Die große Entdeckung, die keine war

Trotz verlockender Hinweise gibt es ein Teilchen, dessen Existenz auf eine vormals unbekannte Naturgewalt hingewiesen hätte, doch nicht.

Die große Entdeckung, die keine war

Gregory (Kriminalbeamter von Scotland Yard): „Möchten Sie mich noch auf einen weiteren Gegenstand aufmerksam machen?“

Holmes: „Auf den eigenartigen Vorfall mit dem Hund zur Nachtzeit.“

Gregory: „Der Hund hat zur Nachtzeit gar nichts getan.“

Holmes: „Das war der eigenartige Vorfall.“

Sir Arthur Conan Doyle: Silberstern (1892)

Anfang August erschien ein Nachrichtenbericht, der vielen Lesern wie eine Pseudo-Nachricht vorgekommen sein muss. Zwei große Experimente beim Large Hadron Collider von CERN endeten mit dem Ergebnis, dass kein neues Teilchen entdeckt wurde.

Würde jedes Mal ein Nachrichtenbericht über ein wissenschaftliches Experiment erscheinen, das nicht zu einer neuen Entdeckung führte, wären die Zeitungen viel dicker, als sie es heute sind.

Warum ist diese Sache also so wichtig? Nun, wie der Sinnspruch von Sherlock Holmes oben besagt, ist es manchmal recht bedeutend, wenn man gar nichts beobachtet. Hätte der LHC in diesem Fall die Existenz eines vorläufigen Ausreißers bestätigt, den man in den Daten vom Vorjahr bemerkt hatte, dann wäre das die wichtigste Entdeckung der Teilchenphysik in einem halben Jahrhundert gewesen. Die Daten schienen nämlich auf die Existenz eines vollkommen unerwarteten neuen Elementarteilchens hinzuweisen, das sechs Mal so schwer ist wie das vor kurzem entdeckte Higgs-Teilchen.

Vier Jahrzehnte lang hat jedes Experiment, das jemals in Teilchenbeschleunigern gemacht wurde, mit zunehmender Genauigkeit all die Voraussagen bestätigt, die theoretische Physiker während einer bemerkenswerten Dekade von der Mitte der 1960er-Jahre bis zur Mitte der 1970er-Jahre aufgestellt hatten. Zu dieser Zeit haben wir auf der Ebene der Quantenmechanik etwas entwickelt, das nach einem vollständigen Verständnis von drei der vier bekannten Naturkräfte aussah – wobei die Gravitation die einzige Ausnahme blieb.

Das sogenannte Standardmodell baut auf der Grundlage all der Schlüsselentwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts auf. Sie beginnen mit unserem Verständnis des Elektromagnetismus und reichen bis zur Relativität und zur Quantenmechanik. Das Standardmodell beruht auf einem mathematischen Grundgerüst, das die Physiker bei ihrem Streben nach einer Vereinigung aller bekannten Naturkräfte in einer einzigen Theorie angeleitet hat. Es kann berechtigterweise als das wichtigste Theoriengebäude bezeichnet werden, das die Wissenschaft jemals hervorbrachte.

Eine fehlende Zutat des Standardmodells war ein neues Teilchen, das man vorausgesagt hatte, aber das nie beobachtet worden war. Um es zu finden, bauten Wissenschaftler das komplizierteste Gerät, das jemals entwickelt wurde, den Large Hadron Collider. Am 4. Juli 2012 wurde dann das Higgs-Teilchen entdeckt.

Die Entdeckung war ein großer Anlass zum Feiern – die Bestätigung, dass die Natur wirklich den mathematischen Beschreibungen gehorcht, die Theoretiker entwickelt hatten, um eine merkwürdige und exotische grundlegende Realität zu beschreiben, die allen beobachteten Phänomenen zu Grunde liegt – die Entdeckung des Higgs-Teilchens stellte die Wissenschaft aber auch vor ein neues Dilemma.

Die Bestätigung von Theorien ist eine wunderbare Sache. Damit ein Fortschritt möglich ist, müssen allerdings experimentelle Entdeckungen gemacht werden, die Theoretiker anleiten, während sie herauszufinden versuchen, ob die Ideen, die Physikern schön vorkommen, auch wahr sind. Denn das ist die Schönheit der Wissenschaft. Die Natur interessiert sich nicht dafür, welche Ideen Menschen als natürlich oder überzeugend erscheinen. Die Wissenschaft unterscheidet sich grundlegend dadurch von der Religion, dass sie uns dazu zwingt, unsere Überzeugungen in den Einklang mit der Realität zu bringen und nicht andersherum.

Physiker haben sich daran gewöhnt, skeptisch zu sein

Und genau darin liegt das Problem. Sofern das LHC keine neuen Entdeckungen macht, werden wir keine Ahnung haben, ob die aktuellen Ideen korrekt sind, die den Modellen zu Grunde liegen, die Physiker entwickeln, um unser Verständnis der Natur in den kleinsten Maßstäben zu erweitern. Insbesondere wird die grundlegende Frage, warum das Standardmodell die Form hat, die es hat, und warum das Higgs-Teilchen überhaupt existiert, unbeantwortet bleiben.

Daher rührte das unglaubliche Interesse der Physikerwelt an der Bekanntmachung im vergangenen Jahr, dass die beiden Experimente beim LHC, bei denen das Higgs-Teilchen entdeckt wurde, erste vorläufige Belege für ein weiteres Elementarteilchen hervorgebracht hatten. Diese Entdeckung war so aufregend, weil keine der neuen Theorien auf der Grundlage des Standardmodells ein solches Teilchen vorausgesagt hatte. Hätte es das Teilchen wirklich gegeben, hätte es offenbar die Existenz einer weiteren neuen fundamentalen Naturkraft jenseits der vier bekannten Kräfte vorausgesetzt.

Physiker haben sich allerdings daran gewöhnt, skeptisch zu sein. Trotz der Tatsache, dass wortwörtlich Hunderte theoretische Arbeiten veröffentlicht wurden, die neue Ideen erläutern, wie ein so revolutionäres neues Teilchen existieren könnte – von denen viele die orthodoxen Auffassungen hinterfragen, welche grundlegenden Naturgesetze tatsächlich die Natur beherrschen – ist es doch ein Maxim in der Physik, dass die meisten revolutionären Beobachtungen einer weiteren Prüfung nicht standhalten. Wäre das nicht der Fall, dann müssten revolutionäre Entwicklungen so weit verbreitet sein, dass sie nicht länger revolutionär wären.

Viele von uns Theoretikern waren also nicht überrascht, als das neue und viel größere Datenpaket, das kürzlich bei einem internationalen Treffen der Teilchenphysiker vorgestellt wurde, den verlockenden Ausreißer, der zuvor beim LHC beobachtet worden war, als statistischen Zufall entlarvte. Wie Carl Sagan immer wieder bemerkte, erfordern außergewöhnliche Behauptungen außergewöhnliche Belege. Und die potenzielle Entdeckung beim LHC war weit von allem entfernt, was ich jemals in meinem Physikerleben gesehen habe.

Die Neuigkeit vom CERN ist dennoch bittersüß. Das bemerkenswerte intellektuelle Gebilde bleibt zwar als Teil des Standardmodells intakt, aber es gibt nichts Aufregenderes in der Wissenschaft, als wenn uns die Natur überrascht, denn das bedeutet, dass das Universum merkwürdiger und spannender ist, als wir es uns jemals vorgestellt hatten.

Die aktuellere Neuigkeit vom CERN ist zwar weniger aufregend, als wir vielleicht zu hoffen wagten, aber etwas Anderes kann uns aufmuntern. Der ununterbrochene Erfolg des Standardmodells belegt die Macht der menschlichen Vorstellungskraft, doch wie wir aus der Geschichte wissen, ist die Vorstellungskraft der Natur noch größer. Das LHC bringt weiterhin spannende Ergebnisse hervor und ich wäre zumindest überrascht, wenn ich nicht in absehbarer Zukunft mit einer Überraschung rechnen dürfte.

Übersetzung: Andreas Müller

Lawrence M. Krauss ist ein theoretischer Physiker und Buchautor. Darunter „Die Physik von Star Trek“ und „Ein Universum aus Nichts“. Sein neues Buch „The Greatest Story Ever Told...So Far“ erscheint im März 2017.

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Kommentare

  1. userpic
    Norbert Schönecker

    "die Bestätigung, dass die Natur wirklich den mathematischen Beschreibungen gehorcht, die Theoretiker entwickelt hatten" - naja, in Wirklichkeit ist es wohl doch umgekehrt. Die Naturgesetze, von Menschen in mathematischer Sprache formuliert, beschreiben die Natur.
    Später schreibt Krauss ja selbst, dass "die Wissenschaft ... uns dazu zwingt, unsere Überzeugungen in den Einklang mit der Realität zu bringen und nicht andersherum."

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