Mein Nachruf zu seinen Ehren
E.O. Wilsons Soziobiologie wurde etwa zur gleichen Zeit wie mein Buch Das egoistische Gen veröffentlicht, und die Welle der falsch verstandenen Kontroverse, die Wilson umgab, schlug mir ein wenig entgegen. Sie war von zwei seiner Kollegen von der Harvard University angefacht worden, gefolgt von einer Schafsherde gleichenden Genossen und Mitläufern. Ungefähr zu dieser Zeit traf ich Ed Wilson zum ersten Mal, und zwar auf der Tagung der American Association for the Advancement of Science 1978 in Washington, D.C. Ein breit lächelnder Wilson humpelte zur Kaffeepause auf Krücken auf mich zu (er hatte sich ein Bein gebrochen) und machte, ohne sich vorzustellen, einen freundlichen Scherz darüber, dass er „nichts von diesem Reduktionismus hier wolle“ - eine geniale Anspielung darauf, dass wir beide der abscheulichen Sünde des Reduktionismus beschuldigt wurden (was immer das auch bedeuten mag; seine Kritiker scheinen sich nie entscheiden zu können).
Auf derselben Konferenz saß Wilson zusammen mit Stephen Jay Gould, David Barash und anderen auf einem Podium. Ich wurde Zeuge des marxistisch inspirierten Pöbels, der auf das Podium stürmte und seine kindischen Sprüche skandierte: „Wilson, Wilson, du kannst dich nicht verstecken. Wir klagen Sie des Völkermordes an.“ Ein bärtiger Mann kippte Wasser über Wilson, und ein anderer warf einen Becher mit Wasser, den Barash abwehrte. Es kam zu einem Tumult, in dessen Verlauf Gould das Mikrofon ergriff und treffend Lenin zitierte, um „diese infantile Unordnung“ zu verurteilen. Der Sitzungsleiter nahm Gould das Mikrofon ab und sagte, er wolle sich als Anthropologe und Marxist „persönlich bei Professor Wilson entschuldigen“.
Wilson trocknete sich ab, putzte seine Brille und hielt dann in aller Ruhe und mit der ihm eigenen guten Laune einen brillanten Vortrag. In der Fragestunde war ich beeindruckt von seiner meisterhaften Beherrschung der anthropologischen Literatur, und das auf einem Gebiet, das weit von seinem eigentlichen Fachgebiet, der Entomologie, entfernt ist. Eine junge Frau brach fast in Tränen aus, als sie ihre Frage stellte, da sie offenbar zu der Annahme verleitet worden war, dass Wilsons Ideen, wenn sie richtig wären, sie zu einem Leben als stereotype Frau verurteilen würden, die in der Schürze der Häuslichkeit gefangen ist. Wilson räumte mit diesem allzu häufigen Missverständnis auf, und sie setzte sich, wie ich hoffe, zufrieden hin.
Ebenso fehlgeleitet, ja geradezu verleumderisch war der Ruf „Wir klagen Sie des Völkermordes an“. Wie bitte? Haben wir richtig gehört? Völkermord? Es ist, als ob diese Leute dachten, dass jede Erwähnung des gefürchteten Wortes Gen im selben Satz wie menschliches Verhalten oder menschliche Psychologie den Sprecher automatisch als völkermordenden Rassisten brandmarkt. Man fragt sich, welche Superlative übrigbleiben, um echten Rassismus zu beschreiben, wenn er einem über den Weg läuft, ganz zu schweigen von Völkermord?
Vier Jahrzehnte später war die kindliche Störung eines natürlichen Todes gestorben, als die Täter erwachsen wurden. Doch leider tauchte nach Wilsons Tod ein verworrener Aufguss davon wieder auf - ausgerechnet im Scientific American. Diesmal wurde kein Wasser geworfen, sondern es wurden nur böse, abfällige Anspielungen gemacht, für die es buchstäblich keine Beweise gab - und auch keinen Hinweis darauf, dass der Autor auch nur ein Wort der Soziobiologie gelesen hatte. Der Herausgeber des Scientific American gab zu Protokoll, er finde den Artikel „faszinierend“. Sind die Standards dieser einst angesehenen Zeitschrift wirklich so tief gesunken? Hat sie die Wissenschaft aufgegeben?
Edward O. Wilson war ein Gentleman - ein humaner, humanistischer Gentleman. Er war auch ein Mensch, der sich irren kann, wie wir alle. Ich glaube, dass er sich in seiner späteren Meinungsverschiedenheit mit praktisch allen anderen Fachleuten in Bezug auf die Verwandtenselektion und die inklusive Fitness gründlich irrte (eine rein wissenschaftliche Meinungsverschiedenheit, die nichts mit den politischen Vorurteilen der Washingtoner Wasserwerfer oder des nasskalten, inkohärenten Autors des Scientific American zu tun hat).
Es wäre heuchlerisch von mir, die Existenz meiner äußerst kritischen Rezension von The Social Conquest of Earth nicht zu erwähnen, in der die Art der Meinungsverschiedenheit erklärt wird. Ich stehe zu ihr und bedaure ihren unverblümten Ton nicht (sie ist in meinem Buch Books Do Furnish a Life aus dem Jahr 2021 abgedruckt). Aber ich stehe auch zu meiner tiefen Bewunderung für Professor Wilson und sein Lebenswerk.
Edward O. Wilson war ein Biologe von unschätzbarem Wert. Neben seinem unübertroffenen Fachwissen über die faszinierend fremde Welt der Ameisen war er einer der führenden Ökologen der Welt. Zusammen mit Robert MacArthur erfand er die moderne Wissenschaft der Inselbiogeographie. Wenn er auch Biophilie und Konsilienz nicht erfunden hat, so bleibt sein Name doch mit diesen edlen Philosophien als ihr deutlichster Vertreter verbunden. Er war ein erstaunlich produktiver und fleißiger Autor. Nachdem er ein so umfangreiches Buch wie The Insect Societies fertiggestellt hatte, hätte man erwarten können, dass er sich eine wohlverdiente Pause gönnt. Einem geringeren Mann hätten bequeme Lorbeeren gelockt. Aber nein: „Weil ... vom Schreiben von The Insect Societies noch etwas Schwung übrig war, beschloss ich, genug über Wirbeltiere zu lernen, um eine allgemeine Synthese zu versuchen.“ Das Ergebnis war die Soziobiologie. Etwas Schwung! Und selbst die Soziobiologie, die man für ein normales Leben für ausreichend groß halten könnte, wird von The Ants, seinem späteren, gemeinsam mit Bert Hölldobler verfassten Werk, in den Schatten gestellt.
Nicht viele Wissenschaftler können zwei Pulitzer-Preise vorweisen. Darüber hinaus wurde er mit dem Crafoord-Preis der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet, der weithin als Äquivalent zum Nobelpreis für Disziplinen gilt, „die so ausgewählt wurden, dass sie diejenigen ergänzen, für die die Nobelpreise vergeben werden“. Ein großer Wissenschaftler und ein großer Mann.
Übersetzung: Jörg Elbe
Edward O. Wilson - 10. Juni 1929 bis 26. Dezember 2021.
E.O. Wilson: A Life in Nature, Citizen of the Biosphere
Skeptical Inquirer Volume 46, No. 3 - Mai/Juni 2022
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