Das Abgrenzungsproblem

Karl Popper über die Abgrenzung zu pseudowissenschaftlichen oder metaphysischen Behauptungen.

Das Abgrenzungsproblem

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Das Abgrenzungsproblem besteht in der Frage, ob - und wenn ja wie - sich erfahrungswissenschaftliche Propositionen[1] von pseudowissenschaftlichen, metaphysischen oder alltäglichen Propositionen abgrenzen lassen.

Karl Popper benannte das Problem und schlug ein Kriterium vor: Proposition P ist erfahrungswissenschaftlich, gdw. P in der Erfahrung logisch-falsifizierbar ist.

Das heißt: Eine Proposition P ist erfahrungswissenschaftlich, gdw. es prinzipiell einen Basissatz B gibt, der mit P in einem logischen Widerspruch steht:

Formal: a. P → B

Beispiel: a. Wenn alle Schwäne weiß sind, dann muss auch der nächste beobachtete Schwan weiß sein.

Formal: b. ¬ B

Beispiel: b. Der nächste beobachtete Schwan ist ein Trauerschwan und somit schwarz bzw. nicht-weiß.

Formal: Also: ¬ P

Beispiel: Also: Nicht alle Schwäne sind weiß.

1. Einführung

Es ist wichtig zu sehen, dass Poppers Kriterium zwei Bedingungen enthält:[2]

i. logische Beziehung: Wenn P erfahrungswissenschaftlich ist, muss es eine andere Proposition B geben, sodass P und B in einem Widerspruch stehen.

ii. empirischer Gehalt: Wenn P erfahrungswissenschaftlich ist, muss aus P ein Basissatz B abeleitet werden können, dessen Wahrheit einen empirisch feststellbaren Unterschied in der Welt macht.

1.1. Bedingung (i)

Die Bedingung (i) ist notwendig, denn z.B. die Aussage „kräht der Hahn auf dem Mist, ändert sich das Wetter oder es bleibt wie es ist", steht mit keiner Aussage im Widerspruch und ist deshalb auch nicht erfahrungswissenschaftlich.

Die Bedingung (i) ist aber nicht hinreichend, denn die Aussage „Relationen existieren an sich„ steht im Widerspruch zu vielen anderen metaphysischen Aussagen, sie ist (deshalb) aber noch lange nicht erfahrungswissenschaftlich.

Die Bedingung (i) grenzt also synthetische (informative) - wie erfahrungs-wissenschaftliche und metaphysische - Aussagen von analytischen Aussagen ab.

1.2. Bedingung (ii)

Die Bedingung (ii) ist notwendig, denn „Es gibt einen deistischen Gott„ hat keinen empirischen Gehalt und ist deshalb auch nicht erfahrungswissenschaftlich.

Die Bedingung (ii) ist aber nicht hinreichend, denn die Aussage „Alle Junggesellen sind unverheiratet“ hat zwar einen empirischen Gehalt, sie ist aber notwendig und a priori wahr und damit nicht erfahrungswissenschaftlich.

Die Bedingung (ii) grenzt also falsifizierbare - wie erfahrungswissenschaftliche - Aussagen von nicht-falsifizierbaren - wie metaphysische - Aussagen ab.

Die Bedingungen (i) und (ii) sind somit einzeln notwendig und zusammen hinreichend dafür, dass P eine erfahrungswissenschaftliche Proposition ist.

1.3. Immanuel Kant

Es ist nun leicht zu sehen, dass diese zwei Bedingungen von Popper stark durch zwei berühmte Unterscheidungen von Immanuel Kant inspiriert wurden:

Bedingung (i) wurde von der analytisch-synthetisch Unterscheidung geprägt.

Bedingung (ii) wurde von der a priori- a posteriori Unterscheidung geprägt. Jedoch ging es Kant bei der Unterscheidung um die Erfahrung schlechthin, Popper hingegen hatte die methodische Erfahrung durch die Wissenschaften im Sinn.

1.4. positive und negative Charakterisierung

Bisher wurde die Erfahrungswissenschaft positiv durch die Bedingungen (i) und (ii) charakterisiert. Das lässt offen, wovon Popper diese negativ abgrenzen will.

Die folgende Tabelle liefert eine Antwort auf diese Frage:

Poppers Kriterium erlaubt also eine Abgrenzung der Erfahrungswissenschaft von:

Mathematik und Logik („tautologische Wissenschaften“)

Metaphysik

Pseudowissenschaft

Diese Lesart erscheint mir äußerst plausibel. Denn mit ihr lässt sich u.a. deutlich machen, was charakteristisch für Pseudo(erfahrungs)wissenschaften ist:

Pseudoerfahrungswissenschaften beinhalten einerseits (aposteriorische) Aussagen über die Welt, die anderseits aber nicht falsifizierbar (analytisch) sind.

Als Beispiele für solche Pseudowissenschaften führt Popper immer wieder an:

1. Der Marxismus ist pseudowissenschaftlich, da er aposteriorische Aussagen über die sozioökonomische Gesellschaft trifft, diese aufgrund von dialektischem Denken und Kritikimmunisierung aber nicht an der Erfahrung scheitern können.

„Es ist möglich, dass ich mich blamiere. Indes ist dann immer mit einiger Dialektik wieder zu helfen. Ich habe natürlich meine Aufstellungen so gehalten, dass ich im umgekehrten Fall auch recht habe.“

- Karl Marx: Brief an Engels (1857), MEW 29, 161

2. Die Psychoanalyse und Neurosenlehre sind pseudowissenschaftlich, da diese aposteriorische Aussagen über die menschliche Psyche treffen, die jedoch durch keinen möglichen Verlauf der Welt an der Erfahrung scheitern können.

2. Kritik

2.1. Das Kriterium ist nicht notwendig

Viele erfahrungswissenschaftliche Aussagen sind Existenzaussagen.

Beispiel:

Es gibt Elementarteilchen ohne Masse.

Existenzaussagen sind aber rein logisch nur verifizierbar, nicht falsifizierbar.

Die obere Existenzaussage ist bspw. nur verifizierbar, indem etwa bewiesen wird, dass das Photon masselos ist. Sie ist aber nicht falsifizierbar, denn selbst wenn bewiesen wird, dass das Photon nicht masselos ist, können immer noch prinzipiell unendlich viele (unentdeckte und ungeprüfte) Teilchen masselos sein.

Existenzaussagen wie die obere sind also logisch nicht falsifizierbar. Dennoch würden die meisten von uns sie als erfahrungswissenschaftlich ansehen. Daraus folgt dann aber, dass die beiden Bedingungen (i) und (ii) nicht notwendig sind.

Auf diese Kritik kann man verschiedenartig reagieren:

1. Man kann behaupten, dass (i) und (ii) zusammen hinreichend, jedoch zusammen nicht für alle Aussagen notwendig sind. Das geht.

2. Man kann behaupten, dass (i) und (ii) nur für Allgemeinaussagen notwendig sind. Für Existenzaussagen kann man beispielsweise das Sinnkriterium ansetzen.

Am zufriedenstellendsten ist eine Kombination aus Reaktion (1) und (2).

2.2. Das Kriterium ist nicht hinreichend

Viele nicht-erfahrungswissenschaftliche Aussagen erfüllen (i) und (ii).

Beispiel:

Globuli haben eine Wirksamkeit über den Placeboeffekt hinaus.

Die obere Aussage ist nach Poppers Abgrenzungskriterium erfahrungs-wissenschaftlich. Denn aus aus ihr lassen sich Basissätze (etwa über den Ausgang von Doppelblindversuchen) ableiten, die mit der Aussage in Widerspruch stehen.[4] Dennoch würden die meisten von uns sie als pseudowissenschaftlich ansehen. Daraus folgt dann aber, dass (i) und (ii) auch nicht hinreichend sind.

Auf diese Kritik gibt es meines Wissens keine zufriedenstellende Reaktion.

Fußnoten

[1] Der Aussagegehalt eines Satzes (Hypothese) oder Satzsystems (Theorie).
[2] Giuseppe Franco: Handbuch Karl Popper (2019), S. 263 f.
[3] Popper schreibt etwa: „[...] nicht allein durch ihre logische Form ist die empirische Wissenschaft gekennzeichnet, sondern darüber hinaus durch eine bestimmte Methode“ Karl Popper: Logik der Forschung (1935), S. 14.
[4] Tatsächlich wurde die Homöopathie auf diese Weise schon vielfach falsifiziert, was natürlich impliziert, dass sie falsifizierbar ist.

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Kommentare

  1. userpic
    Norbert Schönecker

    Was soll an dem Satz "Globuli haben eine Wirksamkeit über den Placeboeffekt hinaus" formal (!) pseudowissenschaftlich sein? Sie ist genauso erfahrungswissenschaftlich wie die Musteraussage "Alle Schwäne sind weiß".
    Ob ein Satz eine wahre Aussage oder eine falsche Aussage ist hat ja rein gar nichts mit Poppers Einteilung in erfahrungswissenschaftlich, metaphysisch, pseudowissenschaftlich oder logisch zu tun.
    Schon alleine dadurch, dass viele Wissenschaftler den Satz "Globuli haben eine Wirksamkeit über den Placeboeffekt hinaus" als falsifiziert betrachten, muss er als erfahrungswissenschaftliche Aussage gelten.
    Erst wenn Homöopathen die Falsifizierbarkeit leugnen (was bisweilen tatsächlich geschieht), wird die Aussage zu einer pseudowissenschaftlichen.

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