Das Münchhausen-Trilemma

Oder: Ist es möglich, sich am eigenen Schopfe aus dem Sumpf zu ziehen?

Das Münchhausen-Trilemma

Foto: pixabay.com / Pauline_17

Vortrag auf dem Symposium zu Hans Alberts 80. Geburtstag (erschienen in: Sonderheft „Hans Albert“ der Zeitschrift Aufklärung und Kritik. 2001)

Vorbemerkung

Hans Alberts Bücher und Aufsätze waren in meiner Biographie von großer Bedeutung - und das ist durchaus ungewöhnlich, denn ich bin von Haus aus Pädagoge. Pädagogen gehören bzw. gehörten noch vor einigen Jahren, als ich begann, dieses Fach zu studieren, zu jener merkwürdigen hominiden Gattung, die ich scherzhaft, „die Gutmenschen“ nenne. Pädagogen wollen die Welt und die Menschen zum Guten hin verbessern, wollen „alle alles lehren“, für Gleichberechtigung und Freiheit sorgen, die Werte der Humanität verteidigen usw. usf. Wie man sich denken kann, verfügen derart moralische Menschen oft über ein sehr einfaches Gut-Böse-Schema. Die „Guten“ waren in den 70er und 80er Jahren die kritischen Theoretiker und ihr Umfeld - Theoretiker wie Horkheimer, Adorno, Marcuse, Fromm, Bloch oder Habermas, die der bösen Welt ein entschiedenes Nein entgegenschleuderten. Die Kritischen Rationalisten hingegen - allen voran Popper und Albert - residierten im „Reich des Bösen“, standen sie doch in dem Ruf, alle Ungerechtigkeiten dieser Welt mittels oberflächlicher Sozialtechnologie konservieren zu wollen. Zweifellos war das ein haltloses Vorurteil, aber es wurde dadurch erhärtet, dass der Kritische Rationalismus innerhalb der Pädagogik vor allem in Gestalt des Wolfgang Brezinka auftrat, eines Pädagogen, der einerseits als rationaler Erziehungswissenschaftler berühmt, andererseits als neokonservativer Erziehungsphilosoph berüchtigt war und ist. (1)

Es kostete mich also einige Überwindung, Popper und Albert unvoreingenommen im Original zu lesen. Kaum aber hatte ich Poppers „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ (2) und Alberts „Traktat über kritische Vernunft“ (3) zur Hand genommen, musste ich feststellen, dass diese Bücher einige Punkte weit besser zur Sprache brachten als die dialektischen Predigten meiner alten pädagogischen Leib- und Magenphilosophen. Meine Sympathien für den Kritischen Rationalismus wuchsen weiter an, als ich Alberts Buch über „Das Elend der Theologie“ (4) las. So klar und präzise war kaum einer der kritischen Theoretiker jemals dem Hirngespinst der christlichen Religion zu Leibe gerückt. Um es kurz zu machen: Ich verdanke es nicht zuletzt Hans Albert, dass ich der Unart des pädagogischen Moralisierens entronnen bin und die Welt heute etwas nüchterner, problemorientierter gegenüberstehe.

Zu meiner Vorgehensweise: Ich werde im ersten Kapitel kurz umreißen, was Hans Albert im Sumpf der Letztbegründungen entdeckt hat und welche Konsequenzen er aus dem sogenannten „Münchhausen-Trilemma“ zog. Im zweiten Kapitel will ich Alberts Ideen mit denen seines alten Weggefährten Paul Feyerabend konfrontieren. Im dritten und letzten Kapitel soll aufgezeigt werden, dass alles Denken auf Unbegründbarem gründet und warum dennoch das Prinzip der kritischen Prüfung von großem, praktischen Nutzen ist.

Im Sumpf der Letztbegründungen

Stellen Sie sich folgende Situation vor: Ihre Tochter, ihr Sohn oder ihr Enkelkind kommt in Ihr Zimmer und fragt, ob Sie nicht mit ihm bzw. ihr spielen wollten. Sie sagen, Sie hätten leider im Moment keine Zeit. Das Kind fragt warum. Sie erklären, dass Sie unbedingt diese dumme Einkommensteuererklärung fertig machen müssen. Das Kind fragt, warum. Sie sagen, weil der Abgabetermin fällig ist. Warum? Weil das Finanzamt den Termin vorgegeben hat. Warum? Weil es entsprechende Gesetze gibt. Warum? Weil die Menschen sich auf Gesetze geeinigt haben. Warum? Weil sie denken, dass es Regeln für das Zusammenleben geben muss. Warum? Weil sonst die Starken die Schwachen noch hemmungsloser ausbeuten würden, als sie das ohnehin tun. Warum? Weil der Mensch eigennützige Ziele verfolgt. Warum? Weil Eigennutz ein Grundprinzip der biologischen Evolution ist. Warum? Weil... nun ja, wahrscheinlich würden Sie spätestens an diesem Punkt aufgeben und sagen, dass sie keine Zeit haben, auch das noch zu begründen, schließlich wartet ja die überfällige Einkommensteuererklärung auf Sie.

Möglicherweise wird sich ihr Kind mit der abgebrochenen Begründungskette zufriedengeben (sehr wahrscheinlich hat es schon vorher sein Interesse daran verloren), aber im philosophischen Diskurs stehen die Dinge nicht so einfach. Wir müssen uns fragen: Was sind die Begründungen auf denen unsere Begründungen basieren? Wenn man auf diese Weise konsequent fragt, gelangt man auf direktem Wege in eines der unwegsamsten, ja gefährlichsten Gebiete der Philosophie, nämlich der Sumpf der Letztbegründungen, ein Gebiet, das man - wie ich zeigen möchte - nicht betreten sollte, wenn man nicht bereit ist, den Lügenmärchen des Barons Münchhausen zumindest einmal Glauben zu schenken.

Wie Hans Albert in seinem „Traktat über kritische Vernunft“ zeigen konnte, stehen LetztbegründungsforscherInnen (also Menschen die nach den letzten Begründungen ihrer Begründungen suchen und dabei nicht von der Einkommensteuer abgelenkt werden) - wie Münchhausen im Sumpf - vor schier unlösbaren Problemen. Sie haben dem sogenannten „Münchhausen-Trilemma“ zufolge die Qual der Wahl zwischen drei Lösungsmethoden, die allesamt unbefriedigend erscheinen, nämlich: „1. einem infiniten Regress, der durch die Notwendigkeit gegeben erscheint, in der Suche nach Gründen immer weiter zurückzugehen, der aber praktisch nicht durchzuführen ist und daher keine sichere Grundlage liefert; 2. einem logischen Zirkel in der Deduktion, der dadurch entsteht, dass man in Begründungsverfahren auf Aussagen zurückgreift, die vorher schon als begründungsbedürftig aufgetreten waren, und der ebenfalls zu keiner sicheren Grundlage führt; und schließlich: 3. einem Abbruch des Verfahrens an einem bestimmten Punkt, der zwar prinzipiell durchführbar erscheint, aber eine willkürliche Suspendierung des Prinzips der zureichenden Begründung involvieren würde.“ (5)

Worum es Hans Albert hier geht, kann man sich grafisch leicht verdeutlichen:

Beginnen wir mit dem infiniten oder unendlichen Regress: In diesem Fall begründen Sie Argument 1 mit Argument 2, dieses wiederum mit Argument 3 usw. (wie in dem oben erwähnten Beispiel des wissbegierigen Kindes). Stets tauchen neue Warum-Fragen auf, die weitere Begründungen provozieren. Sie könnten ewig so fortfahren, wenn sie die nötige Zeit und Ressourcen haben, aber sie würden niemals auf festen Boden gelangen. Deshalb ist dieses Verfahren praktisch wertlos. Sie versinken immer tiefer im Sumpf der Letztbegründungen und werden niemals ein echtes Problem lösen können.

Kommen wir zum zweitem Verfahren, dem logischen Zirkel: Nehmen wir an, Sie behaupten, Albert Schweizer sei ein guter Mensch gewesen. Auf die Frage, warum Sie das glauben, antworten Sie: Weil er sich mit aller Kraft für Mensch und Tier eingesetzt hat. Warum? Weil er Ehrfurcht vor dem Leben hatte. Warum aber ist Ehrfurcht vor dem Leben etwas Gutes? Ganz einfach, antworten Sie: Weil Albert Schweitzer ein guter Mensch war.

Beim logischen Zirkel begründen Sie Argumente mit Argumenten, die sich bereits zuvor als begründungswürdig erwiesen haben - ein Verfahren, das - wie man sofort erkennt - ebenfalls keine Chancen bietet, dem Sumpf der Letztbegründungen zu entfliehen. Gefangen im logischen Zirkel drehen Sie sich lediglich im Kreis.

Bleibt also nur noch der Abbruch des Verfahrens. Auch hierzu ein Beispiel: Nehmen wir an, Sie behaupten: Verheiratete sollten sich niemals scheiden lassen können. Auf die entrüstete Gegenfrage, warum das denn so sein müsse, antworten Sie, weil Jesus es so wollte und wir ihm folgen müssen. Warum? Weil er Gottes eingeborener Sohn war und ist und alle Menschen den Anordnungen Gottes zu folgen haben. Um weitere Gegenfragen bereits im Keim zu ersticken, fügen Sie hinzu: Wer’s glaubt, wird selig, alle anderen werden in die Hölle verdammt und damit Ende der Diskussion!

Dieses letzte Verfahren bietet nun in der Tat ein festes Fundament, mit dem man den Sumpf verlassen könnte. Allerdings zahlt man für dieses stabile Fundament einen hohen Preis, nämlich den Preis des Fundamentalismus, denn der „Abbruch des Letztbegründungsverfahrens an einem bestimmten Punkt“ bedeutet letztlich nichts anderes als „eine Begründung durch Rekurs auf ein Dogma“. (6)

Um einen solchen Dogmatismus zu verhindern, versucht Hans Albert dem klassischen Letztbegründungsverfahren selbst zu entgehen. Er stellt gewissermaßen ein Warnschild auf, das auf die Gefahren des Letztbegründungssumpfes hinweist und empfiehlt den Passanten, das klassische Begründungsverfahren sein zu lassen und es stattdessen mit dem „Prinzip der kritischen Prüfung“ zu versuchen.

Da es keine unfehlbaren Sätze gibt, sondern allenfalls Sätze, deren Unfehlbarkeit dogmatisch behauptet wird, tritt bei Albert an die Stelle des Dogmas die Hypothese. Dogmatische Sätze werden als hypothetische begriffen und können somit einer kritischen Überprüfung unterzogen werden. Die zentrale Frage lautet dabei: Helfen uns die jeweiligen Hypothesen, Probleme zu lösen? Wenn ja: Ist diese Lösung in sich und extern (d.h. im Verhältnis zu anderen bewährten Theorien und Verfahrensweisen) kongruent oder widersprüchlich? Und: Ist sie besser oder schlechter als mögliche alternative Lösungsmethoden? (7)

Es ist evident, dass dieses Prinzip der kritischen Prüfung eine weit größere Offenheit der Argumentation gewährt als andere theoretische Systeme. Im Kontext des kritischen Rationalismus gibt es - so Albert - „weder eine Problemlösung, noch eine für die Lösung bestimmter Probleme zuständige Instanz, die notwendigerweise von vornherein der Kritik entzogen sein müsste.“ (8) Er fügt hinzu - und hier zeigt sich der klare antidogmatische Grundzug des kritisch-rationalen Denkens: „Man darf sogar annehmen, dass Autoritäten, für die eine solche Kritikimmunität beansprucht wird, nicht selten deshalb auf diese Weise ausgezeichnet werden, weil ihre Problemlösungen wenig Aussicht haben würden, einer sonst möglichen Kritik standzuhalten. Je stärker ein solcher Anspruch betont wird, umso eher scheint der Verdacht gerechtfertigt zu sein, dass hinter diesem Anspruch die Angst vor der Aufdeckung von Irrtümern, das heißt also: die Angst vor der Wahrheit, steht.“ (9)

Eine klarere Absage an den Dogmatismus kann man kaum erteilen. Dennoch bleibt fraglich, ob es Albert gelingen kann, sich dem Dogmatismus gänzlich zu entziehen. Das Grundproblem des Rationalismus besteht nämlich darin, dass das „Prinzip der kritischen Prüfung“ nur dann greifen kann, wenn zuvor klargestellt wurde, anhand welcher Kriterien über die Güte einer Hypothese entschieden werden soll. Die Basis für die Generierung dieser Kriterien finden wir jedoch in genau jenem Gebiet, das Albert mit seinem Kritizismus umgehen wollte: im Sumpf der Letztbegründungen.

Bevor ich diesen Einwand begründen kann, erlauben Sie mir, dass ich einen alten Weggefährten und intellektuellen Sparringspartner Hans Alberts ins Spiel bringe, nämlich den früheren Rationalisten und späteren Erkenntnisanarchisten Paul Feyerabend, der m.E. die Diskussion über Letztbegründungen auf fruchtbare Weise zuspitzte.

Anything goes: Der „absolute Relativismus“ des Paul Feyerabend

Paul Feyerabend wurde - größtenteils wider eigenen Willen - zu einem führenden Protagonisten des postmodernen Denkens erklärt, seine Formel „Anything goes!“ („Alles ist möglich!“) zum kategorischen Imperativ der Postmoderne erhoben. Kaum ein Artikel über Wertverlust, Postmoderne oder Pluralismus, der ohne diese prägnante Formel auskam. Feyerabends Buch „Erkenntnis für freie Menschen“ schien den Nerv der Zeit empfindlich getroffen zu haben.

Die Gründe hierfür sind vielschichtig. Maßgeblich war aber sicherlich, dass der in unserer Gesellschaft unbestreitbar vorkommenden Pluralität von Waren und Lebensstilen, ein Ausdruck der entfalteten Produktivkräfte im Zeitalter der differenzierten Massenproduktion, spätestens seit Beginn der achtziger Jahre zunehmend mit einem positiven Bekenntnis begegnet wird. Man akzeptiert das Vorhandensein verschiedener Wirklichkeitskonstruktionen und geht davon aus, dass niemand zu entscheiden vermag, welche die intersubjektiv richtige ist. Welche Wahrheit aus dem großen Fundus der Wahrheiten akzeptiert wird, gilt als eine persönliche, vom ästhetischen Gesichtspunkt des subjektiven Gefallens bestimmte Entscheidung. Anders formuliert: Wahrheit wird in der Postmoderne zur reinen Geschmackssache und damit radikal beliebig. (10)

Feyerabend liefert dieser Denkungsart hervorragende Begründungsmuster. Einer seiner zentralen Sätze lautet: „Traditionen sind weder gut noch schlecht; sie existieren einfach. ‘Objektiv’, das heißt unabhängig von Traditionen, gibt es keine Wahl zwischen einer humanitären Einstellung und dem Antisemitismus.“ (11) Er fährt fort: „Eine Tradition erhält erwünschte und unerwünschte Züge nur, wenn man sie auf eine Tradition bezieht, das heißt, wenn man sie als Teilnehmer einer Tradition betrachtet und aufgrund der Werte dieser Tradition beurteilt.“ (12)

Auch diese Argumentationsfigur möchte ich anhand einer einfachen graphischen Darstellung verdeutlichen:

Wir sehen hier - idealtypisch - zwei konträre Traditionen mit unterschiedlichen Zieldefinitionen und Argumenten. Innerhalb von Tradition a gibt es sinnvolle Aussagen, die den in sich stimmigen Aussagen von Tradition b diametral widersprechen.

Hierzu ein Beispiel: Stellen wir uns vor, ein christlicher Fundamentalist und ein kritischer Rationalist treffen sich auf einer Elternversammlung und beginnen über den schulischen Lehrplan zu streiten. Der christliche Fundamentalist ist davon überzeugt, dass „Gott“ die Welt erschaffen hat und von den Menschen unbedingten Gehorsam fordert. Er will die Evolutionstheorie aus dem Lehrplan streichen und verlangt, dass alle Lehrinhalte, die der Bibel widersprechen, in der Schule nicht behandelt werden. Konträre wissenschaftliche Argumente führt er - innerhalb seiner Tradition folgerichtig - auf den verderblichen Einfluss Satans zurück, vor dem man die Kinder unbedingt schützen müsse. Der Kritische Rationalist hingegen ist der Meinung, dass der biblische Schöpfungsbericht kaum zum Verständnis der Welt beitragen könne, er fordert, dass möglichst viele Welterklärungsversuche im Unterricht behandelt und einer kritischen, rationalen Überprüfung unterzogen werden, was letztlich - hier braucht man sich nichts vorzumachen - auf eine scharfe Kritik biblischer Erklärungsmuster hinauslaufen muss.

Wir können uns leicht vorstellen, dass die Diskussion zwischen diesen beiden Vertretern konträrer Traditionen kaum in einen Konsens münden wird, sondern weit eher in einen hitzig ausgetragenen, weltanschaulichen „Widerstreit“ (Lyotard).

Feyerabend zufolge kann dies auch gar nicht anders sein: Wenn der Fundamentalist die rationale Tradition kritisiert, verwendet er in seiner Kritik notwendigerweise Kriterien, die seiner eigenen Tradition entstammen. Wenn der kritische Rationalist die christliche Tradition kritisiert, so verwendet er die Elemente seiner Tradition. Kritik kann somit nur relativ zu den jeweiligen Traditionen verstanden werden, aus denen sie stammten. Damit aber wird Kritik beliebig, theoretisch wie praktisch unfruchtbar. Schlimmer noch: Jeder Versuch eine Tradition über andere zu stellen, kann als fundamentalistischer Angriff gedeutet werden.

Eben dies wirft Feyerabend nun den Rationalisten vor. „Argumentieren“ - so schreibt er - „ist für den einen Beobachter Propaganda, für den anderen das Wesen menschlicher Verständigung.“ (13) Insofern ist der kritisch-rationale Aufruf zu argumentativer Verständigung für ihn nicht nur hochgradig unsinnig, sondern geradezu demagogisch, ein Ausdruck ideologisch kaschierter Herrschaftsansprüche von Seiten der rationalistischen Tradition.

Feyerabend will sich an einem solchen fundamentalistischen Gebaren nicht beteiligen und fordert daher einen durch keinerlei Argumentationsregeln behinderten „freien Austausch“ zwischen den Traditionen.

Losgelöst von den praktischen Problemen, die Feyerabends Relativismus verursachen würde, wenn man versuchen würde, ihn praktisch umzusetzen, ist er auch theoretisch nicht stabil, da in sich widersprüchlich. Denn auch Feyerabend entgeht dem Fundamentalismus nicht - so gern er dies auch für sich - im Kontrast zu Albert und Popper - reklamiert. Feyerabend argumentiert nämlich auf der Basis eines relativistischen Fundamentalismus. Dass sein eigener weltanschaulicher Dogmatismus so schwer zu entziffern ist, liegt in seiner paradoxen Konstitution begründet: Der aus einer spezifischen Tradition resultierende Relativismus, der alle Traditionen gleichsetzt, wird hier als übertraditionell gültig gesetzt, um zu begründen, dass sich keine Tradition als übertraditionell gültig setzen kann. Anders formuliert: Feyerabends Relativismus muss sich selbst als absolut setzen, um behaupten zu können, dass alles relativ ist. Es handelt sich hier also letztlich um eine neue Letztbegründungsversion mit sozialem Relativismus als Fundament. (14)

Was lernen wir nun aus diesem kurzem Exkurs zum Fall „Feyerabend"?

Zunächst eines: Es ist - so sehr man sich auch anstrengen mag - kaum möglich, dem Sumpf der Letztbegründungen zu entgehen. Selbst wenn man wie Feyerabend versucht, alle Universalismen (einschließlich des Rationalismus!) hinter sich zu lassen, wird man bei genauerer Betrachtung doch noch Spuren von Letztbegründungsdogmatismus entdecken können.

Auch das von Albert und Popper vorgeschlagene Prinzip der kritischen Prüfung beruht letztlich auf Fundamenten, die dem Letztbegründungssumpf entstammten. Was der Rationalist bei der Analyse religiöser Glaubenssätze als Widersprüchlichkeit angekreidet, präsentiert der Christ stolz als ein besonderes „Geheimnis des Glaubens“. Wenn der Rationalist den religiösen Glaubensburgen bessere Lösungskonzepte gegenüberstellt, so sind diese Lösungen vielleicht besser für ihn - möglicherweise sogar für die Mehrzahl der Betroffenen - nicht aber für die religiösen Fundamentalisten, die in ihren Bewertungen von ganz anderen Grundsätzen ausgehen.

Die entscheidende Frage, die vor Anwendung des Prinzips der kritischen Prüfung beantwortet werden muss, lautet also: Für wen sind die vorgeschlagenen rationalen Lösungsverfahren wirklich die besseren? In wessen Dienst stellt sich die kritisch-rationale Problemlösungsstrategie und aus welchem Grund tut sie das?

Um hierauf Antworten zu finden, müssen wir uns zurückbegeben in das Abenteuerland der Letztbegründungen.

Jedes Denken gründet auf Unbegründbarem

Als Gefangene im Letztbegründungssumpf scheint es, dass wir keine andere Möglichkeit haben, als das skandalöse Verfahren des dogmatischen Abbrechens der Begründungskette in Anspruch zu nehmen. Auch wenn Autoren wie Karl Otto Apel uns mit „hermeneutischen Sprachspielen“ (15) das Gegenteil einreden wollen: Je genauer wir die einzelnen philosophischen Strömungen unter die Lupe nehmen, desto offensichtlicher wird es, dass jedes Denken - in letzter Instanz - auf Unbegründbarem gründet. Mit anderen Worten: Niemand entrinnt dem Münchhausen-Trillemma - nicht einmal Hans Albert, der es entdeckt und in präzisen Worten beschrieben hat.

Es gibt in der Tat nur einen Weg, dem Sumpf zu entkommen, und der liegt in der (zeitweiligen) Aufhebung der normalerweise bindenden, rationalen Begründungszwänge, d.h. in der Inanspruchnahme eines willkürlich gesetzten Dogmas. Die kritische Frage: Geht das da noch mit rechten Dingen zu?, ist in diesem Fall nicht angebracht. Der Sumpf der Letztbegründungen ist - und damit müssen wir uns wohl abfinden - so etwas wie die „Twilight Zone“ der Philosophie, hier gelten andere Gesetze als auf anderem philosophischen Terrain, hier ist die Schwerkraft der rationalen Argumentation aufgehoben. Und darum gibt es hier auch nur diesen einen, von Münchhausen angedeuteten Ausweg: und der besteht in der Tat darin, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Wir werden schlichtweg keinen festen Boden unter den Füßen finden, wenn wir nicht gewillt sind, ihn uns selbst zu geben.

Die Frage ist nun: Welchen Boden wollen wir uns geben? Wie ist der Schopf beschaffen, mit dessen Hilfe wir uns aus dem Sumpf ziehen wollen?

Hier gibt es höchst verschiedene Vorschläge: religiöse, nationalistische, ethnozentristische, biologistische, formalistische usw. Ich für meinen Teil ziehe ein radikal-humanistisches Fundament vor. Dieses unbegründete, bestenfalls intuitiv einsichtige Fundament für weitere Begründungen will ich in folgende Worte fassen:

Humanistische Basis-Setzung (HBS)

Alle Menschen (ungeachtet welcher Gruppe sie angehören - auch die kommenden Generationen werden hier mit einbezogen!) sind gleichberechtigt und frei in ihrem Streben, ihre individuellen Vorstellungen vom guten Leben im Diesseits zu verwirklichen, sofern dadurch nicht die gleichberechtigten Interessen anderer in Mitleidenschaft gezogen werden, und es ist die unaufkündbare Aufgabe eines jeden Menschen, mit allen zur Verfügung stehenden Kräften dazu beizutragen, dass möglichst wenigen (im Idealfall: niemandem) die Inanspruchnahme dieses fundamentalen Rechts versagt bleibt.

Wie gesagt: Diese Setzung kann als basales Axiom nicht bewiesen, nicht begründet werden. Ich möchte jedoch einige Aspekte erläutern:

Zunächst einmal wird die Bandbreite der unterschiedlichen Konstruktionen von „gutem Leben“ nicht begrenzt durch die Überzeugung, dass es eine einheitlich-verbindliche Vorstellung von gutem Leben gibt oder geben sollte. Allerdings erwächst aus dem Recht, die eigenen Vorstellungen verwirklichen zu dürfen, auch eine Pflicht: Gemäß dieses Satzes sind wir nicht nur dazu verpflichtet Rücksicht auf die gleichberechtigten Ansprüche anderer zu nehmen, sondern auch nach Kräften verändernd tätig zu werden, wenn erkennbar ist, dass die Rechtsansprüche anderer ungerechtfertigt durch direkte, strukturelle oder kulturelle Gewalt (16) bedroht werden.

Genau dieses theoretisch formulierte ethische Anliegen schafft in der Praxis verständlicherweise enorme Probleme. Und hier kommt das von Hans Albert vorgeschlagene Prinzip der kritischen Prüfung wieder ins Spiel. Für jedes Problem gibt es alternative Lösungsmöglichkeiten, die gegeneinander abgewogen werden müssen. Keine Lösungsmöglichkeit ist von vornherein zu bevorzugen. Auch so genannte „moralische Werte“ (beispielsweise „Vaterlandsliebe“, „Treue“, „Demut“, „Friedfertigkeit“, „Ehrlichkeit“ oder „Disziplin“) werden als bloße technische Hypothesen begriffen, die zweckrational daraufhin zu überprüfen sind, ob sie tatsächlich zu besseren Ergebnissen führen, oder ob sie möglicherweise gar ein freies, auf Gleichberechtigung orientiertes Leben verhindern. (17)

In diesem Zusammenhang zeigt sich der fundamentale Unterschied zwischen der hier vorgeschlagenen Konzeption und dem kantschen Rigorismus. Für Kant war es unrecht, aus Menschenliebe zu lügen, wir müssten selbst dem potentiellen Mörder eine ehrliche Auskunft über den Aufenthaltsort des Opfers geben, weil Lüge nicht zu einem universalen Gesetz erhoben werden könne. (18) Im Kontext des hier vorgestellten ethischen Modells hingegen müssen mögliche Handlungsfolgen stets kritisch-rational gegeneinander abgewogen werden. Das Modell erlaubt, ja fordert unter bestimmten, genauer zu analysierenden Umständen nicht nur taktische Lügen, sondern selbst den „Tyrannenmord“ als einer letzten Form des Widerstandes gegen ungerechtfertigte strukturelle oder direkte Gewalt. (Beispielsweise waren die – späten - Attentate auf Hitler in dieser Perspektive ethisch gerechtfertigt.)

Die mit einer solchen Herangehensweise einhergehende Entzauberung der Werte ermöglicht eine Transformation des Moralischen (der Zielvorgaben) ins Technische (Zieldienliche) und damit ins begründet Hinterfragbare. Durch diese Technisierung (= Entmoralisierung) der Debatte sind wir in der Lage, falsche Ideen (z.B. die Idee der offenbarten, objektiven Wahrheit) sterben zu lassen, bevor wir für falsche Ideen (z.B. in einem Glaubenskrieg) sterben müssen, realisieren also in diesem Punkte genau das, was Karl Popper sich von einer „offenen Gesellschaft“ erwünschte. Das religiöse Prinzip „Du wirst dran glauben - oder dran glauben!“ hat somit weitgehend ausgedient.

Freilich: Die Vorteile dieser humanistischen, rationalen und offenen Denkungsart sind erkauft durch einen verhängnisvollen Geburtsfehler: Die Humanistische Basis-Setzung ist - und hier unterscheidet sie sich nicht von irgendwelchen anderen weltanschaulichen Grundüberzeugungen - nichts weiter als ein unbegründetes Dogma. Hieran gibt es nichts zu rütteln.

Die Frage bleibt, ob es einen anderen, intellektuell redlicheren Ausweg aus dem Münchhausen-Trilemma gibt. Selbstverständlich können wir die vorgestellte humanistische Basis-Setzung als technische Hypothese begreifen und einer kritischen Prüfung unterziehen. Aber anhand welcher Kriterien wollen wir sie überprüfen und wodurch können wir diese wiederum begründen?

Wie wir es auch drehen und wenden: Am Sumpf der Letztbegründungen und dem logischen Zwang, uns dogmatisch beim Schopfe zu packen, führt kein Weg vorbei. Sicherlich: Wir können technische Axiome und Hypothesen gewissenhaft auf ihre Tauglichkeit hin überprüfen, aber das grundlegende moralische Axiom, aus dem wir die Kriterien für Tauglichkeit schöpfen, entzieht sich der rationalen Überprüfung.

Folgerung: Das Prinzip der kritischen Prüfung erweist sich als eine universelle Methode, die unmittelbar keine eindeutigen ethischen Ziele verfolgt. Sie kann verwendet werden, um gerechtere und funktionstüchtigere Sozialsysteme zu entwickeln, aber auch, um Diktaturen zu stützen und die Technologie der Massenvernichtung zu perfektionieren. Die von Popper anvisierte „Utopie der offenen Gesellschaft“ bedarf daher zusätzlicher ethischer Voraussetzungen (beispielsweise der oben vorgestellten Humanistischen Basis-Setzung). Hierauf hat vor allem der Fall des „Rationalismus-Aussteigers“ Paul Feyerabend aufmerksam gemacht, der bei genauerer Betrachtung nichts anderes getan hat, als das Denkmuster des Kritischen Rationalismus auf den Rationalismus selber anzuwenden, was letztlich zu einer unfreiwilligen Dogmatisierung des Relativismus führte.

Kurzum, so sehr wir dies auch bedauern mögen: Am Anfang aller Erkenntnis steht die Willkür. Das Prinzip der kritischen Prüfung kann uns helfen, den Raum, den das willkürlich gesetzte Dogma erschafft, möglichst offen zu halten. Dies klingt wahrscheinlich weitaus bescheidener, als es in Wirklichkeit ist. Schließlich sollten wir nicht vergessen, dass sich das eigentliche Leben außerhalb des Sumpfes der Letztbegründungen abspielt. Und hier erweist sich das Prinzip der kritischen Prüfung als das effizienteste Verfahren, das wir bisher für uns entdeckt haben.

Anmerkungen

1) siehe Schmidt-Salomon, Michael (1999): Erkenntnis aus Engagement. Grundlegungen zu einer Theorie der Neomoderne. Aschaffenburg, S. 180ff.
2) Popper, Karl (1956): Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Tübingen.
3) Albert, Hans (1991): Traktat über kritische Vernunft. Tübingen
4) Albert, Hans (1979): Das Elend der Theologie. Kritische Auseinandersetzung mit Hans Küng. Hamburg.
5) Albert 1991, S. 15
6) Albert 1991 S. 16
7) vgl. Niemann, Hans-Joachim (1993): Die Strategie der Vernunft. Rationalität in Erkenntnis, Moral und Metaphysik. Braunschweig.
8) Albert 1991, S.44
9) ebenda
10) vgl. Schmidt-Salomon 1999, S. 27ff.
11) Feyerabend, Paul (1979): Erkenntnis für freie Menschen. Frankfurt/M., S. 54
12) ebenda
13) Feyerabend 1979, S. 56
14) vgl. Schmidt-Salomon 1999,S. 68ff
15) vgl. Albert, Hans (1975):Transzendentale Träumereien. Karl-Otto Apels Sprachspiele und sein hermeneutischer Gott. Hamburg.
16) Zur Definition dieser Gewalttypen siehe Galtung, Johann (1993):Kulturelle Gewalt. In: Nolting, Hans-Peter/Wehling, Hans-Georg: Aggression und Gewalt. Stuttgart.
17) vgl. Schmidt-Salomon 1999, S.83f.
18) vgl. Kant, Immanuel (1983): Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen. In: Kant, Immanuel: Werke in zehn Bänden (herausgegeben von W. Weischedel).Darmstadt, Bd.7, S.636ff.

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Kommentare

  1. userpic
    Steiner Klaus

    Sehr geehrter Herr Schmidt-Salomon,

    Ihr Zitat: "Der Sumpf der Letztbegründungen ist … hier ist die Schwerkraft der rationalen Argumentation aufgehoben."
    Das irrationale daran scheint mir darin zu liegen, dass Unsicherheit über ein Wissen mit "Schwäche" gleichgesetzt werden kann, und/oder man hat aus pragmatischen Gründen einfach nicht die Zeit oder Lust (innerer Schweinhund) den Regress nach hinten zu verschieben, also nach "besserem Wissen" zu suchen.

    Nun soll der Ausweg sein: "sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Wir werden schlichtweg keinen festen Boden unter den Füßen finden, wenn wir nicht gewillt sind, ihn uns selbst zu geben."

    Der springende Punkt ist für mich folgender:
    Wer erkennt denn überhaupt, dass ein bestimmes Wissen möglicherweise durch besseres ersetzt werden könnte?
    Meine These besteht darin, dass "kritisches sich-hinterfragen" zum Großteil eine Frage der Sozialisation ist. Dieser Umwelteinfluss ist nämlich ebenso dafür verantwortlich, dass wir keinen "freien Willen" (im Sinne von: Ich kann tun was ich will, aber nicht wollen was ich will) haben.

    Vielleicht ist es daher nach dem Gelassenheitsgebet von Nibuhr besser zu akzeptieren, dass jemand, der seine sensible Phase der Skeptizismus-Sozialisation überschritten hat, einfach nicht den Skeptizismus haben wird, wie ihn ein anderen durch soziales Lernen "aufgesaugt" hat?

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