Der Lebenswert ist nicht verhandelbar!

Kommentar zur Orientierungsdebatte Sterbehilfe

Der Lebenswert ist nicht verhandelbar!

Foto: Pixabay.com / Foundry

In einer „Orientierungsdebatte“ (21. April 2021) hat der Deutsche Bundestag erste Überlegungen angestellt, wie er das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2020 zur gewerblich betriebenen Sterbehilfe (BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15 -, Rn. 1-343) in einem neuen Gesetz berücksichtigen kann. Die Debatte war durch alle Fraktionen hinweg von Ernsthaftigkeit geprägt – was in diesen Tagen nicht mehr selbstverständlich ist. Man merkt, dass es in dieser Frage um die wirklich wichtigen Dinge geht – nämlich um das Leben, zu dem auch sein Ende dazugehört. Ich gebe zu: Lange Zeit vertrat ich die Ansicht, Sterbehilfe jeglicher Art müsse konsequent verboten sein. Doch nicht nur durch eigene Erkrankung hat sich meine Einstellung relativiert.

Zweifelsohne: Ärzte sind heute in der Lage, das Leiden erträglich zu machen. Schmerz- und Palliativmedizin ermöglichen vielen schwerstkranken Menschen auch in den letzten Tagen vor ihrem Sterben ein Dasein in Würde, das Hospizwesen schafft nicht nur für Angehörige ein Abschiednehmen ohne Qual. Doch wie steht es um die Frage nach dem Lebenswillen? Trotz wissenschaftlicher Fortschritte gibt es noch immer Gebrechen, die mit einer massiven Drangsal verbunden sind – und für die es an adäquaten Mitteln fehlt, um die weitere Existenz erträglich zu machen. Ja, ich finde es richtig, dass die Höchstrichter festgestellt haben, wonach der Mensch zu jedem Zeitpunkt seines Lebens das Recht auf Selbstbestimmung hat.

Denn es geht nicht darum, ob die Gesellschaft sich wünscht, dass eines ihrer Mitglieder auch in schier ausweglosen Situationen weiterkämpft. Der Umgang mit dem persönlichen Elend ist eine überaus subjektive Angelegenheit. Daher wäre es übergriffig, wenn wir als Außenstehende versuchen würden, einen Anderen zum Weitermachen überreden zu wollen. Ich bin fest davon überzeugt, dass sich die allermeisten Menschen, die sich in einer Situation der Entscheidung über den eigenen Tod befinden, über ihr Verhalten und die Konsequenzen bewusst sind. Zwar mögen manches Krankheitsbild und die Angst vor Not und einem Schlussstrich unter das Leben zu einer psychischen Dekompensation führen, die eine zuverlässige und rechtlich bindende Aussage ausschließt. In der überwiegenden Mehrheit sind wir aber verpflichtet, den Wunsch eines suizidwilligen Menschen ernst zu nehmen.

Karlsruhe hat dem Gesetzgeber ausdrücklich erlaubt, die Förderung der gewerblichen Suizidbeihilfe an bestimmte Voraussetzungen zu knüpfen. Deshalb halte ich es für sinnvoll, dass wir mithilfe eines abgestuften Konzeptes garantieren, die tatsächliche Offenheit zum Selbstmord durch das Abklopfen der Willensbereitschaft des Einzelnen zu prüfen. Denn auch wenn der Freitod nach den Maßgaben des Gerichts zu jedem Zeitpunkt möglich sein muss, besteht gleichzeitig kein Anspruch auf Suizidbeihilfe. Was nach der Quadratur des Kreises klingt, kann allein durch eine Entlastung aller Beteiligten aufgelöst werden. Und sie ist allein durch Beratung erreichbar – das zeigt uns das Beispiel des Schwangerschaftsabbruchs, der zu Recht an dieselbe Bedingung geknüpft ist. Um dem Suizidwilligen eine möglichst neutrale und ergebnisoffene Aufklärung zu gewährleisten, dürfen die beratenden Stellen weder dem Staat untergeordnet, noch einem gewinnorientierten und interessengeleiteten Verein unterworfen sein.

Neben der psychologischen Erfassung und Bewertung des Suizidwunsches, einer ärztlichen Einschätzung über die tatsächliche Ausweglosigkeit der persönlichen Lebenssituation und der Überprüfung der Entscheidungsfähigkeit des Patienten liegt die Aufgabe des Beratungsgesprächs zwingend in der Darlegung von alternativen Angeboten von Lebensverlängerung und Lebenshilfen, die manch hoffnungsloser Mensch in der seelischen Einengung seiner Pein nicht erkennen kann. Nein, der Suizidwillige soll damit in seinem Entschluss nicht beeinflusst werden. Viel eher soll ihm die Möglichkeit eingeräumt werden, seinen Entschluss nochmals in allen Facetten zu durchdenken. Denn nicht selten stellt ein Lebensüberdruss eine alleinige Momentaufnahme dar, deren Konsequenz im Zweifel unumkehrbar sein könnte. Und wir wissen darum, wie viele Menschen nach einem fehlgelaufenen Suizidversuch dankbar sind, dass es nicht geklappt hat. Deshalb scheint es auch zweckmäßig, den Sterbewilligen durch die Beratung nicht zeitlich unter Druck zu setzen.

Abwägung mit Netz und doppeltem Boden

Gleichsam ist es für den Mediziner, der sich durch Bereitstellung eines tödlichen Medikaments zur Suizidbeihilfe entschließt (und nach dem verfassungsrichterlichen Urteil keine standesrechtlichen Folgen mehr befürchten muss), eine Beruhigung für das eigene Gewissen, wenn sein Tun auf einer mehrfach hinterfragten Entscheidung des Patienten beruht. Auch die Nächsten des Suizidwilligen können nicht nur im Falle der eigenständig geleisteten Suizidbeihilfe leichter mit dem Freitod umgehen, wenn sie wissen, dass die Abwägung mit Netz und doppeltem Boden stattfand. Ich halte überdies eine größtmögliche Differenzierung des Einzelfalls für notwendig. Denn ich kann mir nicht vorstellen, dass wir auf den Wunsch nach Lebensende eines 30-Jährigen mit einer therapieresistenten Depression genauso antworten können, wie auf die Entscheidung eines 80-jährigen Krebskranken im Endstadium. Kein Zweifel: Jedes Leben hat den gleichen Wert. Und Ziel muss es sein, Menschen in jeder Situation zum Leben zu ermutigen.

Doch ich denke, dass es sowohl für Ärzte, die ein todbringendes Medikament verschreiben, aber auch für die Angehörigen des Suizidwilligen einen großen Unterschied macht, welche objektive Perspektive für die zukünftige Lebensqualität des Individuums besteht. Menschen in einer seelischen Krise, die vorübergehend den Lebensmut verlieren, bedürfen Hilfe zum Leben, nicht Hilfe zum Sterben. Oftmals ist es fehlende Information über die Möglichkeiten der modernen Psychiatrie und Neurologie, welche denjenigen doch noch Zuversicht geben können, bei denen scheinbar kein Arzneimittel mehr wirkt. Ohnehin: Es braucht bei aller Debatte um Suizidbeihilfe einen viel stärkeren Einsatz für den weiteren Ausbau von Hilfsstrukturen.

Seit Jahren liegt die Überarbeitung der Bedarfsanalyse für Psychotherapieplätze auf Eis, fehlt es an Psychoonkologen und Schmerzmedizinern im ambulanten und stationären Bereich, die Forschung zur Palliativmedizin bedarf weiterhin Fördergelder für neue Erkenntnisse – und nicht zuletzt sind der Ausbau von konfessioneller und konfessionsloser Seelsorge und die finanzielle Unterstützung des Hospizwesens eine Aufgabe, die mindestens gleichrangig zur gesetzlichen Neuregelung der Sterbehilfe verfolgt werden muss. Nein, wir dürfen nicht verklären, dass es auch im 21. Jahrhundert bei allen transhumanistischen Errungenschaften menschliche Verzweiflung gibt, weil es uns eben nicht gelingt, die Folgen von Krankheit derart abzumildern, dass dem Patienten in seiner ganz persönlichen Empfindung ein lebenswertes Weiterleben geschenkt werden kann. Für diese Fälle ist es richtig, dass der Gesetzgeber handelt. Strafrechtliche Regelungen braucht es nach meinem Dafürhalten dafür nicht.

Uns werden auch künftig gesetzliche Vorgaben abgerungen, mit denen wir nicht nur ethisch zu kämpfen haben. Denken wir an die Frage, wie ein Sterbewilliger behandelt werden soll, der nicht mehr in der Lage ist, seinen Selbstmord eigens herbeizuführen. Denkt man die Entscheidung aus Karlsruhe weiter, könnten wir schon bald mit solchen Fallkonstellationen betroffen sein, in denen auch indirekte oder passive Sterbehilfe den Wunsch nach Selbstbestimmung nicht umsetzen können. Ja, wir müssen unsere Gesellschaft vor moralischen Dammbrüchen bewahren. Doch wir dürfen uns um die diffizilsten Entscheidungen auch nicht drücken. Daher mahne ich dazu, den in der aktuellen Debatte bewiesenen Konstruktivismus des politischen Diskurses auch fortan zu praktizieren. Denn nur, wenn wir Populismus und Ideologie aus der Diskussion heraushalten, werden wir es schaffen, auch in der Zukunft konsens- und mehrheitsfähige Wertmaßstäbe zu setzen.

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