Der informierte und engagierte Bürger

Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie

Der informierte und engagierte Bürger

Foto: Pixabay.com / Wokandapix

Eine Demokratie zeichnet sich bekanntlich dadurch aus, dass die Bürger in regelmäßigen Abständen Vertreter ihres Vertrauens in die Parlamente und hohe Ämter wählen können. Neben Säkularität, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung, Selbstbestimmung und weiteren Menschenrechten stellt das Konzept der Demokratie, und in diesem Zusammenhang freie Wahlen, ein weiteres wesensbestimmendes Merkmal der westlichen Gesellschaftssysteme dar. Unsere offene und liberale Gesellschaft wird durch die aufgezählten Merkmale gekennzeichnet.1)

Allerdings sind die Probleme und die damit zusammenhängenden Fragen in einer modernen Gesellschaft sehr komplex und kompliziert geworden. Wissenschaft und Technik bieten Informationen und Lösungen in fast unübersehbarer Fülle an, die gewusst und verstanden werden wollen. Das bedeutet: Jeder Wähler sollte daher soweit informiert und gebildet sein, dass er seine Wahlentscheidung in Bezug auf eine Partei oder Person mit guten Gründen trifft. Die Wahlentscheidung sollte nicht wegen einer Verärgerung oder nur emotional empfundenen Zuneigung oder Ablehnung getroffen werden oder aufgrund einer verführerischen oder gar unlauteren Wahlwerbung.

Eine funktionierende und stabile Demokratie setzt also den ausreichend informierten und zu einem eigenständigen Urteil befähigten Bürger voraus. Gegebenenfalls reicht es auch, wenn er die Ausführungen und Begründungen eines Politikers seines Vertrauens verständnisvoll nachvollziehen kann. Die Frage ist, ob diese Bedingungen für die Wähler aller Jahrgangsstufen erfüllt sind? Wenn es vor allem um die jungen Wähler und Wählerinnen von 16 bis 18 Jahren geht, darf daran mit Fug und Recht gezweifelt werden.

Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre

Berlin plant die Herabsetzung des Wahlalters für die Wahl zum Abgeordnetenhaus auf 16 Jahre.2) Sollte der Grund hierfür sein, Jugendliche mehr an die Politik heranzuführen, um sie mehr dafür zu interessieren? Das könnte ein mögliches Motiv sein. Ich vermute allerdings, dass es sich eher um eine opportunistische Entscheidung der regierenden Parteien handelt. Will doch keine dieser Parteien als jugendfeindlich und rückständig gelten. Vor allem erhoffen sich die derzeit regierenden Parteien von den jungen Wählern mehr Zuspruch als von den älteren. Der stellvertretende CDU-Fraktionsvorsitzende forderte in diesem Zusammenhang lediglich, dass zuerst die politische Bildung der Jugendlichen verbessert werden müsste.

Berlins Schulsystem allerdings befindet sich in einer so desolaten Verfassung, dass die schulischen Ergebnisse zumindest in bestimmten Bezirken nur als katastrophal zu bezeichnen sind. Die Sorge ist daher berechtigt, dass ein erheblicher Teil der Jugendlichen weder hinreichend informiert noch zu einer qualifizierten Entscheidung befähigt ist, von Interesse an einer sachgerechten Entscheidung ganz zu schweigen.

In Stichworten sei die Berliner Schulsituation angedeutet: Es fehlen – inzwischen im neunten Jahr! – in großer Anzahl ausgebildete Lehrer und Lehrerinnen, sodass die Schulverwaltung auf sogenannte Seiten- und Quereinsteiger in unverhältnismäßig großer Anzahl zurückgreifen muss. Diese werden in Schnellkursen auf ihre Tätigkeit vorbereitet. Bedenkt man, dass eine professionelle Lehrerausbildung je nach Schultyp zwischen acht und zwölf und mehr Semester Studium erfordern, dann ahnt man, welche pädagogisch-didaktische Defizite seitens der Schulverwaltung hingenommen werden. Man spricht zu Recht inzwischen von einer „Entprofessionalisierung“ der Berliner Lehrerschaft.3) Auch beherrscht ein relevanter Teil der Schüler (und damit der zukünftigen Wähler) die deutsche Sprache nur mangelhaft und kann daher dem Unterricht nicht angemessen folgen. Infolge dessen fehlt es später an Lesekompetenz und auch wegen mangelnden Verständnisses des Gelesenen an Leseinteresse. Zudem sind die Bewertungskriterien zur Beurteilung der schulischen Leistungen über die Jahre schrittweise abgesenkt worden. Es gibt gute Gründe zu der Annahme, dass sich dahinter die politische Absicht verbirgt, die Anzahl der Schulversager, insbesondere bei den Migranten aus dem türkischen, arabischen und afrikanischen Raum, nicht zu groß werden zu lassen. Im Ergebnis zeigt sich, dass außerordentlich viele Jugendliche trotz erfolgter Absenkung der Anforderungen dennoch mangelhafte Leistungen attestiert bekommen oder gar die Schule ohne Abschluss verlassen. Ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt tendieren folglich gegen Null. Jedenfalls dann, wenn sie keine weiteren der angebotenen staatlichen Weiterbildungsveranstaltungen absolvieren.

Untersuchungen zeigen, dass es unter den Schülern nicht nur Berlins verbreitet an Lesekompetenz und Textverständnis mangelt, dass generell naturwissenschaftliches Wissen fehlt und insbesondere Mathematikkenntnisse, verglichen mit den Kennzahlen anderer Industrieländer, nur unterdurchschnittlich vorhanden sind.4) Bedenkt man, dass mangels eigener Rohstoffe und genügend eigener Energiequellen Deutschlands Stärke bisher in seiner wissenschaftlichen und technischen Kreativität bestand, sind die zukünftigen Aussichten unseres Landes, als führende Industrienation weiterhin erfolgreich zu sein, nicht sehr optimistisch einzuschätzen.

Aber darüber hinaus spielt noch eine weitere Komponente für den Bestand eines demokratischen und innerlich gefestigten Gesellschaftssystems eine wichtige Rolle: Das eindeutige und mit überzeugender Begründung geäußerte Bekenntnis zu unserer offenen und liberalen Gesellschaftsordnung. Auch dieses Bekenntnis ist in der Schule (und auch in den Medien!) zu thematisieren und bedarf einer soliden zielgerichteten Bildungsarbeit, die etwa durch Vorbildverhalten der Lehrer entwickelt oder durch eigenes Einüben, zum Beispiel durch ein Schülerparlament, gefestigt werden muss. Ich kann in der täglichen Beobachtung unseres gesellschaftlichen Lebens zu wenig Menschen und speziell Jugendliche erkennen, die einen solchen Reifungsprozess durchlaufen hätten und von daher geeignet wären, mit ihrer Stimme die Zusammensetzung eines seinen Aufgaben gerecht werdenden, vor allem von Demokraten besetzten Parlaments mit zu bestimmen.

Geradezu dramatisch in seiner Konsequenz für den Bestand demokratischer Verhältnisse ist doch, was wir in diesen Tagen in Frankreich beobachten können. Frankreich gleitet offenbar in den Extremismus ab. Le Pen erhielt im zweiten Wahlgang über 40 Prozent der Stimmen. In den fast 60 Prozent der Stimmen für Macron verbergen sich ebenfalls extreme Ansichten, jene Wähler nämlich, die in der ersten Wahlrunde den weit links stehenden Mélenchon ihre Stimme gaben und diesmal lediglich Le Pen verhindern wollten. Dass Frankreich inzwischen mehrheitlich in zwei extreme Lager gespalten ist, ergibt sich schon aus dem Ergebnis der ersten Wahlrunde. Da gewannen die ganz Rechten und die ganz Linken mehr als 50 Prozent der Stimmen. Noch bemerkenswerter ist, dass in diesem ersten Wahlgang von den 18-34 Jahre alten Wählern, gewissermaßen der Zukunft Frankreichs, 32% für Le Pen und 33% für Mélechon stimmten, also rund Zweidrittel extreme Repräsentanten wählten. Migranten dürften wohl überwiegend Mélechon gewählt haben, Macron eher selten, Le Pen wohl kaum. Wie Macron nach der in Kürze erfolgenden Parlamentswahl seine Politik durchsetzen will, ist schwer vorstellbar.

Und noch etwas ist bemerkenswert: Zählt man die Nichtwähler, die leeren und die ungültigen Stimmzettel zusammen, kommt man auf fast 37 Prozent. Dass in Frankreich so viele Bürger von dem Recht auf Beteiligung an der Zusammensetzung des Parlaments nicht Gebrauch machten, ist ein Alarmzeichen. Wählen ist eine urdemokratische Form der Mitbestimmung – ohne Wahl keine Demokratie! Ganz so weit scheint es in Deutschland noch nicht zu sein. Aber die Unvernunft, die sich auf vielen Demonstrationen der letzten beiden Jahre bei den Protesten gegen die verschiedenen Corona-bedingten Maßnahmen zeigte, war kein Ausweis von demokratischer Reife. Nur lautstarker Protest gegen „die da oben“ ist zu wenig. Hier besteht offenkundig Nachholbedarf an politischer Bildung, um die Komplexität von Rechten, Pflichten und Sachzwängen in einer Demokratie begreifen zu lernen.

Die Notwendigkeit politischer Bildung als Schulfach

Das Schulfach „Politische Bildung“ scheint inzwischen eine untergeordnete Rolle zu spielen, wenn es denn überhaupt jemals in den verschiedenen Schulstufen und Schultypen eine ihm eigentlich zukommende Rolle im Lehrplan spielte. Schaut man auf die Länder USA (Stichwort: Trump) oder eben Frankreich, dann ahnt man, was auch auf uns zukommen könnte.

Wie unüberlegt, um nicht zu sagen: unvernünftig verhielten sich beispielsweise die jugendlichen Anhänger des nicht mehr in die Stichwahl gekommenen französischen linken Politikers Mélenchon. Sie erklärten in großer Zahl, bei der Stichwahl nicht zur Wahl gehen zu wollen, da keiner der Kandidaten für sie in Frage käme. Sie überließen folglich die Entscheidung jenen Wählern, die im ersten Wahlgang für die unterschiedlichsten Kandidaten stimmten. Ist das eine politisch überlegte und kluge Einstellung? Hätten sie den Stimmzettel ungültig gemacht, wäre das eine registrierte Wahlentscheidung und ein Zeichen gewesen, dass sie keine echte Wahl gehabt hätten. Ein Wahlverhalten durch bewusstes Nichtwählen ist allerdings auch unter den deutschen Wählern leider verbreitet.

Ein Blick auf die politischen Führungen von Ungarn und Polen – zwei Mitglieder der prinzipiell demokratisch orientierten Europäischen Gemeinschaft – vermittelt ebenfalls nicht den Eindruck, dass Rechtsstaatlichkeit in Form von Unabhängigkeit der Justiz oder Meinungs- und Pressefreiheit in Form unabhängiger Medien in den besten Händen liegen. Beide Regierungen sind in ihre Ämter durch Wähler gelangt, deren politische Bildung offenbar nicht ausreichte, die langfristigen Folgen des Abbaus solcher Grundprinzipien zu erkennen. Zu diesen Grundprinzipien gehören essentiell die Unabhängigkeit der Gerichte und die Freiheit der Presse und elektronischen Medien. Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass sich die Wähler in Polen und Ungarn überwiegend bewusst ein mehr zentralistisch und autoritär geführtes Land wünschen, in dem die Freiheitsrechte seiner Bürger zurückstehen zugunsten einer vermuteten höheren Effizienz bei der Durchsetzung erhoffter politischer Ziele. Ein Schulfach „politische Bildung“ würde solche Aspekte und Widersprüche zur Sprache bringen und damit die tatsächliche Bedeutung von Freiheits- und Menschenrechten thematisieren.

Ein geradezu deprimierendes Bild vom Zustand der Berliner Bildungslandschaft, erfreulicherweise gilt das nicht für ganz Berlin, bietet ein etwa fünf-minütiger Bericht der Berliner Abendschau mit einem Bericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung: 50% der Türken sind arbeitslos – 75% haben keinen Schulabschluss.

Nun bilden nicht nur die zugewanderten Migranten aus Ländern mit einem niedrigen Ausbildungsniveau eine Gefahr für unsere demokratische Kultur. Schon immer gab es auch innerhalb einer Aufnahmegesellschaft, so auch der unsrigen, uninformierte und desinteressierte Bürger, die durch ihre Wahl, wenn sie denn überhaupt daran teilnahmen, keinen Beitrag zu einer stabilen demokratischen Gesellschaftsordnung leisteten. Da ihr Anteil aber bisher unterhalb einer kritischen Grenze lag, war ihr Einfluss noch gerade zu vernachlässigen.

Mit einer in die Millionen gehenden Zuwanderung allerdings, die sich zudem oft in bestimmten Regionen oder Stadtbezirken konzentriert und oft zur Bildung von abgeschotteten Parallelgesellschaften führt, wächst die Gefahr, dass illiberal, intolerant und autoritär gesinnte Abgeordnete gewählt werden und dann die Parlamente dominieren. Diese Parlamente mögen dann zwar formal korrekt zustande kommen, aber programmatisch und personell den inhaltlichen Kriterien, wie sie etwa unsere Verfassung vorsieht und wie sie oben eingangs stichwortartig skizziert wurden, nicht entsprechen. Dieses ist besonders der Fall, wenn eine Religion mit einem umfassenden Anspruch auf Gestaltung der Gesellschaft nach Koran und Scharia im Spiel ist. So widerspricht das mehr oder weniger verdeckte Agieren der Vertreter des politisch ambitionierten Islam eindeutig unserer gesellschaftlichen Ordnung, die eine Trennung von Staat und Religion vorsieht. Es handelt sich um eine Form religiös-irrationalen Machtanspruchs auf das politische und gesellschaftliche Leben wie es die Kirchen seit Jahrhunderten praktizieren, diesen Einfluss aber dank Aufklärung und schwindender Mitgliederzahlen hoffentlich bald nicht mehr ausüben können.

Aber die Problematik ist noch um eine Größenordnung kritischer. Jeder vierte Deutsche hat inzwischen einen Migrationshintergrund, das sind mehr als 20 Millionen Bürger.5) Sie sind in vielen Fällen nicht mit den Werten einer offenen und liberalen Gesellschaft groß geworden. Entweder lebten sie vorher noch in einem nichtdemokratischen System, dann konnten sie die Werte unseres Gesellschaftssystems nicht in Anspruch nehmen und schätzen lernen. Sind sie als Kinder hier groß geworden, dann sind sie ebenfalls infolge unseres defizitären Schulsystems und meist auch wegen fehlender Integrationskurse und nachhaltiger Betreuung nicht mit den Prinzipien eines demokratischen und liberalen Gesellschaftssystems explizit bekannt gemacht worden.

Nun könnte man argumentieren, dass man die Vorzüge unseres Gesellschaftssystems allein durch die tägliche Inanspruchnahme ihrer Freiheiten und Möglichkeiten zu schätzen und zu würdigen lernt. Ich bezweifle, dass dieser Pragmatismus funktioniert. Man schätzt Freiheiten meist erst, wenn man sie verloren hat. Dann allerdings ist es fast immer zu spät! Bei aller Sympathie für die überfallene Ukraine sollte nicht übersehen werden, dass auch die hier Aufnahme gefundenen Menschen aus einem Land kommen, das eine erst in Ansätzen bestehende demokratische Kultur kennt. Folglich müsste ihnen ebenso wie den anderen Migranten im Rahmen von Integrationskursen jenes Grundwissen und Verhalten vermittelt werden, das einen überzeugten Bürger einer offenen und liberalen Gesellschaft kennzeichnet. Auch wenn die Wirkung eines Kurses nicht überschätzt werden darf, eine erste die Problematik bewusstmachende Bekanntschaft mit den Voraussetzungen einer funktionierenden Demokratie würde er schon darstellen.

Dass es auch Menschen etwa mit muslimischem Migrationshintergrund möglich ist, sich zu unseren Gesellschaftsmodell zu bekennen, zeigen so beeindruckende Frauen und Männer wie etwa Seyran Ates, Lale Akgün, Hamed Abdel-Samad oder Ahmad Mansour. Sie sind neben einer ganzen Reihe weiterer Persönlichkeiten bemerkenswerte Verteidiger unserer Gesellschaftsordnung, oft entschlossener und überzeugender in ihrem Verhalten als mancher deutsche Politiker. Persönlichkeiten der erwähnten Entwicklung bilden leider eine sehr klein gebliebene Minderheit. Das Gros der Migranten mag sich unauffällig verhalten. Wir wissen jedoch nicht, was sie tun und wem sie sich zuwenden werden, wenn sie meinen, sich in ihrer religiös geprägten Kultur bedroht zu sehen. Bei der Wahl des türkischen Präsidenten Erdogan im Jahr 2018 etwa entschieden sich Zweidrittel der wahlberechtigten Türken in Deutschland für den Autokraten Erdogan.6) Ein Blick nach Frankreichs großen Städten lässt ebenfalls nur sehr bedingt die Hoffnung zu, dass sich dort unsere kulturellen Werte durch die muslimischen Zuwanderer besonderer Wertschätzung erfreuen. In den hohen Zustimmungswerten für Le Pen bei der letzten Wahl in Frankreich dürften sich allerdings die Ablehnungen und Ängste von Millionen Franzosen vor einer religiösen Kultur verbergen, die nicht in Einklang mit unseren Vorstellungen von Demokratie, Freiheit und Säkularität zu bringen sind.7) Ein Grund, der in den französischen und deutschen Medien mit bezeichnender Zurückhaltung zur Sprache kommt, wenn nicht sogar als islamophobe Einstellung diskreditiert wird.

Die explosive Problematik einer ungeregelten Einwanderung aus kulturfremden Ländern wollen die meisten europäischen Regierungen ganz offenbar nicht wahrhaben. Die Folge dieses Verharmlosens und Wegsehens wird ein weiteres Anwachsen sogenannter rechtspopulistischer Kräfte in Europa sein.

Gefährdung unserer Gesellschaftsordnung durch eine Wirtschaftskrise?

Die innere Festigkeit einer offenen und liberalen Gesellschaft zeigt sich meist erst, wenn sie tatsächlich ernsthaft herausgefordert wird. Was ist zum Beispiel zu erwarten, wenn unser Land in eine schwere Wirtschaftskrise gerät, möglicherweise durch aktuelle äußere Umstände bewirkt? Ist unsere Demokratie so gefestigt, dass sie dem Aufbegehren größerer Teile der Bevölkerung und dem Ruf nach „Durchgreifen“ und nach „Einschränkungen“ von Grundrechten, wie sie unsere Verfassung garantieren, standhalten wird?

Ein Blick in den Osten Deutschlands lässt erkennen, dass dort die Verankerung demokratischer Einstellungen geringer ist. Auch das Vertrauen in staatliche Institutionen ist dort aus historischen Gründen weniger ausgeprägt. Diese gewisse Distanz zu unserem Gesellschaftssystem ist wiederholt durch Umfragen deutlich geworden.8) Sie ist noch stärker zu beobachten in Ländern wie Polen, Ungarn, Bulgarien oder Serbien. Der beinahe erfolgreiche Marsch der Trump-Anhänger auf das Capitol ist ebenfalls als ein Warnsignal zu werten, dass die Verankerung einer demokratischen Kultur in weiten Teilen auch demokratischer Länder keinesfalls als gesichert gelten kann. Die Attraktivität des Autoritären aufgrund seiner vermeintlichen oder tatsächlichen Effektivität gegenüber dem oft umständlichen Agieren demokratischer Regierungen übt zweifellos eine gefährliche Faszination auf einen nicht zu ignorierenden Teil der Bevölkerung aus. Deshalb ist das Überleben unseres demokratisch orientierten Gesellschaftssystems auch davon abhängig, ob seine grundsätzliche Überlegenheit und allgemeine Akzeptanz gegenüber autokratischen, aber auch zum Beispiel sozialistischen Systemen allgemeine Überzeugung ist. Auch hier ist der politisch informierte und zu einem angemessenen Urteil befähigte Bürger gefragt und gefordert, der sich eben nicht aufgrund von Politikverdrossenheit radikalisiert, weil er glaubt, dadurch einer Lösung der Probleme näher zu kommen.

Somit sollte allgemeines Einvernehmen darüber bestehen, dass eine qualifizierte Mehrheit gut informierter und hinreichend zu einem angemessenen Urteil befähigter Wähler und Wählerinnen von großer Bedeutung für den Erhalt einer Gesellschaft ist, die sich den Prinzipien Freiheit, Demokratie, Toleranz und den Menschenrechten verpflichtet fühlt. Von einem politisch hinreichend gebildeten Bürger kann zudem erwartet werden, dass er auch für die Zwänge der Politik Verständnis aufbringt und nicht mit utopischen Forderungen auftritt und in der bloßen Rebellion seine Befriedigung findet.

Der sich der Gesellschaft gegenüber verantwortlich fühlende Wähler bemüht sich also, gut informiert zu sein und trifft seine Wahlentscheidung auf der Grundlage von Einsicht in die anstehenden gesellschaftlichen und politischen Probleme. Dieser Wähler ist allerdings dann desillusioniert und verärgert, wenn er feststellen muss, dass seine Stimme durch uninformierte, desinteressierte und einseitig ideologisierte Wähler kompensiert und damit wertlos gemacht wird. Seine Enttäuschung wird umso größer sein, je größer der Anteil uninformierter oder gleichgültiger Wähler einzuschätzen ist. Deshalb sei noch einmal betont: Eine Gesellschaft wird ihre demokratischen Strukturen, wie überhaupt die Prinzipien einer offenen und liberalen Gesellschaft, auf Dauer nur dann bewahren können, wenn diese Werte in ihrer existentiellen Bedeutung in Schule und Medien vermittelt und an positiven wie negativen Beispielen verständlich gemacht und verinnerlicht werden.

Ausdrücklich als Frage sei hier zur Diskussion gestellt: Sollte die Wahlberechtigung von einer Lizenz abhängig gemacht werden, die dem Besitzer die Beherrschung der deutschen Sprache soweit bescheinigt, dass er sich über die relevanten Entscheidungsdaten zu einer Wahl sachgerecht informieren kann? Und sollte er nachweislich wenigstens über die Grundkenntnisse verfügen, die eine angemessene Wahlentscheidung ermöglichen, zum Beispiel durch einen verpflichtenden Grundkurs? Wenn Wähler ohne Sprach- und Sachkenntnisse in relevanten Größenordnungen zur Wahl zugelassen werden, beeinflussen sie in nicht zu vernachlässigender Weise die Wahlergebnisse. Sie konterkarieren damit die Idee einer getreuen Abbildung des Willens jener Wähler, die sich um eine sachgerechte Wahlentscheidung bemüht haben.

Wähler ohne ausreichende deutsche Sprachkenntnisse und ohne die für eine sachgerechte Wahlentscheidung notwendigen Kenntnisse stellen einen besonders krassen Fall problematischer Wähler dar. Viele bei einer Bundes- oder Landtagswahl anstehenden Sachfragen können allerdings auch den gut informierten Wähler überfordern. Hier deutet sich ein Dilemma an, das der zunehmenden Komplexität unserer Welt geschuldet ist, die mehr und mehr der Experten bedarf. Zwar haben wir längst das Konzept der repräsentativen Demokratie, das davon ausgeht, dass der Abgeordnete „mehr weiß, mehr versteht und mehr Überblick hat“ als der durchschnittliche Wähler. Dennoch zeigt sich, dass auch der Abgeordnete oft genug an die Grenzen seines Wissens und Verstehens gerät. Steuern wir also langsam einer Expertokratie entgegen, in der immer mehr nur die Fachleute über die relevanten Informationen verfügen? Der Politik bleibt offenbar immer mehr nur noch das Abwägen zwischen den vermuteten Folgen und dem Ausgleich der verschiedenen legitimen Interessen vorbehalten. Gefährdet die Macht des Experten-Wissens letztlich die Demokratie? Derzeit ist diese Form von Politik beispielhaft an den Fragen der Waffenlieferung an die Ukraine, die von Völkerrechtsexperten unterschiedlich beantwortet wird, zu beobachten oder an den vermuteten Folgen des Verzichts auf die Gaslieferung aus Russland, für die ebenfalls sich widersprechende Antworten geliefert werden. Wir haben offenbar die Komplexität unserer Welt zu akzeptieren, mit der wir so gut wie eben möglich zurechtkommen müssen.

Die Konsequenz aus diesen Überlegungen kann und darf meines Erachtens dennoch und gerade deshalb nur ein Bildungssystem sein, das über bestmöglich ausgebildete Lehrkräfte in genügend großer Anzahl verfügt, ein Bildungssystem, das auf die Entwicklung von Sprachkompetenz von der Kindertagesstätte an achtet und das die ebenso bedeutsame Erziehung zu überzeugten Demokraten leistet. Der Bürger soll zumindest die Entscheidungen der Politiker verständnisvoll nachvollziehen oder mit guten Gründen ablehnen können. Dass diese Zielsetzungen persönliche Leistung und Anstrengungsbereitschaft abverlangen, sollte ebenfalls zu den selbstverständlichen Persönlichkeitsmerkmalen des im vollen Sinn des Wortes „demokratisch“ eingestellten und gebildeten Bürgers gehören.

Nicht alles, was fortschrittlich klingt, ist auch fortschrittlich

Die offene und liberale Gesellschaft ist unseres Erachtens die attraktivere, weil lebenswertere Form einer Gesellschaftsordnung, aber auch die anspruchsvollere in Bezug auf die Bildung und Verantwortung ihrer Mitglieder. Ein Wahlrecht ab 16 Jahre kann nur dann als fortschrittlich bezeichnet werden, wenn ein Bildungssystem dafür sorgt, dass ein jugendlicher Wähler oder eine jugendliche Wählerin über die Voraussetzungen verfügt, die einen verantwortungsvollen Gebrauch dieses Rechts ermöglicht. Diese Bedingungen sind derzeit bei der Mehrheit der jungen Wähler nicht erfüllt. Der Zustand unseres heutigen Bildungssystems lässt langfristig unser Gesellschaftsmodell erodieren, wenn hier nicht entschieden gegengesteuert wird. Das Gros der heutigen jungen Wähler ist sich der Werte unseres über Jahrhunderte mit großen Opfern erkämpften Gesellschaftssystems immer weniger bewusst.

Goethe lässt uns in Faust I wissen, „Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen“. Damit sind gewiss nicht nur materielle Güter gemeint, es sind ganz bestimmt auch kulturelle Errungenschaften darunter zu verstehen, wie sie oben eingangs aufgezählt wurden. Einst wurden diese unter großen Opfern erkämpft. Sie erlauben uns heute ein Leben in Freiheit, Selbstbestimmung und Würde. Die Frage drängt sich mir auf: Wie lange noch?

Anmerkungen:

1) Ich benutze hier meist das generische Maskulinum, das selbstverständlich die weibliche Bedeutung eines Begriffs immer miteinschließt.

2) Julius Betschka: Deal zwischen Rot-Grün-Rot und FDP. Berlin will Wahlalter noch in diesem Jahr auf 16 Jahre absenken. Tagesspiegel, 21.04.2022

3) Susanne Vieth-Entus: Verwaltung verweigert Herausgabe von Statistiken. Berlin ist die Hauptstadt des Lehrermangels – oder? Die Bildungsverwaltung verweigert die Herausgabe von Zahlen zu Quereinsteigern. Tagesspiegel, 30.07.2021

Susanne Vieth-Entus: 700 Lehrer werfen hin: Neue Kündigungswelle an Berliner Schulen verschärft Personalnot. Der Lehrermangel wird immer dramatischer. Quereinsteiger können die Lücken nicht schließen – und die Bildungsverwaltung windet sich um Antworten. Tagesspiegel Plus, 28.07.2021 (Bezahlschranke)

4) Heike Schmoll: IQB-Bildungstrend. Leistungsniveau in Mathe und Naturwissenschaften gesunken. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.10.2019

5) Statistisches Bundesamt – Jeder Vierte in Deutschland hatte 2021 Migrationshintergrund. Welt, 12.04.2022

6) Erdogans Wahlsieg – So haben Türken in Berlin abgestimmt. Berliner Morgenpost, 25.06.2018

7) Jürg Altwegg: Der radikale Islam in Frankreich. Realität in gefährlichen Bildern. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.02.2022

8) Axel Salheiser: Welche Akzeptanz hat die repräsentative Demokratie in Ostdeutschland? Bundeszentrale für politische Bildung, 19.09.2021

Sabine Rennefanz: Die Ostdeutschen und die Demokratie – Schein und Sein. Spiegel, 14.04.2022

Die Gefährdung unserer offenen und liberalen Gesellschaft habe ich auch in einem Artikel unter dem Titel thematisiert. „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde – und ihre fehlenden Freunde“. Humanistischer Pressedienst, 13.06.2018

Weitere Gedanken zum Thema - Uwe Lehnert: Sind wir noch entschlossen, unsere Gesellschaftsordnung und ihre Werte zu verteidigen? Richard Dawkins Foundation, 09.08.2016

Kritische Anmerkungen und wichtige Hinweise zum vorliegenden Text verdanke ich meinem Bruder Jürgen.

Univ.-Prof. Dr. Uwe Lehnert ist emeritierter Professor für Bildungsinformatik und Bildungsorganisation, der an der Freien Universität Berlin im Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie tätig war.

Bekannt geworden ist er vor allem durch sein Buch „Warum ich kein Christ sein will“. Im Oktober 2018 erschien die 7., vollst. überarb. Auflage, Hardcover, 490  S. im Tectum-Verlag Baden-Baden (innerhalb der Nomos Verlagsgesellschaft).

Webseite: http://warum-ich-kein-christ-sein-will.de/

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