Begründet glauben - Eine Rezension Teil 2/2

Ein Review von Stephan Langes Buch

Begründet glauben - Eine Rezension Teil 2/2

Foto: Pixabay.com / Taken

William Lane Craig - welcher ebenfalls im Buch zitiert wird - hat die Internetseite „www.reasonablefaith.org“ ins Leben gerufen. Möglicherweise hat sich S. Lange bei der Findung seines Buchtitels daran orientiert.

Einzelne Buchinhalte sind im Konjunktiv verfasst und kursiv hervorgehoben. Darauf erfolgt meine atheistische Version einer skeptischen Erwiderung.

Für wen hielt sich Jesus?

Nur weil Jesus von sich behauptete, Gott, der Weltrichter, Weltherrscher und Weltretter zu sein, hieße das nicht, dass seine Aussage auch stimmen würde. „Jesu Selbstanspruch, Repräsentant des gegenwärtigen und kommenden Gottesreiches zu sein, seine Freiheit gegenüber der Thora, seine souveräne Jüngerberufung, seine Gewissheit, die entscheidende Gestalt in Gottes Gerichtshandel und der gegenwärtige sowie kommende, von Gott inthronisierte Menschensohn zu sein, lassen nur den Schluss zu, dass Jesus einen ungeheueren Anspruch für seine Person erhob, der von keinem Juden vor und nach ihm so gestellt wurde (S. 105 f.).“

Dass Jesus die Wendung Menschensohn verwendet hat, halten die meisten neutestamentlichen Forscher für wahrscheinlich. Aber in welchem Sinn? Man unterscheidet drei Bedeutungsrichtungen. Die Wendung Menschensohn begegnet in den Leidensankündigungen Jesu. Doch diese gelten in der Forschung stark mehrheitlich als nachösterliche Erfindung (sog. „vaticinia ex eventu“ = „Weissagung vom Ergebnis her“). Daneben gibt es bei Jesus Worte vom kommenden Menschensohn. Die meisten Forscher gehen davon aus, dass Jesus, wenn er vom kommenden Menschensohn gesprochen hat, sich nicht mit diesem identifiziert hat. Jesus hätte dann wie andere vor ihm Endzeitvorstellungen vertreten, zu denen eben auch ein Menschensohn gehört. Wie andere hätte auch er selbst auf ihn gewartet. Und schließlich finden sich auch Worte vom gegenwärtigen Menschensohn, wie zuweilen die Möglichkeit besteht, diese einfach nur mit „Ich“ zu übersetzen (Mt 8, 20) (Quelle: Der Dogmenwahn, Heinz-Werner Kubitza, 2015, Verlag: Tectum, vgl. S. 323 f.).

Die Plausibilität der Auferstehung

Wenn Gott existierte und er Jesus von den Toten auferwecken wollte, dann läge Jesus´ Chance, auferweckt zu werden, bei 100%. Die Frage, ob die Auferstehung wirklich stattgefunden habe oder nur symbolisch zu verstehen sei, hänge einzig und allein von der Frage ab, ob Gott existiere (S. 116). S. Lange zitiert William L. Craig, dessen Aussage er voll zustimmt: „Die Plausibilität der Auferstehung wächst exponentiell, sobald wir sie in ihrem historischen Kontext, nämlich Jesu beispiellosen Leben und radikalen Behauptungen über sich selbst, und in ihrem philosophischen Kontext, nämlich den Belegen für Gottes Existenz, betrachten. Sobald man die Ansicht übernimmt, dass Gott existiert, ist die Hypothese, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat, nicht weniger plausibel als die anderen (S. 138).“

S. Lange versucht hier zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Würde man an Gott glauben, wäre es nur ein kleiner Schritt zum Glauben an Jesu Auferstehung. Dabei dürften lediglich schon gläubige Leser sich diesen Bären aufbinden lassen. Wie zuvor erwähnt, haben wir es hier wieder mit dem mittlerweile bekannte Proliferationsproblem zu tun. Bei Gerd Lüdemann lesen wir: Die Auferstehung ist ein Wunder. „Jesus ist auferstanden“ heißt nichts anderes als: der gekreuzigte Jesus ruft heute in den Glauben (Quelle: Die Auferstehung Jesu, G. Lüdemann, 1994, Radius Verlag Stuttgart, vgl. S. 23).

Was ist mit der Auferstehung genau gemeint?

Wenn jemand aus der jüdischen Kultur (wie Paulus) den Begriff Auferstehung benutzt, meine er damit stets eine körperliche Auferstehung nach (!) einem Leben nach dem Tod. Diesen Punkt könne man gar nicht oft genug betonen, da viele heutzutage unter dem Wort „Auferstehung“ allgemein das Leben nach dem Tod verstehen würden (S. 112).

Diesen Hinweis fand ich persönlich hilfreich, da ich diesbezüglich auch eine falsche Vorstellung von der Auferstehung hatte.

Die ersten Christen glaubten nicht einfach an ein Leben nach dem Tod. Wenn Sie vom Himmel als einem Ziel sprachen, das nach dem Tod auf einen wartet, sahen sie dieses himmlische Leben als eine zeitlich begrenzte Situation an, hin zu dem Weg zur letztendlichen Auferstehung des Körpers. Die Richtigkeit oder Falschheit des christlichen Glaubens hänge einzig und allein von der Frage ab: Ist Jesus auferstanden (S. 112 f.)? Etwas später ergänzt S. Lange folgendes: Für Juden wäre diese Auferstehung ein zweistufiger Prozess gewesen. Letztlich würde er in der körperlichen Auferweckung münden, im Jüdischen Denken komme es dazu aber erst am Ende der Tage, und zwar vor allen Gerechten. Dass ein Einzelner (Jesus) inmitten der Weltgeschichte (wenn noch Krankheit, Tod und Ungerechtigkeit herrschen) von den Toten aufersteht, wäre im jüdischen Denken ausgeschlossen und nicht vorgesehen gewesen. Für Juden wäre die Auferstehung genauso unvorstellbar gewesen, wie sie es für viele Menschen auch heute noch sei (vgl. S. 126).

Wenn S. Lange von Paulus - jemanden aus „der jüdischen Kultur“ - spricht, wird allerdings nicht klar, welcher Art Judentum Paulus angehörte. Paulus war palästinischer Jude pharisäischer Prägung und damit ehemaliger Pharisäer (Quelle: Jesus und das Judentum, Martin Hengel, Anna Maria Schwemer, Verlag: Mohr Siebeck, 2007, S. 630). Paulus entschloss sich den Griechen zuliebe zu einem Kompromiss: er predigte die Auferstehung in einem anderen als irdischen Leibe, denn Fleisch und Blut könnten das Reich Gottes nicht erben (1. Kor. 15) (Quelle: Jüdische Apologetik im neutestamentlichen Zeitalter. Dr. J. Bergmann, 1908, Verlag: Georg Reimer, S. 122). Auf die zuletzt genannte Bibelstelle verweist S. Lange auf S. 112.

Aber was ist nun genau unter einem nicht irdischen Leib zu verstehen? G. Lüdemann schreibt: Der pneumatische Leib (das Auferstehungs-Ich) ist nicht so etwas wie ein ätherischer Körper. Mit der Bezeichnung „pneumatischer Leib“ wird die Identität mit dem irdischen Ich behauptet, nur entzieht sich der pneumatische Leib jeder Vorstellung. Nur mit Bildern und Vergleichen kann Paulus ausdrücken, was er meint (Quelle: Die Auferstehung Jesu, G. Lüdemann, 1994, vgl. S. 59).

Wenn S. Lange von „dem jüdischen Denken“ oder „den Juden“ schreibt, fällt unter den Tisch, dass es zur Zeit Jesu vier jüdische Sekten (Pharisäer, Sadduzäer, Essener, Zeloten) gab! Unbegreiflich erschien der Auferstehungsglaube den Sadduzäern; auch die Essener verwarfen ihn (Quelle: Jüdische Apologetik im neutestamentlichen Zeitalter. Dr. J. Bergmann, 1908, Verlag: Georg Reimer, S. 122).

Die Ursache für die Auferstehungsleugung der Sadduzäer dürfte ihr theologischer Konservatismus gewesen sein. Die einzige grundlegende Autorität für sie war der Pentateuch, der nur buchstäblich gedeutet wurde. Naturgemäß spielte die Frage nach Gerechtigkeit für die leidenden Armen, die für das Aufkommen eines Jenseitsglaubens in Israel so wichtig gewesen war, für die Sadduzäer keine Rolle, da sie ja einflussreiche gesellschaftliche Positionen innehatten und ein entsprechend sorgloses Leben führen konnten. Nach der rabbinischen Tradition geht ihre Leugnung eines jenseitigen Gerichts und der Totenauferstehung auf ein radikales Nein gegenüber jeglichem Lohngedanken zurück (Quelle: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt (ANRW), Hildegard Temporini und Wolfgang Haase, Verlag: Walter De Gruyter Berlin, S. 246 f.).

Kurzum: Es waren die Dogmatiker, die Jesus zu seiner Himmelfahrt verholfen haben. Ohne die wortreiche Hilfe hätte er selbst das nie geschafft und als frommer Jude vermutlich auch gar kein Interesse daran gehabt (Quelle: Der Dogmenwahn, Heinz-Werner Kubitza, 2015, Verlag: Tectum, S. 350).

Gläubige Naturwissenschaftler

S. Lange möchte seinen Lesern beim Thema Auferstehung mit gläubigen Naturwissenschaftlern unter die Arme greifen. Er schreibt:

„Vielleicht hilft es Ihnen zu wissen, dass davon sogar Leute überzeugt sind, die zu den Großmeistern naturwissenschaftlicher Forschung gehören“. Dann zählt er z. B. folgende Naturwissenschaftler auf: den Havard-Professer für Biologie und Mathematik Martin Nowak (einer der weltweit führenden Forscher auf dem Gebiet der Evolutionsbiologie), der renommierte Genetiker und Erbgut-Entzifferer Francis Collins und den weltberühmten Quantenphysiker Anton Zeilinger. Wer also gehofft hätte, dass die Auferstehung Jesu nur von der einfach gestrickten Bevölkerung ernst genommen werden würde, würde gewaltig irren (vgl. S. 114 f.).

Auch heute ist die Zahl religiöser Wissenschaftler noch beachtlich, wobei dies interessanterweise mehr für Durchschnittswissenschaftler gilt. Herausragende Wissenschaftler indes sind deutlich weniger religiös. In den USA etwas erweisen sich heute knapp zwei Drittel aller Elitewissenschaftler als Atheisten oder Agnostiker. Das „Argument vom religiösen Wissenschaftler“, wie man es nennen könnte, ist jedoch ein psychologisch-soziologisches, kein philosophisches, und daher irrelevant für die Inkompatibilitätsthese, denn diese ist metaphysischer und methodologischer Natur. Schließlich ist es aus psychologischer Sicht nicht ungewöhnlich, dass Menschen inkohärente Auffassungen vertreten. Wissenschaftler sind davon nicht ausgenommen. Doch wie man leicht zeigen kann, haben selbst tiefgläubige Wissenschaftler in ihren formalen Theorien keine religiösen Konzepte benutzt. Bezüge zum lieben Gott mögen zwar im naturphilosophischen Beiwerk ihrer Theorien immer wieder aufscheinen, im formalisierbaren Kern der Theorien, wie etwa bei Newton oder Maxwell, kommen indes keine Variablen vor, die sich auf göttliche Kräfte oder Energien beziehen. Dass die Idee eines göttlichen Schöpfers im Entdeckungszusammenhang eine heuristisch positive Rolle gespielt sowie auch teilweise als erklärender Faktor für den in früheren Zeiten noch nicht so deutlichen größeren naturphilosophischen Zusammenhang fungiert haben mag, braucht man nicht zu bestreiten. Wir werden also bei Naturwissenschaftlern ein Spektrum vorfinden, das vom herausragenden Naturphilosophen bis zum bloßen, philosophisch desinteressierten Anwender methodischer Routine reicht (Quelle: Naturalismus, Martin Mahner, 2019, Verlag: Alibri, vgl. S. 182).

Die Frauen und das leere Grab

Damit die Botschaft der Auferstehung Jesu überhaupt Fuß fassen konnte, musste das Grab leer sein (vgl. S. 118). Frühmorgens am „Ostersonntag“ wären einige Jüngerinnen zum Grab gegangen, fanden den Stein weggewälzt und das Grab ohne den Leichnam Jesu. Darauf seien sie zitternd zu den Jüngern gelaufen und hätten berichtet. Das sei insofern informativ, als die Aussage von Frauen im Judentum der damaligen Zeit keine Gültigkeit hatte. Beim jüdischen Geschichtsschreiber Josephus lese man: „Das Zeugnis der Frau ist nicht rechtsgültig wegen der Leichtfertigkeit und Dreistigkeit des weiblichen Geschlechts.“ Hätte man das leere Grab glaubhaft machen wollen, hätte man also gerade nicht Frauen als Zeugen installiert. Dass man es doch tat, spreche gerade für die Historizität des leeren Grabes: Weil „unglaubwürdige“ Frauen als erste Zeugen benannt wurden, könne der Grund hierfür nicht Erfindung oder Einbildung gewesen sein, sondern spreche klar für das tatsächliche Geschehen (vgl. S. 119 f.). Der archäologische Befund des Grabes, das man heute in der Jerusalemer Grabeskirche besichtigen könne, stimme in überzufälliger Weise mit dem literarischen Befund überein (S. 120 f.).

Diese Aussagen laufen geradezu konträr zu denen von G. Lüdemann. Dieser schreibt, die Frauen hätten das leere Grab eigentlich gar nicht entdeckten. Ihr Entsetzen sei nicht auf diese Entdeckung zurückzuführen, sondern auf die unerwartete Begegnung mit dem Engel (Quelle: Die Auferstehung Jesu, G. Lüdemann, 1994, S. 130). Außerdem sei das Grab unbekannt gewesen. Es wäre erst 300 Jahre später „wiederentdeckt“ worden, als man es brauchte (Quelle: Die Auferstehung Jesu, G. Lüdemann, 1994, S. 134). G. Lüdemann verweist hier auf das erste Konzil von Nicäa im Jahre 325.

Zur Glaubwürdigkeit des Zeugnisses der Frau lesen wir, es gäbe keine allgemeine antike Auffassung von der Frau als eine nicht vollwertige Zeugin (die Zeugenunfähigkeit der Frau gelte nur für das antike Judentum)(Quelle: Die Auferstehung Jesu, G. Lüdemann, 1994, S. 116). Auch könne der Gang von Maria Magdalena (mit den anderen beiden Frauen) am Tag nach dem Sabbat zum Grab Jesus schwerlich geschichtlich genannt werden. Die Quelle sei eine apologetische Legende mit epihanieähnlichen (Erscheinung einer Gottheit - besonders Christi - unter den Menschen) Zügen, die ohne das Kerygma (Verkündigung des Evangeliums) nicht existiert haben dürfte. Dessen Träger(innen) „folgerten“ aus der Botschaft, daß der Gekreuzigte auferstanden sei: Das Grab Jesu sei leer gewesen. Aus dem „Dogma“ wurde Geschichte erst gefolgert (Quelle: Die Auferstehung Jesu, G. Lüdemann, 1994, vgl. S. 138). Außerdem hätten im Falle einer Kenntnis des Grabes Jesu die frühen Christen dieses verehrt, und darüber wären Traditionen erhalten (Quelle: Die Auferstehung Jesu, G. Lüdemann, 1994, vgl. S. 58).

Uta Ranke-Heinemann schreibt in Verbindung mit dem leeren Grab und Paulus folgendes:

Das leere Grab am Morgen des Ostersonntags ist eine Legende. Das zeigt die einfache Tatsache, dass der Apostel Paulus, der entschiedenste Verkünder der Auferstehung Christi, zudem der früheste neutestamentliche Schriftsteller, davon nichts sagt. Es existiert für ihn nicht. Es bedeutete ihm also auch nichts, und das heißt: Ein leeres Grab ist für die Wahrheit der Auferstehung, die der so nachdrücklich verkündet, ohne Bedeutung. Für Paulus hängt zwar das ganze Christentum von der Wahrheit der Auferstehung Christi ab (1 Kor15, 14), aber mit einem leeren Grab hat das für Paulus nichts zu tun. Und ganz offenkundig weiss er auch gar nichts von einem solchen. Wenn er also nicht davon gehört hat, so ist das ein Beweis, dass es ein solches leere Grab nicht gegeben hat, dass also die Berichte darüber erst später entstanden sein müssen. Der Osterglaube erfolgte nicht auf Grund eines leeren Grabes. Die Legende vom leeren Grab entwickelte sich vielmehr aus dem Osterglauben (Quelle: Nein und Amen, Mein Abschied vom traditionellen Christentum, Uta Ranke-Heinemann, 9. Auflage, Wilhelm Heyne Verlag München, S. 187 f.).

Auferstehung: Lüge, Einbildung oder Wahrheit?

Wenn man die Auferstehungsbotschaft der ersten Christen betrachte, stünden drei Optionen zur Auswahl: Lüge, Einbildung, Wahrheit (vgl. S. 130). Es wäre nicht vernünftig davon auszugehen, dass jemand freiwillig sein Leben für eine Botschaft opfert, von der er wüsste, dass es sich um eine hausgemachte Lüge handeln würde. Eine Lüge, die im Diesseits mit Gefängnis, Folter und Tod und im Jenseits mit ewiger Qual, Abscheu und Verdammnis bestraft würde. Wer einen einfachen Menschen ernsthaft als Gott verehrt und verkünden würde, würde gegen das erste und wichtigste Gebot „Du sollt keine anderen Götter haben neben mir“ (2 Mos 20,3) verstoßen (S. 132 f.).

Bezüglich der „Wahrheit“ sollte man sich vergegenwärtigen, dass die Evangelisten keine Historiker waren, sie wollten von vornherein keine Biographie schreiben, sondern sie waren Exponenten der Gemeinden, für die sie schrieben. Sie waren selbst gläubig und wollten Glauben wecken, und sie taten dies u. a. auch dadurch, dass sie Worte und Taten Jesu einfach hinzuerfanden. Der Zweck heiligte für sie die Mittel. Weil dieser Umstand heute ein Allgemeinplatz in der neutestamentlichen Forschung ist, sprechen Theologen in ihren Kommentaren schon lange nicht mehr von der Wahrheitsliebe der Verfasser, sondern von deren Glauben (Quelle: Der Dogmenwahn, Heinz-Werner Kubitza, 2015, Verlag: Tectum, S. 109).

Zur Einbildung schreibt S. Lange:

Halluzinationen würden für gewöhnlich über einen längeren Zeitraum auftreten und in diesem Rahmen zumeist stärker oder schwächer werden. Die Jesuserscheinungen der ersten Christen hätten sich aber über einen Zeitraum von 40 Tagen sehr häufig ereignete und hätten dann schlagartig aufgehört. Keiner der ersten Christen (außer Stephanus und Paulus) hätte jemals wieder behauptet, eine ähnliche Erfahrung gemacht zu haben. Diese Muster entspreche nicht dem von Halluzinationen. Aufschlussreich sei in diesem Zusammenhang auch der älteste und historisch zuverlässigste Bericht für die Ostererlebnisse der ersten Christen: In seinem Brief an die Gemeinde in Korinth berichte Paulus, dass erst Petrus von einer Jesuserscheinung erzählt, später dann alle Jünger. Daraufhin hätten 500 seiner Anhänger gesagt, sie hätten Jesus lebend gesehen (vgl. S. 134). Nach William L. Craig hätten die Halluzinationen höchstens dazu geführt, dass die Jünger behauptet hätten, Jesus wäre in den Himmel aufgenommen worden, und nicht von den Toten auferstanden (vgl. S. 135). Zuvor wird von S. Lange ein großer Kritiker der Auferstehung - Gerd Lüdemann - erwähnt (S. 122).

Dass die Erscheinungen 40 Tagen nach Ostern plötzlich aufhörten, liegt an Christi Himmelfahrt. In Apg 1, 9 (Quelle: Bibelserver.com) ist zu lesen: „Und als er das gesagt hatte, wurde er vor ihren Augen emporgehoben und eine Wolke nahm ihn auf, weg vor ihren Augen.“

Nach Gerd Lüdemann stelle diese Erscheinung eine Art Gründungslegende der christlichen Gemeinde dar und könne auf das hinter Apg 2 liegende Ereignis (Pfingsten) zurückgeführt werden (Quelle: Die Auferstehung Jesu, G. Lüdemann, 1994, S. 116).

Die Zahl „über 500 Brüder“ sei im Sinne von „eine riesige Zahl“ nicht wörtlich zu verstehen (Quelle: Die Auferstehung Jesu, G. Lüdemann, 1994, vgl. S. 119). Die Erscheinung vor „mehr als 500“ lasse sich als historisches Phänomen plausibel als Massenekstase vertreten. Die Erscheinung vor den „mehr als 500“, bei der auch bisherige Visionsempfänger anwesend waren, bündle und bestätigte alle bisherigen Einzelerscheinungen und verlieh der Gruppe damit einen Kraftschub ohnegleichen (Quelle: Die Auferstehung Jesu, G. Lüdemann, 1994, Radius-Verlag Stuttgart, S. 123).

Die Religonspsychologie weiß sehr wohl von Halluzinationen. Witwen und Witwer - bei einer Untersuchung in Wales waren es etwa die Hälfte (W.D. Rees 1971) - sehen manchmal am helllichten Tag den verstorbenen Partner (Zeitung lesen, in der Tür stehen, lächeln), hören ihn (wie er die Tür aufschließt, sie ruft, ihnen einen Rat erteilt), oder fühlen ihn auf deutliche und tröstliche Weise gegenwärtig. Solche „Erscheinungen“, die andere in der Wohnung nicht sehen, können über mehrere Jahre hin erlebt werden. Die Hinterbliebenen sprechen nur ungern darüber, aus Angst, man könnte sie für psychisch krank halten. Tatsächlich handelt es sich jedoch nur selten um pathologische Halluzinationen, weil die Betroffenen sie weiterhin als „nicht wirklich“ empfinden und sich nicht abnorm verhalten. Solange sie nicht mit chronischem, depressivem Desinteresse an der Außenwelt verbunden sind, sollte man dies Pseudohalluzinationen und Illusionen nicht als Anzeichen eines stagnierenden, krankhaften Trauerverlaufs werten. Im Gegenteil, in vielen Fällen sind sie wohl eine Art von „aktiver Imagination“ (C. G. Jung), in der die Hinterbliebenen ihre Wünsche und Vorwürfe gegenüber den Verstorbenen bearbeiten und damit den Trauerprozeß voranbringen (W.F. Matchett 1972) (Quelle: Religionspsychologie, Bernhard Grom, 1992, Verlag Kösel, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, S. 158). Halluzinationen verhindern wohl eine Panikreaktion und ermöglichen ein angemessenes Verhalten (Quelle: Religionspsychologie, Bernhard Grom, 1992, Verlag Kösel, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, S. 304).

Die entscheidende Frage ist nun jedoch, ob die Jesuserscheinungen stattgefunden haben könnten. Der Religionspsychologe Bernhard Grom schreibt dazu:

„Im Gespräch mit der christlichen Theologie kann man sich fragen, ob die „Erscheinungen“ den auferstandenen Jesus, von denen die Bibel berichtet, als Gewißheitserlebnisse von seiner fast physischen Gegenwart zu deuten sind, die durch visionäre und auditive Elemente näher erläutert wurden. Diese Frage läßt sich nicht schlüssig beantworten. Denn die Bibel verwendet in diesem Zusammenhang offensichtlich andere Kategorien als die moderne Sprache und Psychologie. Nach Auskunft von Bibelwissenschaftlern sind die Erscheinungserzählungen form- und traditionsgeschichtlich zu wenig geklärt, als daß derzeit eine verläßliche psychohistorische Rekonstruktion möglich wäre. Man kann nicht eindeutig feststellen, worin diese Texte das Spezifische dieser Erscheinungen sehen, die für sie ja nur eine bestimmte Zeit lang erfolgten - und nicht nur einzelnen, sondern auch ganzen Gruppen zuteil wurden - und die von späteren Visionen, etwa eines Stephanus, verschieden sind. Ebenso wenig weiß man, welche Bedeutung sie für die Entstehung des Osterglaubens hatten, den das Neue Testament oft auch unabhängig von den Erscheinungserzählungen bezeugt (Quelle: Religionspsychologie, Bernhard Grom, 1992, Verlag Kösel, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, S. 307).“

Hoffnung

Die Hoffnung würde einem helfen, sich nicht mit den Zuständen und Gegebenheiten im Hier und Jetzt zufrieden geben zu müssen, weil man wisse: Eines Tages würde Gott alles verändern (S. 144). Wer wüsste, dass er mit jedem einzelnen Tag der Ewigkeit entgegengehe und der Tod nicht das Ende sei, sondern der Übergang in das Große, das noch komme, der könne bewusster und entspannter im Hier und Jetzt leben. Es gäbe nichts zu verpassen (S. 146 f.).

Hier muss kritisiert werden, dass es Religiosität auch ohne das Motiv Todesfurcht bzw. Unsterblichkeitshoffnung gab und gibt. Das alte Israel verehrte Jahwe als Gott des Bundes und der Schöpfung lange, bevor es an ein Weiterleben nach dem Tod glaubte. Und bei praktisch allen Umfragen in westlichen Ländern erklärte ein beachtlich hoher Anteil der Bevölkerung - oft über 30 %, darunter auch Christen, die den Gottesdienst besuchen - er glaube an Gott, aber nicht an ein Leben nach dem Tode (P. Delooz 1971) (Quelle: Religionspsychologie, Bernhard Grom, 1992, Verlag Kösel, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, vgl. S. 83 f.).

Dagmar Fenner schreibt zum Leben nach dem Tod: Da die meisten religiösen Menschen entweder an die Auferstehung nach monotheistischer oder an die Reinkarnation nach östlichen Religionen glauben, wurde in den bisherigen empirischen Untersuchungen kaum zwischen Religiosität und Glaube an ein Leben nach dem Tod differenziert. In einer Überblicksstudie ergaben 24 von 36 Studien tatsächlich wie zu erwarten einen zumindest schwachen negativen Zusammenhang zwischen Todesangst und Glauben an ein Leben nach dem Tod, 7 zeigten keinen Zusammenhang und 3 einen unerwartet positiven. Wurde allerdings ohne Differenzierung nur nach der Korrelation von Religiosität und Todesangst gefragt, war die Verteilung noch ausgewogener. Untersuchungen zu verschiedenen Graden an Religiosität förderten einen kurvenlinearen Zusammenhang zutage, demzufolge die Todesangst am höchsten unter mittelstark Religiösen ist, wohingegen stark Gläubige genauso wie auch schwach oder gar nicht Religiöse wenig Angst zeigten. Obgleich empirische Studien also zu inkonsistenten und uneindeutigen Ergebnissen führten und die dafür verantwortlichen unterschiedlichen Bewältigungsstrategien unzureichend geklärt sind, ist der Glaube an ein Leben nach dem Tod für viele Menschen eine nützliche Strategie des „kognitiven Umstrukturierens“. Hingegen hat es sich als weit verbreitetes Vorurteil entpuppt, dass alle nichtreligiöse Menschen von heftiger Todesangst gequält werden und deswegen zwangsläufig unglücklicher sind. Denn sie können zwar nicht auf ein ewiges Leben hoffen, brauchen aber auch keine Hölle zu fürchten. Für sie ist der Tod ein natürliches Ereignis eines Auslöschens aller Empfindungen, Bedürfnisse und Wünsche des Betroffenen, so dass nach Epikur eine abgeklärte Haltung angemessen ist: „Das schauerlichste aller Übel, also der Tod, geht uns nichts an: denn solange wir da sind, ist der Tod nicht da, wenn aber der Tod da ist, sind wir nicht mehr da.“ Die Bewältigung der Todesangst stellt also keine spezifisch religiöse Coping-Strategie dar, sondern religiöse Vorstellungen können Todesangst sogar noch verstärken. Pauschale Aussagen darüber, ob es religiösen Menschen besser oder schlechter gelingt als nichtreligiösen, innere und äußere Anforderungen oder Ereignisse zu bewältigen, scheinen angesichts der hohen Komplexität psychischer Prozesse und der großen Vielfalt an Coping-Strategien letztlich wenig sinnvoll (Quelle: Religionsethik, Ein Grundriss, Dagmar Fenner, 2016, Verlag: Kohlhammer, vgl. S. 119 f.).

Nun komme ich auf das Thema Hoffnung zu sprechen. Empirisch unplausibel ist die These, moralische Motivation setze die Hoffnung auf den „Sieg des Guten“ oder die „Ankunft des Reichs Gottes“ voraus. Misslicherweise wurden viele Begriffe wie „Hoffnung“ oder „Sinn“ Jahrtausende hinweg von der christlichen Religion okkupiert, wo dass eine säkulare Begriffswendung einen schweren Stand hat. Zwar setzt die Durchführung insbesondere von langwierigen komplizierten Handlungsprozessen unstreitig die Hoffnung oder Zuversicht auf das Erreichen des anvisierten Zieles voraus. Die immanente Hoffnung als indirekte Bedingung des Handelns hat aber mit Gott und der Ankunft seines Reiches wenig zu tun. Sie ist im säkularen Verständnis nur dann begründet und angebracht, wenn ausreichende Informationen über die Kompetenzen der Handlungssubjekte und die aktuelle Handlungssituation eingeholt wurden und sich die Zielerreichung als wahrscheinlich herausstellt. Damit das eigene moralische Handeln dem einzelnen Menschen angesichts seiner begrenzten Lebenszeit und des bescheidenen Aktionsradius nicht sinnlos vorkommt, schließt er sich rationalerweise mit anderen Menschen zu gemeinsamen moralischen Projekten zusammen: Menschen verfolgen „überindividuelle“ moralische Ziele, die von sehr vielen gemeinsam getragen werden und aufgrund ihrer langfristigen Perspektive die zeitliche Existenz des Einzelnen sprengen. Zu denken ist etwa an das aktuelle Ziel der Weltgemeinschaft, die Klimaerwärmung zu stoppen. Um angesichts der weltweiten Kriege, Ungerechtigkeiten und Naturverschmutzungen nicht in Ohnmacht zu verfallen, reicht im Normalfall die Identifikation mit überindividuellen Projekten oder Institutionen der Vereinten Nationen, die wenigsten einen geringen moralischen Fortschritt erkennen lassen. Es liegt in der moralischen Verantwortung des Menschen, gemeinsam für Verhältnisse „zu kämpfen“, die begründete Hoffnung auf eine schrittweise Besserung zulassen. Während diese Bedingungen in westlichen Wohlfahrtsstaaten mit allgemeiner Grundsicherung und zuverlässigen demokratischen Strukturen gegeben sein dürften, kann in anderen Regionen der Welt Gott als „Prinzip Hoffnung“ letzter Rettungsanker sein. Unter extremen Lebensbedingungen mag nur noch der religiöse Glaube helfen, negative motivationale Faktoren wie Resignation und Handlungsverweigerung auszuschalten (Quelle: Religionsethik, Ein Grundriss, Dagmar Fenner, 2016, Verlag: Kohlhammer, S. 168 f.).

Hat Gott das letzte Wort?

Es hätte im Laufe der Geschichte jede Menge Christen gegeben, die sich nicht mit Ruhm bekleckert hätten. Das bestätige nur die Tatsache, dass wir es bei Christen auch nur mit normalen und fehlbaren Menschen zu tun hätten. Es gäbe aber auch Christen, die in dieser Welt sehr viel zum Guten verändert hätten. Bezeichnenderweise seien das meist die, die ein ganz farbiges Bild von der Ewigkeit hätten. Menschen, die einen scharfen Blick dafür hätten, dass nicht die Welt, sondern Gott das letzte Wort hätte, und die sich selbst nicht einreden ließen, dass man nach den Spielregeln dieser Welt zu leben hätte (S. 143 f.).

Dass sich eine Menge Christen nicht mit Ruhm bekleckert hätten, ist richtig - darauf möchte ich genauer eingehen. Max Horkheimer wies darauf hin, dass Religionen in der Geschichte immer wieder eine große Affinität zu einer gewalttätigen Praxis hatten. Zu Oft sind sie als menschenverachtende Institutionen aufgetreten und haben ihre eigentliche Botschaft, nämlich die Botschaft von einem befreienden Gott, pervertiert. Hierfür sind die Kreuzzüge und die Hexenverbrennung ein trauriges Bespiel. Das Leid und das Leiden, das die Religionen selbst verursacht haben, werden für viele Menschen zum Grund für die Haltung einer entschiedenen Gott- und Religionslosigkeit (Quelle: Mensch- Leid-Gott, Herbert Rommel, 2011, Verlag: Ferdinand Schöningh (Paderborn), vgl. S. 98).

Wenn S. Lange der Meinung ist, es zeuge von einem scharfen Blick, wenn Gott und nicht der Mensch (oder die Welt) das letzte Wort hätte, unterliegt er einem Missverständnis. Für die neuzeitliche säkulare Ethik ist nach der „Wende zum Subjekt“ die Idee einer auf das Subjekt gegründeten Ethik der Autonomie charakteristisch, bei der sich der Mensch nicht länger von äußeren normgebenden Instanzen wie Natur, kosmischer Ordnung, göttlichem Willen oder Traditionen bestimmen lässt. Welches Handeln moralisch richtig und allgemein verbindlich ist, soll der Mensch vielmehr mittels Reflexion auf innere, im Subjekt liegende Zustände, Vermögen oder Kompetenzen wie Freiheit, Vernunft, Freude, Interessen oder kognitive, sprachliche oder pragmatische Voraussetzungen moralischen Urteilens und Handelns selbst bestimmen. Kant zufolge kann der menschliche „Wille“ bzw. die „praktische Vernunft“ durch eine Reinigung von allen empirischen Bestimmungsgründen ein schlechthin objektives Moralprinzip begründen, dem allein als seinem eigenen Gesetz er sich unterwerfen soll. Kant lehnte wie viele andere Aufklärer eine „geoffenbarte“ oder „Offenbarungsreligion“ mit göttlichen Handlungsanweisungen ab und billigte nur eine „natürliche“ oder „Vernunftreligion“, die zu nichts anderem verpflichte als zum Handeln nach dem Moralprinzip des Kategorischen Imperativ: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetzt werde“.  (Quelle: Religionsethik, Ein Grundriss, Dagmar Fenner, 2016, Verlag: Kohlhammer, vgl. S. 57 f.).

Offenbar hat S. Lange auch noch nie von dem Eutyphron-Dilemma bzw. der Divine Command-Theory gehört (Quelle: Religionsethik, Ein Grundriss, Dagmar Fenner, 2016, Verlag: Kohlhammer, vgl. S. 142 f.). Darauf werde ich jetzt nicht genauer eingehen - darüber Nachforschungen anzustellen sei der „Autonomie“ des interessierten Lesers überlassen.

Da wir immer noch fragen können „Ist das Gottgewollte auch gut?“, sind die beiden Prädikate „gottgewollt“ und „gut“ nicht von vornherein identisch, und eine schlichte Behauptung ihrer Identität würde der Willkür Tür und Tor öffnen. Auch die Gott zugeschriebenen Prädikate Allgüte und moralische Vollkommenheit können die göttlichen Normen nicht legitimieren, wenn die für eine Beurteilung der moralischen Qualität notwendigen moralischen Maßstäbe lediglich aus Gott selbst abgeleitet werden. Eine theonome Letztbegründung im Rekurs auf eine transzendente Autorität als Grund für unbedingte Verpflichtungen erscheint aus säkularere philosophisch-ethischer Perspektive daher als „moralisch dubios“ und „geltungstheoretisch unnötig und unmöglich“. Da der Begründungsgang einfach beim souveränen Willen Gottes für beendet erklärt wird, liegt anstelle einer Letztbegründung ein dogmatischer Abbruch des Verfahrens vor. Wenn religiöse Menschen sich aus der Perspektive des Glaubens an göttlichen Geboten orientieren, weil sie Gott lieben, ihm vertrauen oder vom „numinosen Imperativ“ überwältigt werden, handelt es sich eher um psychologische Erklärungen, nicht um eine geltungstheoretische Begründung (Quelle: Religionsethik, Ein Grundriss, Dagmar Fenner, 2016, Verlag: Kohlhammer, vgl. S. 143).

In der christlichen Theologie geht man heute tatsächlich meist davon aus, dass die Geltung des moralisch Richtigen auch unabhängig von Gott erkannt oder begründet werden kann (Quelle: Religionsethik, Ein Grundriss, Dagmar Fenner, 2016, Verlag: Kohlhammer, vgl. S. 144).

Willensfreiheit

Zur Recht fragt sich S. Lange, wie plausibel die vernünftigen Gründe (von der Existenz Gottes bis hin zur Auferstehung Jesu) sind, wenn es zur größten aller Fragen kommt: Warum lässt Gott Leid zu? (vgl. S. 158). Gott hätte uns Menschen als ein freies Gegenüber erschaffen und wünsche sich nichts sehnlicher, als mit jedem von uns eine persönliche und vertrauensvolle Beziehung zu haben. Unsere persönliche Entscheidungsfreiheit sei gerade dafür überaus wichtig (S. 162). Gott hätte keine Welt erschaffen können, in der sich Menschen immer freiwillig gegen das Böse entscheiden. Weil er uns mit einem freien Willen geschaffen hätte, könne er nicht garantieren, dass wir uns nur für das Gute entscheiden. Gott schränke seine Allmacht freiwillig ein - zu unseren Gunsten und zu seinem Risiko (S. 163). Es sei nicht fair, Gott die Schuld für etwas in die Schuhe zu schieben, das wir verursacht hätten (S. 164).

Bei dieser „Argumentationsstrategie“ handelt es sich um die „free-will-defence“. Unter der Annahme, dass Gott den Menschen als ein Wesen erschaffen hat, über dessen freie Willensentscheidungen selbst Gott kein Vorherwissen haben kann, bleiben zwei Probleme bestehen: Zum einen ist eine solche Einschränkung des göttlichen Wissens nicht mit dem traditionellen Gottesprädikat vereinbar, dass Gott allwissend ist. Hier bleibt ein logischer Widerspruch bestehen. Und zum anderen rechtfertigt es die Quantität des Übels, das Menschen mit ihren pervertierten Willensentscheidungen verursachen, nicht, den freien Willen als einen hohen moralischen Wert zu verteidigen (Quelle: Mensch-Leid-Gott, Herbert Rommel, 2011, Verlag: Ferdinand Schöningh Paderborn, vgl. S. 113).

Dass Gott keine Welt erschaffen hätte können, in der sich Menschen immer freiwillig gegen das Böse entscheiden, lässt sich schon in der 1710 erschienenen „Theodizee“ von Wilhelm Leibniz finden. Er vertrat die Auffassung, dass Gott die „beste aller möglichen Welten“ erschaffen habe (Quelle: Mensch-Leid-Gott, Herbert Rommel, 2011, Verlag: Ferdinand Schöningh Paderborn, vgl. S. 128).

Dann fährt S. Lange fort: So unbequem die Beobachtung auch sei, seien die allermeisten Leidsituationen, die wir gerne Gott anlasten, hausgemacht (S. 164).

Wenn S. Lange von den „allermeisten“ Leidsituationen spricht, meint er wohl die moralischen Übel, die „natürlichen“ Übel (z. B. Naturkatastrophen wie Erdbeben) sind jedoch schwieriger zu rechtfertigen! Der Theologe Richard Swinburne hat nun wie folgt argumentiert: Natürliche Übel würden die Wissensbasis darstellen, von der aus Menschen induktiv lernen könnten, wie sich die Welt unter dem Einfluss von Naturgesetzen verhalten würde (Quelle: Mensch- Leid-Gott, Herbert Rommel, 2011, Verlag: Ferdinand Schöningh Paderborn, vgl. S. 150). Diesem Argument lässt sich entgegnen, dass Gott dann ein Zyniker wäre, wenn er Menschen zu dem Zweck leiden lässt, dass andere Kreaturen aus diesem Leid lernen. Es ist abzulehnen, die Notwendigkeit natürlicher Übel deshalb zu behaupten, weil aus ihnen ein ethisch relevantes Wissen erworben werden könne (Quelle: Mensch- Leid-Gott, Herbert Rommel, 2011, Verlag: Ferdinand Schöningh Paderborn, vgl. S. 212).

S. Langes Vorstellung, Leid sei „hausgemacht“, findet sich auch bei Hans Jonas. Z. B. habe Auschwitz pervertierte Menschen angerichtet. In Gottes Selbstbeschränkung sei lediglich die Möglichkeit zum Bösen begründet, nicht aber die Entscheidung zum Bösen (Quelle: Mensch- Leid-Gott, Herbert Rommel, 2011, Verlag: Ferdinand Schöningh Paderborn, S. 174).

Dem Erdbeben von Lissabon (1755) folgten mehrere apokalyptische Szenarien (Feuersbrünste, Tsunamiwellen und Plünderungen). Es warf das Theodizeeproblem neu auf, also die Frage, wie ein gütiger Gott das Übel in der Welt zulassen konnte. Wenden wir uns diesem Problem genauer zu. Die Autonomiephilosophie entlastet Gott von der Anklagefrage der Theodizee. Eine extreme Entlastung Gottes ist die tendenzielle Verabschiedung Gottes. Man sagt dem Chirurgen zuweilen nach: Operation gelungen, Patient tot. Auf unser Beispiel umgemünzt würde das heißen: Theodizee gelungen, Gott tot (Quelle: Das Erdbeben von Lissabon und der Katastrophendiskurs im 18. Jahrhundert, Gerhard Lauer, Thorsten Unger, 2008, Wallstein Verlag, vgl. S. 209).

Folgende Schlüsse lassen sich aus der Willensfreiheit und dem Leid ziehen: Nach Immanuel Kant sind alle philosophischen Versuche, das Theodizee-Problem zu lösen, misslungen (Quelle: Mensch- Leid-Gott, Herbert Rommel, 2011, Verlag: Ferdinand Schöningh Paderborn, vgl. S. 185). Eine abschließende und objektive Theodizee wird es nicht geben. Was es aber gibt, das sind subjektive Theodizeen, die für Menschen den Gottesglauben plausibler als den Atheismus machen (Quelle: Mensch- Leid-Gott, Herbert Rommel, 2011, Verlag: Ferdinand Schöningh Paderborn, S. 207).

Leid

Leid sei eine Art „Warnsignal“ (S. 167). Schmerz sei das Megafon Gottes, das ihm manchmal als Instrument diene, um uns aus tödlicher Taubheit wachzurütteln (S. 173).

Eine evolutionäre Deutung ist S. Lange offenbar fremd. Trotz aller Unannehmlichkeit liegt die Annahme nahe, dass es ein Vorteil ist, Schmerzen empfinden zu können. Er liegt darin, dass uns der Schmerz unangenehm ist und uns deshalb veranlasst, sofort und schnell zu reagieren, und uns zugleich mahnt, in einer künftigen ähnlichen Situation vorsichtiger zu sein (Quelle: Im Lichte der Evolution, Darwin in Wissenschaft und Philosophie, Gerhard Vollmer, 2017, Verlag: S. Hirzel, vgl. S. 405). Richard Dawkins bezeichnet Schmerzen daher folgerichtig als ein „darwinistisches Hilfsmittel“, welches die Überlebensaussichten des Leidenden verbessern (Quelle: Die Schöpfungslüge, Richard Dawkins, 2012, Ullstein Taschenbuch Verlag, vgl. S. 441 f.).

„Meiner Erfahrung nach gibt es immer Leute, die froh sind, Gott endlich zu den Akten legen zu können: „Die Leidfrage konnte nicht tadellos beantwortet werden: tschüss, Gott!“ Aber bei aller Achtung: Was bringt es, Gott los zu sein, weil man ihn für das Leid verantwortlich macht? Die Antwort fällt nüchtern aus: nichts! Eine gottfreie Weltsicht biete ja keine besser Alternative - im Gegenteil (S. 177).“ Bezüglich des Sich-trösten-Lassen bewahrheite sich gerade in Leidmomenten der Satz, dass Christen zwar nicht besser, aber besser dran seien (vgl. S. 180).

Selbstverständlich darf S. Lange den Atheismus ablehnen. Jedoch ist S. Langes Aussagen, es handle sich bei einer gottfreien Weltsicht um keine bessere Alternative, unbegründet. Es dürfte in dieser Rezension klar geworden sein, wo die Schwachstellen der christlichen Weltanschauung liegen. Als Nicht-Gläubiger muss man sein Weltbild auch nicht notwendigerweise in Abgrenzung zur christlichen Weltanschauung verstehen und sich als Atheist bezeichnen. Man kann sich z. B. auch als Humanist begreifen. In diesem Sinne ist der neue Atheismus eine Absage an Gott. Der neue Humanismus ist eine Zusage an den Menschen (Quelle: Im Lichte der Evolution, Darwin in Wissenschaft und Philosophie, Gerhard Vollmer, 2017, Verlag: S. Hirzel, vgl. S. 420)!

Kommentare

Neuer Kommentar

(Mögliche Formatierungen**dies** für fett; _dies_ für kursiv und [dies](http://de.richarddawkins.net) für einen Link)

Ich möchte bei Antworten zu meinen Kommentaren benachrichtigt werden.

* Eingabe erforderlich