Der Staat als Komplize?

Der staatliche Umgang mit den Missbrauchs-Verbrechen der Kirchen ist ein Skandal

Der Staat als Komplize?

Foto: Pixabay.com / Annabel_P

Klerikale Täter können sich mithilfe des Kirchenrechts dem Strafrecht entziehen. Genießt die Kirche eine stillschweigende Unantastbarkeit? Die Justiz ermittelt zögerlich, die Politik schweigt. Eine unerträgliche Komplizenschaft. Die Demokratie nimmt Schaden.

Man stelle sich einmal vor: ein weltweit agierendes Unternehmen, dessen Angestellten über Jahrzehnte Tausende Straftaten begangen haben – keine Bagatellvergehen, sondern schwere und schwerste Verbrechen – den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, von denen der Vorstand weiß. Aber er vertuscht, deckt die Täter und verhängt keine sichtbaren Sanktionen, weder gegen die Täter noch gegen deren Helfer. Normalerweise müsste man die Staatsanwaltschaft einschalten, aber das Unternehmen unternimmt nichts. Keine Frage: staatliche Verfolgungsbehörden sähen hier Strafvereitelung, Verdunkelungsgefahr und Mittäterschaft. Unsere Justiz duldet keine kriminelle Komplizenschaft. Wir leben schließlich in einem Rechtsstaat. Eigentlich.

Doch hier geht es nicht um ein normales Unternehmen, sondern um eine Weltfirma, die als Alleinstellungsmerkmal »Barmherzigkeit« und »Glaubwürdigkeit« beansprucht: die katholische Kirche. Und dennoch: die deutschen Staatsanwaltschaften bleiben bei der Verfolgung und Aufklärung (von Verurteilungen ganz zu schweigen) von Missbrauchs-Verbrechen weitgehend untätig.

Verleugnen und Vertuschen in friedlicher Ko-Existenz? Sexueller Missbrauch, ein sogenanntes »Offizialdelikt«, eine Straftat, die von Amt wegen von der Staatsanwaltschaft angezeigt und verfolgt werden muss, die aber weder von den Klerikern noch von den Ermittlungsbehörden mit Nachdruck verfolgt wird. Ein unerträglicher Befund. Selbst nach der Veröffentlichung neuer Missbrauchs-Gutachten, nach Bekanntwerden weiterer Sexualverbrechen, nach beschämenden Bekenntnissen verantwortlicher Bischöfe und Kardinäle, nach den Lügen eines Ex-Papstes: es fehlt an staatlichen Willen, einer klerikalen Rechtsstaats-Verweigerung endlich ein Ende zu setzen.

Die Frage drängt sich auf: Gibt es hierzulande zwei parallele Rechtssysteme? Können sich klerikale Täter mithilfe des Kirchenrechts dem Staatsrecht entziehen? Genießt die Kirche eine stillschweigende Unantastbarkeit? Warum die Zurückhaltung der Strafverfolgungsbehörden? Warum ordnen sie nicht an, dass die Kardinäle, Bischöfe und Kirchen-Verwalter die Namen der Sexual-Täter nennen müssen? Auch wenn sich die Kirchenjuristen gerne darauf verweisen, dass staatsanwaltschaftliche Ermittlungsbefugnisse nur bedingt in den Binnenbereich der Kirche hineinwirken dürfen, muss klar sein: der Staat hat einen Strafverfolgungsanspruch. Man nennt es Rechtsstaat.

Die Politik schweigt - warum eigentlich?

Und die Politik? Sie schweigt. Prominente Partei-Köpfe, die in TV-Talkshows sonst jeden Sturm im Wasserglas im verlässlichen Empörungsmodus wegdiskutieren, sie alle verstummen, wenn es um die klerikalen Verbrechen geht. Sie bleiben vage, wenn es um die Abschaffung von Sonderrechten und Privilegien der Kirchen geht, sie drücken sich um klare Antworten, wenn nach einer grundsätzlichen Entflechtung von Kirche und Staat gefragt wird.

So verständlich es ist, dass der gläubige Mensch nicht gerne in den Giftschrank seiner Kirche blickt - der Rechtsstaat muss es tun. Wir leben in keinem Kirchenstaat, sondern einem Verfassungsstaat. Nicht vage Absichtserklärungen, wirksames Handeln ist gefragt.

Statt heiliger Dreifaltigkeit, drei überfällige, erste konkrete Schritte: Erstens: die Strafverfolgung-Behörden müssen konsequent ihre Arbeit machen. Gegen das klerikale Vertuschungs- und Schweigesystem. Es gibt keine Schonung mehr.

Zweitens: Die sogenannten Staatsleistungen sind endlich abzuschaffen! Seit mehr als 100 Jahre zahlt der deutsche Staat den beiden großen Kirchen üppige »Wiedergutmachungen« für Enteignungen vor 200 Jahren, immerhin 590 Millionen jährlich. Ein permanenter Verfassungsbruch, denn bereits in der Weimarer Verfassung - und danach ins Grundgesetzt übernommen - ist die Ablösung dieser Staats-Zahlungen festgeschrieben. Die Politik aber drückt sich. Es gibt zwar einen Gesetzentwurf von FDP, Linken und Grünen - die Ampelregierung müsste ihn nur umsetzen. Aber sie tut nichts.

Drittens: Abschaffung der Kirchensteuer! Dass der Staat für die Kirchen als Inkasso-Unternehmen die Mitgliedsbeiträge eintreibt, hat historische Gründe und mag auch für ihn lukrativ sein, widerspricht aber dem Neutralitätsgebot.

Es geht nicht um die Austreibung Gottes aus der Welt. Glaubens- und Religionsfreiheit ist Menschenrecht. Demokratische Staaten garantieren religiösen Gruppen, Gemeinschaften oder Kirchen, dass sie frei agieren können, soweit sie nicht die Freiheiten anderer gefährden oder die Gesetze verletzen. Aber wir hätten keinerlei Einwände, wenn das Neutralitätsgebot endlich Anwendung fände und der Einfluss der Religionen – hierzulande vor allem der der beiden großen christlichen Konfessionen – eingeschränkt und zurückgedrängt würde, inklusive aller Privilegien und Ressourcen, Subventionen und Ordnungsfelder. Und der Gottesbezug in der Präambel unseres Grundgesetzes? Auch der darf gerne gestrichen werden. Unser Grundgesetz sollte gottlos sein.

Ob moslemische Gottes-Fanatiker, christliche Fundamentalisten, ob Hardliner des Vatikans oder alt-testamentarische Rabbiner – sie alle müssen zur Kenntnis nehmen: Wir leben in einem säkularen Verfassungs-Staat, alle Bürger dürfen ihren Gott, auch ihre Götter haben, der Staat aber muss ist in einer modernen Grundrechts-Demokratie gottlos sein. Es geht darum, die Errungenschaften der Aufklärung zu verteidigen, damit Gott nicht in die Politik zurückkehrt. Der Staat vor der Religion, der Bürger vor dem Gläubigen. Die falsch verstandene Komplizenschaft von Staat und Kirche muss ein Ende haben.

Helmut Ortner, Jahrgang 1950, hat bislang mehr als zwanzig Bücher, überwiegend politische Sachbücher und Biografien veröffentlicht, u.a. Der Hinrichter - Roland Freisler, Mörder im Dienste Hitlers, Der einsame Attentäter - Georg Elser und Fremde Feinde - Der Justizfall Sacco & Vanzetti, sowie Ohne Gnade und EXIT - Warum wir weniger Religion brauchen – Eine Abrechnung (Paperback).

Seine Bücher wurden bislang in 14 Sprachen übersetzt. Helmut Ortner ist Mitglied bei Amnesty International und im Beirat der Giordano-Bruno-Stiftung.

Sein neues Buch Widerstreit – Über Macht, Wahn und Widerstand“ erschien im Mai 2021.

Am 3. November 2021 stellte Helmut Ortner sein Buch als Gast der Richard Dawkins Foundation in Bremen vor.

Kommentare

  1. userpic
    Uwe Lehnert

    Jeden Satz des obigen Beitrags kann man dreifach unterstreichen!

    Aber wir sind eben immer noch zu maßgebenden Teilen ein Kirchenstaat – entgegen allen Aussagen der Verfassung. Das hängt einfach damit zusammen, dass entscheidende staatstragende Institutionen von Leuten besetzt sind, die sich zugleich den Kirchen verpflichtet fühlen. Die enge Verflechtung von Staat und Kirche hat Carsten Frerk vor Jahren in „Kirchenrepublik Deutschland“ dokumentiert und entlarvt.

    Ich habe vor kurzem (8.2.22) auf meiner Facebook-Seite folgenden Kommentar eingestellt:

    Kirchlicher Missbrauch: Passive Mitwirkung des Staates
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    Seit Wochen wird über die Schandtaten der »moralischen Anstalt« Kirche, besonders der katholischen, berichtet. Sogar höchste Würdenträger geben sich bußfertig, und mitunter hat man das Gefühl, dass dabei sogar echte Reue im Spiel sein könnte. Hinter der Zerknirschtheit dürfte sich aber mehr die große Sorge vor dem Verlust der Reputation der vermeintlich heiligen Institution Kirche verbergen.

    Dass die kirchlichen Vertreter die derzeit laufende Aufklärungswelle nicht selbst in Gang gesetzt haben, steht dennoch fest. Erst die sich häufenden angezeigten Fälle haben nach und nach die Lawine ausgelöst. Vor allem waren es die Betroffenen und auch kirchliche Laienorganisationen, die den sich so gerne weckduckenden Verantwortlichen in den Kirchenleitungen Feuer unter der Sitzfläche machten. Dabei muss von einer Dunkelziffer von Fällen gesprochen werden, die möglicherweise die »Hellziffer« um ein Mehrfaches übersteigt.

    Was aber kaum zur Sprache kommt, ist die bodenlose Gleichgültigkeit unserer staatlichen Stellen, die jahrzehntelang sich weggeduckt haben, obwohl es ihre Pflicht gewesen wäre, staatsanwaltliche Aktivität zu zeigen. Jeder kleine Taschendieb wird zu Recht verfolgt und bestraft. Die ungleich größere Straftat des Missbrauchs eines Kindes, oft genug mit der Folge eines lebenslangen und lebenszerstörenden Traumas, war diesen von Amts wegen verpflichteten Stellen keine Verfolgung wert. Man muss geradezu von einer »passiven Mitwirkung« sprechen, die hier staatlicherseits in Hunderttausenden von Fällen stattgefunden hat. Die übergroße Zahl der Staatsanwälte war vor Jahrzehnten noch Mitglied der Kirchen, also offiziell Christen. Erklärt das vielleicht deren fromm ergebene Untätigkeit? Aber auch keiner der zuständigen Innenminister des Bundes oder der Länder, fast immer auch von den beiden Kirchenparteien CDU/CSU und SPD gestellt, fühlte sich bemüßigt, von sich aus aktiv zu werden, wenn schon die an sich zuständigen Stellen vor Ort wegschauten.

    Offenbar wollte man es einfach nicht wissen, nicht wahrhaben, dass diese »heilige Institution« mit »solchem Schmutz« in Verbindung gebracht wird. In ganz wenigen Einzelfällen gab es sogar mal die eine oder andere gerichtliche Verurteilung. Statt aber hellhörig zu werden, obwohl erkennbar war, dass diese Taten keine Einzelfälle darstellten, dass ihnen vielmehr eine systemische Ursache zugrunde liegen müsse, schwieg man. Zu viele sogenannte Christen hatten kein Erbarmen mit den Opfern, sie konzentrierten ihr »Mitleid« auf diese unheilige Institution, weil ihnen offenbar mit Erfolg tief ins Unterbewusstsein indoktriniert worden war, dass dahinter nur der Teufel stecken könne oder ein bösartiger atheistischer Versuch, die Axt an die Wurzeln des Abendlandes zu legen.

    Der überall rechtsextreme Aktivitäten erkennende Christ und Kirchenfreund Steinmeier hätte doch viel früher auch diese Form von Extremismus anklagen können. Aber wohin man auch schaut, es gab eine Kumpanei des Schweigens. Ob die jetzige Bundesregierung mehr diesbezüglichen Betätigungsdrang zeigen wird?

    Diese Institution Kirche, die angeblich für die Menschen da sein will, steht gefühlskalt über den Menschen. Diese dienen allenfalls als Stütze eines morschen Systems und als willkommene Geldgeber. Mehr und mehr wache Köpfe haben aber verstanden und versuchen, beim Amtsgericht endlich einen Termin zu bekommen, um gegen ein Zwangsgeld, zwischen 10 und 60 Euro je nach Bundesland, freigelassen zu werden.

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