Evolution in der Grundschule - Warum die Kritik am „Evokids“-Projekt unsachgemäß ist
Evokids ist ein Projekt von Biologen und Philosophen um den Biologie-Didaktiker Prof. Dittmar Graf und Dr. Michael Schmidt-Salomon, Vorstandssprecher der evolutionär-humanistischen Giordano-Bruno-Stiftung (Anm. d. Red.: die Richard Dawkins Foundation erstellt für die Evokids Initiative eigenständige Inhalte im Rahmen des EvoSpieleKiste-Projekts). Es setzt sich dafür ein, dass Evolution nicht erst in den oberen Klassen, sondern bereits in der Grundschule unterrichtet wird. Da die Evolutionstheorie eine zentrale Stellung in der Biologie und im modernen Weltbild einnimmt, sollten Kinder „möglichst früh erfahren, wie sich die verschiedenen Lebensformen auf der Erde entwickelt haben“. Das gilt umso mehr, als religiöse Vorurteile gegen die Evolutionstheorie möglicherweise früh ins Klassenzimmer hineingetragen werden, etwa durch Evangelikale und Muslime. Dies verursacht Fehlvorstellungen, die später schwer zu korrigieren sind.
Um solchen Fehlentwicklungen entgegenzuwirken, stellt Evokids auf seiner Internetplattform speziell auf Kinder und Jugendliche zugeschnittenes Lehrmaterial zur Verfügung. Inzwischen ist es Teil des „Scientix“-Programms der Europäischen Kommission; Lehrer können es somit kostenlos in allen EU-Sprachen anfordern. Kein Wunder, dass Evangelikale das erfolgreiche Projekt argwöhnisch beobachten und seit seinem Bestehen kritisieren.
Prominent vertreten wird die Kritik durch den evangelikalen Verein Wort und Wissen. (Dieser bietet seinerseits evolutionskritische Materialien für Kinder an.) Erwähnenswert ist die jüngst erschienene „kritische Analyse“(1) seines Geschäftsführers Dr. Reinhard Junker, der Evokids exemplarisch anhand eines der Bücher (Evokids – Evolution in der Grundschule) kritisiert. Aus seiner Sicht ist sowohl das Anliegen von Evokids als auch dessen didaktische Umsetzung völlig verfehlt. Evolution würde teils in irreführender Weise vereinfacht, berechtigte Kritik an der Evolutionstheorie ausgeklammert, Tatsachen würden verschleiert. Nun möchte er „den Spieß umdrehen“ und anhand von Vorschlägen aus dem Evokids-Buch „Evolution in der Grundschule“ zeigen „wie die betreffenden Sachverhalte genutzt werden können, um als Hinweise für Schöpfung zu dienen“ (S.7). Nehmen wir den Anspruch ernst und untersuchen, was davon zu halten ist.
Der Entwurf schürt Konflikte mit der Wissenschaft
Zu Anfang führt Junker aus, seine Kritik beabsichtige, den Schöpfungsglauben bei Kindern zu wecken und zu festigen. Doch wer meint, Junkers Analyse bezwecke, ihnen eine religiöse Deutung wissenschaftlich wohlbestätigter Sachverhalte anzubieten, irrt. So moniert er, das Evokids-Buch, welches sich zur Gottesfrage neutral äußert, sei „in Bezug auf Inhalte des biblisch begründeten Glaubens weder neutral noch ausgewogen“ (S. 12). Zum Beispiel werde Kindern „in tendenziöser Weise“ beigebracht, „warum sie nicht glauben sollten, dass es Adam und Eva als erstes geschaffenes Menschenpaar gab“. Offenbar möchte Junker also nicht irgendeinen Schöpfungsglauben stärken, sondern Neutralität und Ausgewogenheit gegenüber Aussagen der Genesis, die (wörtlich verstanden) seit Jahrhunderten widerlegt sind!
Was er geflissentlich übergeht: Biblische Mythen wie die Adamsgeschichte, die Idee einer 6-Tage-Schöpfung oder die von einer nur wenige Tausend Jahre alten Erde stehen nicht nur mit der Evolutionstheorie in Konflikt. Ein Großteil unserer naturwissenschaftlichen Theorien und Erkenntnisse ist damit inkompatibel, angefangen mit denen der Kosmologie und Astrophysik, Geologie und Paläontologie, bis hin zu elementaren Gesetzen der Kernphysik. (Letztere sind für Altersbestimmungen wichtig.)
Junkers impliziter Versuch, einen wissenschaftsverträglichen, pädagogisch vertretbaren Gegenentwurf zu präsentieren, muss daher scheitern. Zum einen soll schulische Lehre das vermitteln, was als wissenschaftlich bestätigt gilt, nicht das, was damit in Konflikt steht. Zum anderen möchte Junker „das Thema ‚Schöpfung‘ im Bereich Biologie“ nahegebracht sehen (S. 3), nicht nur in der Religion. Die Folge wäre eine pädagogisch nicht vertretbare Beeinflussung der Kinder zugunsten des biblisch-fundamentalistischen Weltbildes und gegen jede Wissenschaftlichkeit. Dieses Ziel kann niemand gut finden, weder Biologiedidaktiker noch Förderer der Naturwissenschaft noch eine Mehrheit der Christen, nur die Kreationisten selbst.
Schöpfungsmythen und Evolutionstheorien sind nicht gleichwertig
Wie kommt Junker zu der Behauptung, das Buch von Evokids sei „tendenziös“? Er begründet dies sinngemäß damit, dass Evokids Fragen zum Ursprung des Lebens („nach dem ‚Woher‘?“) in unzulässiger Weise mit naturwissenschaftlich überprüfbaren Fragestellungen (Fragen „nach dem ‚Wie‘“) vermische (S. 12). Wie ein Mantra zieht sich der Einwand, die Entstehung der Lebewesen sei „im Wesentlichen nicht beobachtbar, nicht direkt erforschbar, nicht wiederholbar“ durch Junkers Texte. Dadurch entsteht der Eindruck, das Bekenntnis zur (gesamt-) historischen Entwicklung der Lebewesen sei ebenso weltanschaulich motiviert, wie sein Schöpfungsmythos.
Doch auch die Entstehung der Alpen oder des Karakorums beobachtete niemand und ist nicht wiederholbar. Gleichwohl ist die Theorie von der Plattentektonik (als treibende Kraft der Gebirgsbildung) empirisch wohlbestätigt und über jeden Zweifel erhaben. Verknüpfen wir sie mit gesicherten Erkenntnissen aus anderen Wissenschaftsbereichen, ergeben sich nämlich bestimmte Vorhersagen, etwa hinsichtlich der Geologie und Isotopenverhältnisse bestimmter Gebiete. Derartige Vorhersagen haben sich glänzend bestätigt. Die Fossilien einstiger Meeresbewohner, die wir im Hochgebirge finden, erklärt die Theorie ebenfalls zwanglos. Mögliche Alternativ-Theorien leiden darunter, dass sie die Phänomene in ihrer Gesamtheit nicht erklären können, zumindest nicht, ohne willkürliche Annahmen einzuführen.
Mit Darwins Evolutionstheorie verhält es sich analog. Sie erklärt zwanglos eine Fülle von Phänomenen wie den systematischen Wandel des Fossilienbefunds, um eines von vielen Beispielen zu nennen. Die ausgestorbenen Arten nähern sich den heute lebenden Organismen umso mehr an, je jünger sie sind. Aufgrund dieser abgestuften Ähnlichkeit sagte Darwin Übergangsformen vorher, die später gefunden wurden. Zudem wird die Evolution mit einer Fülle an Detail-Mechanismen unterfüttert, die bestimmte Aspekte von Artumwandlungen erklären. Alternative Theorien leisten das nicht. Vor allem der Kreationismus kann den systematischen Wandel des Fossilienbefunds nur mithilfe gewagter Ad-hoc-Hypothesen wegerklären, die niemand akzeptieren würde, der sich nicht ohnehin schon für den Kreationismus entschied.
Evolution ist nicht zu kompliziert für Kinder
Um in der Grundschule Schöpfung gegenüber Evolution zu bevorzugen, wählt Junker ein pädagogisches Argument: Schöpfung lasse sich in der Biologie Kindern gut nahebringen. Es gäbe viele Beispiele, mit denen sie an die eigene kreative Tätigkeit anknüpfen könnten, etwa an das zielorientierte Zusammenstecken von Legosteinen.
Ihnen den Evolutionsgedanken nahebringen zu wollen, laufe hingegen darauf hinaus, ihnen Dinge zu lehren, „die sie in dieser Entwicklungsphase überhaupt nicht mit ihrer Lebenswirklichkeit zusammenbringen können“ (S. 3). Eine „ziellose Evolution, die auf zufällige Änderungen (Mutationen) und Auslese der Bestangepassten zurückgeführt wird, ist gegen jede Erfahrung und Intuition“ (S. 4). Überhaupt fehle es ihnen an „kognitiver Reife“, um der kritisch-inhaltlichen Auseinandersetzung zu folgen.
Doch Evolution hat durchaus mit der Lebenswirklichkeit von Kindern zu tun: Dass Ähnlichkeit vererbt wird und Variationen unterliegt, lässt sich sowohl innerfamiliär als auch anhand der Tier- und Pflanzenzucht zeigen. Beides lässt sich mit der abgestuften Ähnlichkeit von Arten und Fossilien in einen logischen Zusammenhang bringen. Wie das funktionieren kann, zeigt das auf Kinder zugeschnittene Lehrvideo „Big Family“ mustergültig. Es gibt auch Befunde darüber, dass Grundschüler schon viel verstehen und sehr am Thema Evolution interessiert sind, wie Tobias Klös in seiner erscheinenden Dissertation zeigen wird.
Im Übrigen lässt sich das Argument der fehlenden Anknüpfungspunkte an die Lebenswirklichkeit von Kindern problemlos umkehren: Niemand konnte beobachten, dass Elefanten, Nashörner und Meerschweinchen geplant und „zusammengebaut“ wurden wie eine Legofigur. Niemand kann Organismen und ganze Welten erschaffen, geschweige denn durch das gesprochene Wort. Schon Kinder im Vorschulalter begreifen, dass magische Elemente wie das sprichwörtliche „Simsalabim“ beliebte Leerformeln fiktiver Romane verkörpern, die nicht mit der Realität korrespondieren.
Komplexität ist kein Schöpfungs-Joker
Ein weiteres Problem ist Junkers Annahme, dass dort, wo „komplex-funktionale Gegenstände“ vorlägen, wo die Evolution vermeintlich mehrere Abhängigkeiten gleichzeitig zu berücksichtigen und die Theorie Erklärungsdefizite habe, der Schluss auf Schöpfung nahe liege. Aus diesem Blickwinkel wird der Zweck folgender Ausführungen (S. 8) verständlich:
„Tatsache ist: Es gibt keine ‚einfach aufgebauten‘ Lebewesen. Selbständig lebensfähige Mikroorganismen benötigen die minimale Zahl von etwa 300 Genen zum Überleben, außerdem genetische Module, die folgende Funktionen ermöglichen: Synthese des genetischen Materials, Energiestoffwechsel (Glykolyse = Zuckerabbau), Aufbau der Zellwand, Synthese von Covitaminen. Zudem muss die Zelle bereits von der Außenwelt durch eine Membran abgegrenzt sein.“
Nun könnte man Junker darauf stoßen, dass die ersten noch nicht spezialisierten, vermehrungsfähigen Zellen sicher weder „Covitamine“ noch 300 Gene noch eine hochselektive Zellmembran benötigten. Die implizite These, dergleichen müsse gleichzeitig evolviert sein, ist ein absurdes Szenario, das in der Wissenschaft niemand ernsthaft diskutiert. Doch nehmen wir pro forma einmal an, die Evolutionstheorie könnte die Entstehung funktional-komplexer Systeme bei Lebewesen grundsätzlich nicht erklären. Wäre dann Schöpfung naheliegend? Nein. Selbst eine Widerlegung der Evolutionstheorie würde nicht die Schöpfer-These stützen, da mehrere Alternativen in Betracht kämen, etwa der Vitalismus des 19. Jahrhunderts.
Es ist richtig, dass nicht-reduzierbar oder funktional Komplexes oft den Eindruck einer intelligenten Planung erweckt. Doch das ist zunächst nur ein Verdacht! Um den Verdacht in einen Beleg zu verwandeln, braucht es zusätzliches Hintergrundwissen, das den Artefakt-Charakter der mutmaßlich erschaffenen Objekte stützt.(2)
In der Technik haben wir genügend unabhängiges Hintergrundwissen, sodass wir einen technischen Gegenstand problemlos als Artefakt, als Ergebnis von Design einstufen können. Doch bei Lebewesen, die sich vermehren und der Mutation und Selektion unterliegen, ist Schöpfung alles andere als offensichtlich. Dort können wir den Design-Schluss nicht direkt ziehen. Das wäre nur indirekt über den „Umweg“ einer ausgearbeiteten Theorie möglich. Das heißt, wir benötigen die Kenntnis potenzieller Designer und ihrer Schöpfung-Mechanismen um beurteilen zu können, ob Schöpfung vorliegt. Das ist nicht der Fall; „Schöpfung“ im Zusammenhang mit Natursystemen ist ein magischer Leerbegriff.
Mit einem Wort: Evolutionsgegnern gelingt es zwar, Lücken in evolutionären Erklärungen aufzuzeigen. (Wenig überraschend: Gäbe es keine, müssten wir nicht mehr forschen.) Diese Strategie führt nicht ans Ziel, da selbst die Widerlegung der Evolutionstheorie nicht den Design-Ansatz stützen würde, solange hierzu keine ausgearbeitete Theorie vorliegt. Nicht-reduzierbare Komplexität ist eben kein Schöpfungsjoker, und der Verweis auf Magie ist keine Erklärung.
Die Detailfragen lenken vom Wesentlichen ab
Getreu der Devise „Details betrachten, so gut es altersgemäß möglich ist“, schlägt Junker die Besprechung zahlreicher Spezialfragen für den Grundschul-Unterricht vor: Wie ist das „Programm“ der Schneehasen entstanden, welches eine Variation der Fellfarbe aufgrund von Umweltreizen ermöglicht? Was benötigen Wale im Vergleich zu Landsäugetieren alles, um als Säugetier ausschließlich im Wasser leben zu können? Wie müssen Zellwände beschaffen sein, um selektiv nützliche Stoffe ins Innere der Zelle zu befördern und selektiv Abbauprodukten zu entsorgen?
Nach Junkers Meinung eigneten sich solche Detailfragen gut, um die „Schöpferweisheit Gottes“ aufzuzeigen (S. 9). Er impliziert, die „blinde“ Evolution sei hoffnungslos überfordert, all die Abhängigkeiten bei der Entstehung komplexer Merkmale und Biosysteme gleichzeitig zu berücksichtigen.
Aus biologischer Sicht gäbe es zu derlei Behauptungen manch Kritisches zu sagen. Doch solche Diskussionen sind müßig, weil sie entgegen dem, was Junker suggeriert, nicht am Fundament der Evolutionstheorie rütteln. Warum nicht? Weil die zentrale Frage, ob die Stammesgeschichte der Lebewesen gut belegt ist, logisch nicht von der Frage nach den Mechanismen spezieller Artumwandlungen abhängt.
Beispiel: Die evolutionäre Entstehung der Wale aus einem Paarhufer-Vorfahren wird durch alle erdenklichen fossilen Zwischenformen über einen Zeitraum von mindestens 25 Mio. Jahren belegt. Selbst wenn wir nicht wüssten, was die Evolution antrieb, wäre der Schluss von der abgestuften Ähnlichkeit der Fossilien auf die gemeinsame Abstammung von Walen und Paarhufern die bestmögliche Erklärung.
Diesen Schluss, so der Biologe und Wissenschaftsphilosoph Martin Mahner (pers. Mitt.), rechtfertigen die uns bekannten Formen der Abstammung. Wir wussten ja schon vor Jahrhunderten, „dass Ähnlichkeit sowohl in menschlichen Familien als auch in der Tier- und Pflanzenzucht an die Nachkommen weitergegeben wurde, ohne zu wissen, wie“.
Heute kennen wir nicht nur die „Grobmechanismen“ Mutation, Vererbung und Selektion, mit deren Hilfe die Evolution (im Allgemeinen und Prinzipiellen) erklärbar geworden ist. Mit der Untersuchung ausgewählter Modell-Organismen gewinnen wir stetig neue Einblicke in entwicklungsgenetische Zusammenhänge, mit deren Hilfe wir Modell-Erklärungen für einige konkrete Evolutionsschritte in der Erdgeschichte anbieten können. Dazu zählen auch solche, die sich mangels Detailwissens einer Erklärung bislang hartnäckig verweigerten, etwa die Entstehung des Schildkrötenpanzers.(3)
Der Einwand, bestimmte Entwicklungen, beispielsweise die Evolution der Wale, seien der Schöpfungsakte bedürftig, ist metaphysischer Natur. Selbst wenn er korrekt wäre, könnte sich „Gott“ hinter scheinbar zufälligen Mutationen verstecken. So bliebe Darwins Deszendenztheorie die beste Erklärung für die abgestufte Ähnlichkeit der Fossilien.
Im Übrigen spricht die implizite Andeutung, all die Anpassungen der Wale an das ausschließliche Leben im Wasser (S. 10) habe die Evolution nicht gleichzeitig berücksichtigen können, nicht von Sachkenntnis. Wir kennen Übergangsformen wie Pakicetus, Peregocetus und Ambulocetus. Die Anpassung an eine aquatische Lebensweise erfolgte langsam und schrittweise. Der erst jüngst in Peru entdeckte Peregocetus konnte sowohl schwimmen als auch an Land laufen. Der vierbeinige Ambulocetus war bereits mehr an die aquatische Lebensweise angepasst. Spätere Anpassungen, etwa das auf den Rücken verlagerte Atemloch, sind im Wesentlichen Optimierungen vorhandener Strukturen.
Erfundene Anklagepunkte und „verräterische“ Schöpfungsbegriffe
Um bei religiösen Menschen Ressentiments gegen die Evokids-Initiative zu wecken, behauptet Junker, sie verträte eine „naturalistische Weltsicht“. Sie betriebe „Immunisierung gegen Schöpfung“ (S. 6) und negiere die „Tätigkeit eines Schöpfers“ (S. 4). Evolution werde den Kindern regelrecht „eingeimpft“ (S. 6) usw.
In Wahrheit weisen die Evokids-Autoren auf wenigen Seiten „kreationistische Fehlvorstellungen“ und „religiös begründete Vorbehalte gegen die Evolutionstheorie“ (S. 88) zurück. Es sei wichtig, „alte Glaubensüberzeugungen immer wieder daraufhin zu überprüfen, ob sie noch mit unserem Wissen über die Welt in Einklang gebracht werden können“ (ebd.). Was könnte daran falsch sein? Nirgendwo negieren sie das Wirken eines Schöpfers, nirgendwo gerät der Naturalismus in den Blick. An keiner Stelle ist von einem „unpersönlichen Naturprozess“ (S. 4) die Rede, nirgendwo von „zielloser“ Evolution. All das unterstellt Junker lediglich. Tatsächlich lässt Evokids die Frage nach einer teleologischen Ausrichtung des gesamthistorischen Evolutionsprozesses völlig offen. Seine Autoren verzichten explizit darauf, die Kinder „weltanschaulich in eine bestimmte Richtung zu drängen“ (S. 88).
Nun beklagt Junker, wenn die Medien „Naturthemen“ präsentierten, käme ein „wirklicher (sic!) Schöpfer, der planvoll, zielorientiert und willentlich geschaffen hat, … schlicht nicht vor“ (S.3). Dabei verschweigt er, dass in keiner wissenschaftlichen Theorie unbekannte und unerforschliche Entitäten vorkommen, und das hat einen bestechend einfachen Grund: Theorien können, wenn sie erklärend und überprüfbar sein sollen, nur direkt oder indirekt Erforschbares postulieren. In der Evolutionstheorie sind dies beispielsweise die verschiedenen Mechanismen der Variation und Selektion. Das, was Junker beliebt, einen „wirklichen“ Schöpfer zu nennen, zählt nicht dazu. Wie oben erläutert, liegt keine ausgearbeitete „Design“-Theorie vor, und das Numinose hat den gleichen „Erklärungswert“ wie Magie.
Gleichermaßen kurios ist Junkers Vorwurf der Verschleierung von Tatsachen (S. 4). Er hebt darauf ab, dass angeblich „verräterisches“ Schöpfungsvokabular in evolutionären Beschreibungen auftauche. So lesen wir beispielsweise, durch Variation und Selektion entwickelten Tiere etwas zu diesem oder jenem Zweck. Dies aber setze eine Zielvorgabe voraus, die ein natürlicher Prozess nicht verfolgen könne. Nur ein Schöpfer könne dies. Evokids negiere die Tätigkeit eines Schöpfers, um diese begrifflich wieder durch die Hintertür einzuführen. So würden Menschen „manipuliert“; es werde „verschleiert“, dass eine ziellose Evolution gegen jede Erfahrung sei.
Kam Junker nie in den Sinn, dass solche Formulierungen schlicht metaphorischer Natur sein könnten? Biologen benutzen sie nicht, weil es nicht ohne eine Schöpfung ginge. Vielmehr erscheinen Anpassungen, die auf Zufall und Auslese beruhen, zwangsläufig zweckorientiert (besser gesagt: teleonom).
Beispiel: Wissenschaftler fanden in der Acker-Schmalwand eine wohl historisch einmalige Chromosomen-Mutation, gepaart mit zwei Punktmutationen, welche die Architektur eines bestimmten Proteins komplett veränderten: Aus einem Enzym-Duplikat, das eine Leucin-Vorstufe synthetisiert, entstand zufällig eines, das Senfölglykoside herstellt.(4) Zufällig schützt dieser Stoff die Pflanze vor Raupenfraß. Wenn nun davon gesprochen würde, die Evolution habe Senfölglykoside entwickelt, „um“ die Pflanze vor Raupenfraß zu schützen, sähe jeder ein, dass die Formulierung metaphorisch ist und es mangels einer erkennbaren Schöpferabsicht nichts zu verschleiern gäbe.
Kann aus „Mikroevolution“ eine „Makroevolution“ folgen?
Junker bemerkt, Selektions-Beispiele wie das Wechseln der Fellfarbe beim Schneehasen seien Beispiele für „Mikroevolution“. „Selektion und Anpassung“ seien „nicht gleichzusetzen mit der Entstehung neuer Konstruktionen“, sprich Makroevolution (S. 10). So wird im Buch „Evolution in der Grundschule“ (S. 73ff.) eine Aufgabe vorgeschlagen, durch die die Kinder lernen sollen, wie durch Versuch und Irrtum bzw. Mutation und Auslese die Flugfähigkeit erreicht wurde. Diese Vorgehensweise, so Junker, entspreche gerade nicht den Modellierungen der Evolutionstheoretiker:
„Realistischerweise müsste man mit einem flug-unfähigen Gebilde starten. Dass ein Flieger eventuell auch zufällige kleinere Veränderungen verbessert werden kann, ist korrekt, aber dazu muss eine ausreichende Flugfähigkeit schon gegeben sein. Durch Evolution müsste aber erklärt werden, wie die Flugfähigkeit überhaupt entstanden ist. Also müsste man z. B. mit einem Papierknäuel beginnen und daran irgendwelche zufälligen Änderungen vornehmen - aber ohne das Wissen, was überhaupt erreicht werden soll!“ (S. 10).
Einverstanden. Doch das Papier-Modell lässt sich leicht anpassen(5). Wir knüllen Papier zusammen, sodass es wie ein Stein zu Boden fällt. Wir steigen auf einen Tisch und lassen mehrere Knäuel von oben nach unten fallen. Dann dröseln wir das Papier bei einigen Knäueln willkürlich mal mehr und mal weniger stark auf. Anschließend lassen wir sie erneut fallen. Am Ende haben wir kompakte Knäuel und Knäuel mit zufällig entstandenen kleinen „Tragflächen“. Wir bemerken, dass die Knäuel mit den „Tragflächen“ etwas langsamer fallen, eventuell sogar von der vertikalen Flugbahn abweichen. Nun ist eine Konkurrenzsituation entstanden, und darum geht es! Von einem perfekten Flug kann nicht die Rede sein. Aber die seitlich davonfliegenden Knäuel haben eine minimal bessere Chance, „Räubern“ zu entkommen und damit ihre „Gene“ in die nächste Generation zu „retten“. Nach vielen Generationen haben wir einfache Gleiter. So und nicht anders funktioniert Evolution. Was ist nun von der Aussage zu halten, es sei ein
„…großer, grundsätzlicher Unterschied …, ob schon vorhandene und funktionierende Organe oder Körperteile spezialisiert und angepasst werden, oder ob ganz neue Körperteile oder Organausprägungen mit neuen Funktionen (Fähigkeiten) entstehen müssten.“ (S. 10).
Ja, das ist ein Unterschied. Nur lautet die Frage, ob letzteres nicht aus ersterem folgen kann. Der Wissenschaftsphilosoph Gerhard Vollmer bejahte sie bereits vor 34 Jahren aufgrund der Tatsache, dass Organe oft zwei oder mehrere Funktionen gleichzeitig ausüben. Das ist entscheidend, denn so kann „die langfristige positive Bewertung der einen Funktion [= Mikroevolution; MN] die andere Funktion ganz nebenbei zur Funktionsreife“ bringen [= Entstehung der neuen Konstruktion].(6)
Nehmen wir den Flugapparat der Vögel als Beispiel, das sich auch Kindern in der Grundschule vermitteln lässt: Am Beginn der Evolution standen Reptilien aus der Gruppe der Coelurosaurier, die haarartige Hohlfasern als Integument-Strukturen aufwiesen. Sie und die mutmaßlich aus ihnen entstandenen Büschelfedern, die heutigen Daunen glichen, dienten wohl der Isolation der Körperwärme. Ihre Weiterentwicklung zur Deckfeder mit einem Schaft aus noch unvollständig verschmolzenen Nebenstrahlen verbesserte die Isolationseigenschaften. Durch spätere Verzahnung der Nebenstrahlen entstand die geschlossene (zunächst symmetrische) Fahne, die der heutigen Konturfeder entspricht. Sie schützte die darunterliegenden Federn vor Nässe.(7)
Sind Schwanz und Vorderextremitäten erst einmal mit Konturfedern bestückt, erlaubt dies die Entwicklung prächtiger Federkleider zu Balzzwecken und zum Brüten (bei Oviraptoren fossil nachgewiesen). Ganz nebenbei entsteht so eine weitere Funktion: Aerodynamische Betrachtungen zeigen, dass sie ihren Besitzern auf der Jagd oder Flucht eine besondere Wendigkeit verleihen: Die Luftwirbel, die die Federn erzeugen, begünstigen das Hakenschlagen. Nebenbei dürften sie den Coelurosauriern auf Bäumen einen gebremsten Fall und einfaches Gleiten ermöglicht haben. Strukturen, die moderne Vögel für den aktiven Schlagflug brauchen, etwa eine spezielle Flügelform, besondere Brustmuskeln, Luftsäcke, asymmetrisch geformte Schwungfedern und besondere Kontrollmechanismen, waren noch nicht nötig. Dergleichen kann nach und nach durch Anpassung bereits vorhandener Strukturen erreicht worden sein.
Das Gerangel um evolutionäre Erklärungen bleibt fruchtlos
Nun gibt Gerhard Vollmer zu bedenken, dass sich die Evolutionstheorie oft mit unvollständigen Modell-Erklärungen begnügen muss. Das liegt daran, dass es kaum möglich ist, etwa die Selektionsregimes in der Jurazeit oder das Entwicklungspotenzial von ausgestorbenen Arten zu erforschen. Solche Erklärungen werden Kreationisten nie zufrieden stellen, da die Artkonstanz zum Dogma gehört, von dem sie ausgehen. Zudem lässt sich angesichts der ungeheuren Detailfülle, der Vielschichtigkeit kausaler Zusammenhänge und der unüberschaubaren Zahl an Arten und Merkmalen das Erklärungsprogramm nie völlig abschießen. Uneinsichtigen Evolutionsgegnern wird es daher nie an Möglichkeiten mangeln, immer neue, bisher unerklärte Merkmale und Detailfragen auf einer noch tieferen Ebene nachzuschieben:
„Niemand kann gehindert werden, sich auch nach Hundert oder Tausend geglückten phylogenetischen Erklärungen noch immer nicht geschlagen zu geben und für die verbleibenden Phänomene eine Entelechie, eine Vis vitalis, eine evolutive Schwerkraft oder Gott als Lückenbüßer einzusetzen. … Deshalb sei auf die pragmatische Frage ‚Wann sollen wir diesen Dialog endlich abbrechen?‘ auch pragmatisch geantwortet: ‚Dann, wenn wir nicht mehr befürchten müssen, dass unseren Kindern in der Schule eine kreationistische oder deutlich antievolutionistische Lehre als mit der Evolutionstheorie gleichwertig, als wissenschaftlich vertretbar oder gar als überlegen angepriesen wird‘“ (Vollmer 1986, S 28).
Fazit
Die Kritik des Wort-und-Wissen-Geschäftsführers Reinhard Junker an Evokids ist in wesentlichen Punkten verfehlt. Weder vertritt das Projekt weltanschauliche Ziele, die sich gegen Religion richten, noch negiert es das Wirken eines Schöpfers, wie Junker unterstellt. Ferner ist die Behauptung falsch, Evolution gehe an der Lebenswirklichkeit von Kindern vorbei. Seinen impliziten Anspruch, einen wissenschaftsverträglichen, pädagogisch vertretbaren Gegenentwurf zu Evokids zu präsentieren, kann er ebenfalls nicht einlösen. Erstens steht sein Schöpfungskonstrukt mit zahlreichen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen in Konflikt. Zweitens rütteln seine Detailbetrachtungen nicht am Fundament der Evolutionstheorie. Drittens folgt aus funktionaler Komplexität und aus Erklärungslücken kein „Design“. Zudem besteht Evolutionskritik oft aus irreführenden Meinungen, die nicht auf wissenschaftlicher Kenntnis basieren.
Dipl.-Ing. Martin Neukamm ist Chemie-Ingenieur an der TU München und geschäftsführender Redakteur der AG Evolutionsbiologie im Verband Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in Deutschland. Er ist Herausgeber mehrerer Bücher darunter „Darwin heute: Evolution als Leitbild in den modernen Wissenschaften“.
AG Evolutionsbiologie Youtube-Kanal und Facebook-Seite.
Dieser Artikel als PDF-Datei.
Fußnoten
(1) https://www.wort-und-wissen.org/artikel/evokids-evolution-schoepfung-grundschule/ Stand: 08.05.2020.
(2) http://www.ag-evolutionsbiologie.net/html/2020/evolution-design-argument-biologie.html
(3) http://www.ag-evolutionsbiologie.net/pdf/2009/HH_Schildkroeten.pdf
(4) Siehe: http://www.ag-evolutionsbiologie.net/html/2011/kraker-gershenzon-2011.html
(5) Ich verdanke dieses instruktive Beispiel dem Kollegen Rudolf ÖLLER.
(6) VOLLMER, G. (1986) Die Lücke der Evolutionstheorie: Nachweis von Doppelfunktionen. In: ders., Was können wir wissen? Bd. 2: Die Erkenntnis der Natur, S. 24–29.
(7) Die Vorstufen auf dem Weg zur modernen Feder finden sich in Bernstein konserviert, vgl.: PERRICHOT et al. (2008) The early evolution of feathers: fossil evidence from Cretaceous am-ber of France. Proc. R. Soc. B. 275, S. 1197–1202.
Kommentare
Neuer Kommentar