte, die jüdische Religion in Richtung Friedfertigkeit zu beeinflussen. Eskov kann vieles erklären, was die Theologen bisher nicht erklären konnten. Dazu gehört auch, woher die Gleichnisse kommen und welche Funktion sie haben.

Der Umstand, dass sämtliche Erklärungen viel plausibler sind, macht diese Idee nicht wahr. Eskov macht keinen Hehl daraus. Wenn wir eine Geschichte über vergangene Ereignisse hören oder lesen, welche Annahme darüber hat die größte Wahrscheinlichkeit, wahr zu sein? Hier in absteigender Wahrscheinlichkeit, d. h., die plausibelste, logischste und wahrscheinlichste Annahme zuerst, und je weiter unten die Annahme steht, desto weniger plausibel ist sie:

- Es handelt sich um Bullshit, der erfunden wurde (wahr für die meisten Geschichten, die Menschen erzählen).

- Es handelt sich um ein Ereignis, das einen Kern Wahrheit enthält, der sich wissenschaftlich erklären lässt.

- Es handelt sich um ein Ereignis, das einen Kern Wahrheit enthält, der sich wissenschaftlich noch nicht erklären lässt.

- Es handelt sich um eine Verschwörung.

- Es waren Aliens!

- Gott hat in die Geschichte eingegriffen und die Ereignisse hervorgebracht/beeinflusst.

Was Eskov beweist ist, dass man die ganze Geschichte der Evangelien um vieles plausibler machen kann, wenn man eine Verschwörungstheorie drumherum konstruiert. Wenn also Bullshit wie eine Verschwörung die Geschichte plausibler macht als die Annahme, es wären Wunder und Gott gewesen, dann sagt dies einiges über die Evangelien aus. Nämlich, dass es die Idee hoch wahrscheinlich macht, dass die ganze Geschichte erfunden wurde.

Alles muss auf historischen Tatsachen beruhen

In den üblichen theologischen Theorien steckt eine hoch unplausible Annahme, nämlich, dass die Evangelisten sich quasi nichts davon ausgedacht haben können. Alles muss auf historischen Tatsachen beruhen, und die Evangelisten haben keinerlei Kreativität gehabt und alles so dargestellt, wie es ihnen berichtet wurde, sei es durch mündliche Tradition, sei es durch eine schriftliche Quelle wie Q. Nur sahen auch in der Antike die Berichte von Chronisten oder Historikern in jeder Beziehung ganz anders aus. Auch damals hat ein Historiker stets die Quellen angegeben, aus denen er seine Informationen hat. Manchmal widersprachen sich die Quellen, dann hat der Historiker entweder abgewogen, was er persönlich für plausibler hält und die Gründe dafür dargelegt, oder er hat diese Schlussfolgerung dem Leser überlassen.

Wir finden in den Evangelien weder die Angaben einer Quelle, noch die Aufarbeitung unterschiedlicher Quellen, noch ein Abwägen sich widersprechender Quellen. Wenn ich aber die Unterschiede erklären will, muss ich annehmen, dass auch die Evangelisten sich in Details widersprechende Quellen hatten. Warum ist das niemals ein Thema in den Evangelien? Und mehr noch: Warum finde ich z. B. wörtliche Zitate von Ereignissen, über die es keine Quelle geben kann? Wenn Jesus vor seiner Verhaftung betet, und die Jünger sind alle eingeschlafen, was für eine Quelle gibt es dann?

Ganz einfach: Bei den Evangelien handelt es sich nicht um eine historische Darstellung irgendwelcher Ereignisse, keine Aufarbeitung von Quellen, sondern der theologische Versuch, die Menschen von einer bestimmten Religion zu überzeugen! Es handelt sich ganz klar um Religionspropaganda, und diese wird mit erfundenen Geschichten bedient. Die Quellen dieser Geschichte sind das Alte Testament, aus dem man sich bedient, Geschichten aus der Odyssee, und die Evangelisten haben sich auch untereinander inspiriert.

Wenn man die Reihenfolge ein wenig ändert, verschwindet jede Notwendigkeit einer Quelle namens Q.

Demnach ist es wahrscheinlicher, dass es ein ursprünglich gnostisches Evangelium des Johannes gab, das später heftig überarbeitet wurde, umgearbeitet in ein katholisches Evangelium. Kurz danach gab es ein zweites gnostisches Evangelium, den Ur-Markus, dass man auch „Evangelium nach Markion“ genannt hat, und von dem man ca. 70% des Textes aus Zitaten rekonstruieren konnte. Dieses Evangelium wurde von Markion oder einem seiner Schüler geschrieben. Diese beiden Evangelien waren das Vorbild, dass der anonyme Autor des Markusevangeliums (der völlig willkürlich „Markus“ genannt wurde) sich als Vorbild für sein Evangelium nahm. Dieser Autor hatte die Idee, die Schilderungen eines himmlischen Jesus auf die Erde zu verlegen und aus Jesus eine historische Person zu machen. Da Markus (wie wir ihn der Tradition nach nennen) keine Ahnung von den örtlichen Verhältnissen hatte, die den Rahmen seiner Geschichte bildeten, bediente er sich bei Josephus Flavius für die Details. Wenn er etwas richtig schildert, finden wir das bei Flavius, wenn er Geografie und Verhältnisse falsch darstellt, dann weil Flavius nichts darüber geschrieben hat.

Matthäus korrigiert Markus, weil er mehr Ahnung von den lokalen Verhältnissen hat. Wenn man so will ist das Matthäusevangelium in erster Linie eine fehlerkorrigierte Fassung des Markusevangeliums, aber auch der Evangelist hat seine eigenen theologischen Vorstellungen und ändert nach Gutdünken ab, was ihm bei Markus nicht passt. Lukas wiederum, ein strikt katholischer Autor, ändert alles in eine katholische Richtung ab, inklusive seiner Fortsetzungsgeschichte, der Apostelgeschichte, in der Paulus zu einem kreuzbraven Katholiken umschreibt. Es ist sehr gut möglich, dass Polykarb, ein katholischer Bischof, den gnostischen Ur-Lukas von Markion übernahm und daraus den heute bekannten Lukas fabrizierte sowie die Apostelgeschichte. Das Johannesevangelium wiederum wurde stark überarbeitet, und die Spuren davon sind überdeutlich.

Eines sollte man noch zur Kenntnis nehmen: Wir kennen ungefähr 80 Evangelien, für die wir die Texte ganz oder teilweise haben. Wir kennen die Namen von noch mehr Evangelien, die verloren gingen. Schätzungen gehen dahin, dass es etwa 200 Evangelien gab. Die meisten sind verloren, weil die katholische Kirche die Todesstrafe androhte für jemanden, der mit einem Evangelium erwischt wurde, dass die Kirche nicht genehmigt hatte.

Es gab im Umfeld der Geschichten von Jesus keinerlei Skrupel, keine Beschränkungen, keine Hindernisse, sich Geschichten dazu auszudenken. Jedes der Evangelien stellt ein Stück Religionspropaganda dar, ein Werk, um die Leute zu einem bestimmten Glauben über Jesus zu beeinflussen. Anzunehmen, man könne die vier kanonischen Evangelien davon ausnehmen, sind ausgesprochen naiv, wenn man es nicht als rundheraus dumm bezeichnen muss. Kreative Erfindungen auf diesem Gebiet gab es also reichlich, jede Menge neuer Gleichnisse, Geschichten, Zitate. Dass ausgerechnet die vier später kanonisierten Evangelisten in irgendeiner Form einen Mangel an Kreativität aufwiesen, wird durch ihre kreative Schreibweise schlagend widerlegt.

Einige dieser Gleichnisse, die man erfand, sind genau das, reine kreative Erzählungen, wie man sie damals reichlich vorfand und wie sie auch heute noch erfunden werden. Andere Gleichnisse sind Ableitungen/Neuerzählungen bereits vorhandener Gleichnisse und Geschichten. Man kann in den Evangelien sehen, dass die Odyssee von Homer für viele der Gleichnisse ein Vorbild war, die anderen stammen aus dem Alten Testament. Jesus ist eine Mischung aus Elias, Moses und Odysseus. Das antike literarische Vorbild für diese Art Literatur ist das Heldenepos. Das ist eigentlich eine Literaturgattung die nie alt geworden ist, ein modernes Beispiel dafür ist Harry Potter. Was die Evangelien jedoch heraushebt, ist die Tatsache, dass sie ein Mittel religiöser Propaganda darstellen und eine Art „Best-Of"-Sammlung damaliger Heldengeschichten. Über viele dieser Helden erzählt man sich Geschichten, und viele dieser Geschichten sind selbst Gleichnisse. Man hat also eine Fülle an Vorbildern, die man entweder abändert, um ihre moralische Botschaft an die eigenen Vorstellungen anzupassen, oder gleich ganz neu erfindet.

Volker Dittmars Webseite: Religionskritik: Leben, Glauben, Religion, Got

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Kommentare

  1. userpic
    Franz-Christian Schlangen

    Mir fehlt in dieser insgesamt schlüssigen Arbeit leider das "paulinische Element". Denn:

    Die ältesten NT-Schriften stammen vom Mythenschmied Sha'ul (lat.: Paulus) von Tarsus. Ohne dessen Einfluss auf die Anhänger des Weges, wie sich die später "christlich" genannten Gemeinden ursprünglich nannten, sind kanonischen Evangelien und das ältere Thomasevangelium nicht denkbar...
    Siehe dazu auch die Arbeiten des Talmutphilologen und Judaistik-Professor Hyam Maccobi

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