Die Grenzen des persönlichen Genomtests
Wie viele Baby-Boomer, fühle ich mich von Nachrufen in den Zeitungen angezogen, Alter und Todesursachen mit meinen gegenwärtigen Gesundheitsparametern vergleichend, vornehmlich mit Herzerkrankungen (die meinen Vater und Großvater nieder rafften) und Krebs (welcher meine Mutter umbrachte). Und dann ist da noch die Alzheimer-Erkrankung, die gemäß einem Bericht der Alzheimer-Vereinigung von 2015, die Gehirne von mehr als 28 Millionen Baby-Boomer zerstören wird. Angesichts der Bedeutung der Familiengeschichte und Genetik für die Lebenserwartung, habe ich $199 für ein „23andMe Health + Ancestry Service Kit“ investiert, spuckte in das kleine Plastikfläschchen, entschied mich für jeden verfügbaren Test für Krankheitsgene und erwartete mit Besorgnis meine Ergebnisse. Wie ist wohl gelaufen ist?
Erstens hat das Unternehmen meine Vorfahren mit 99,7 Prozent in Europa, vor allem in Frankreich/Deutschland (29,9 Prozent), Großbritannien/Irland (21,6 Prozent), Balkan/Griechenland (16,4 Prozent) und Skandinavien/Schweden (5,5 Prozent) gut ermittelt. Meine Großmutter mütterlicherseits ist Deutsche und mein Großvater Grieche; meine Urgroßeltern väterlicherseits kamen aus Schweden und Dänemark.
Zweitens, die Eigenschaften, dass ich Spargel in meinem Urin riechen, bitter schmecken und haselnussbraune Augen habe, der Ringfinger länger als der Zeigefinger ist, ich kleine Sommersprossen und glattes, helles Haar habe, wurden richtig prognostiziert. Drittens, für die Krankheitsberichte richtete ich mein Augenmerk auf den Teil „Ausprägung nicht festgestellt“, für Parkinson, Mukoviszidose, Muskeldystrophie, Sichelzellenanämie, Tay-Sachs-Krankheit und vor allem Alzheimer. „Oh Freude, oh unvorhergesehenes Entzücken!“ Danke, Gilbert und Sullivan.
Aber warten Sie, 23andMe sagt auch, dass ich keine kahle Stelle, keine Grübchen, wenig hinteres Kopfhaar, geringfügig zusammengewachsene Augenbrauen, keinen spitz zulaufenden Haaransatz in der Stirnmitte und einen längeren großen Zeh habe, was alles falsch ist. Wenn sich ein Gentest über solche vergleichsweise einfachen körperlichen Merkmale irren kann, was sagt das über seine Genauigkeit bei komplexeren Krankheiten aus? „Unsere Berichte enthalten nicht alle möglichen genetischen Varianten, die diese Eigenschaften beeinflussen könnten“, sagt 23andMe. „Andere Faktoren können Ihr Risiko auch beeinflussen, diese Eigenschaften zu entwickeln, einschließlich Lebensstil, Umwelt und Familiengeschichte.“ Ach, so ist das.
50-50 ist nicht sehr zweckmäßig
Für die Zehenlänge zum Beispiel haben 56 Prozent der Forschungsteilnehmer mit Ergebnissen wie den meinem (15 genetische Marker für einen längeren großen Zeh, 13 für einen längeren zweiten Zeh) einen längeren großen Zeh, aber ich bin bei den 44 Prozent. Eine Vorhersage, die kaum besser als 50-50 ist, ist nicht sehr zweckmäßig. Bei Alzheimer erhöht die Anwesenheit der e4-Variante des APOE-Gens (Apolipoprotein E) das Risiko, Alzheimer zu entwickeln, auf 1 Prozent im Alter von 65, 4 bis 7 Prozent im Alter von 75 und 20 bis 23 Prozent im Alter von 85 Jahren bei Männern (in der gleichen Darstellung von weniger als 1 Prozent, auf 5 bis 7 Prozent und auf 27 bis 30 Prozent bei Frauen). Mit zwei Kopien des Gens (eines von jedem Elternteil) bewegt sich die Nadel bis zu 4 Prozent (im Alter von 65), 28 Prozent (Alter 75) und 51 Prozent (Alter 85) bei Männern (2, 28 und 60 Prozent bei Frauen). Aber der Test „umfasst nicht alle möglichen Varianten oder Gene, die mit der spät einsetzenden Alzheimer-Krankheit assoziiert sind“, so dass ich zum Beispiel, obwohl mir beide e4-Varianten fehlen, immer noch ein Risiko von 1 bis 2 Prozent für Alzheimer im Alter von 75 und 5 bis 8 Prozent im Alter von 85 Jahren habe.
Für weitere Klarheit über diesen Wirrwarr von interaktiven Effekten wandte ich mich an Rudy Tanzi, einen Neurologen der Harvard Medical School und Leiter des Alzheimer Genomprojektes, der viele der Gene für Alzheimer mitentdeckte. Er räumte ein, dass „niemand mit Sicherheit sagen kann, ob eine Berechnung der Varianz von Alzheimer von der Genetik oder dem Lebensstil abhängt“, und fügte hinzu, dass die e4-Variante des APOE-Gens „in 20 Prozent der Bevölkerung und in 50 Prozent der Fälle von Spätfolgen vorhanden ist, aber keine Erkrankung sicherstellt“.
Außerdem „bis wir alle (oder die meisten) der tatsächlichen krankheitsverursachenden Mutationen in diesen 40 Genen identifiziert haben, ist jeder Versuch, eine tatsächliche Zahl an genetischer Varianz festzustellen, sinnlos. In der Zwischenzeit […] können wir nur zuverlässig sagen, dass nicht mehr als 5 Prozent der Genmutationen, die Alzheimer verursachen, es auch tun werden. Das bedeutet, dass in den übrigen Fällen die meisten, wenn nicht alle, fast sicher mit genetischen Einflüssen (risikoübertragend und schützend) verbunden sind, aber in diesen Fällen (95 Prozent) ist es ein Zusammenspiel von Gen und Umwelt/Lebensstil, dass das lebenslange Risiko bestimmt“.
Was sollten wir Babyboomer tun, um uns vor Alzheimer zu schützen? „SHIELD" ist Tanzi's Abkürzung für Schlaf (ununterbrochen sieben bis acht Stunden), Handhabung von Stress, Interaktion (gesellig sein), Exerzieren (Herz-Kreislauf), Lernen (je mehr Synapsen man bildet, desto mehr kann man verlieren, bevor man sie verliert“, sagt Tanzi) und Diät (südländisch: reich an Obst, Gemüse, Olivenöl, Vollkorn). Was den persönlichen Genomtest betrifft, so sind die verwertbaren Ergebnisse aufgrund messbarer Ergebnisunterschiede nach wie vor begrenzt. Aber das gilt für die meisten medizinischen Erkenntnisse und doch saugen wir jedes Wehwehchen auf, warum also nicht auch die Genetik?
Übersetzung: Jörg Elbe
Michael Shermer ist Buchautor, Gründer und Herausgeber des „Sceptic Magazine“ und schreibt für die Zeitschrift „Scientific American“. Sein erstes deutsches Buch „Der moralische Fortschritt“ erscheint im Sommer 2018. Am 11. November 2018 tritt er zusammen mit Richard Dawkins im Urania, Berlin auf.
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