Emotionale no-go Areas im Alltag und die Schwierigkeiten, über Religion zu sprechen

Nachdem ich Texte von Dr. Dawkins zum Thema: „Gibt es emotionale Sperrgebiete, in der die Vernunft sich nicht blicken lassen darf?“, und den Folgeartikel: „Wer verharmlost hier was?“ für die deutsche Seite der Richard Dawkins Stiftung übersetzt hatte, habe ich gestern die bedrückende Erfahrung gemacht, auf eben jenes Phänomen des emotional besetzten Gebiets, in dem sich Vernunft nicht blicken lassen darf, zu stoßen. Dies stand in direktem Zusammenhang mit der von mir bereits vor Längerem einmal angesprochenen Tatsache, dass Diskussionen zum Thema Religion in Deutschland relativ problematisch sind, da wir hier keine große Gruppen von extremen Gläubigen haben, die dieses Thema in die Öffentlichkeit tragen und dadurch den Diskurs anstoßen.

Eine Bekannte von mir hat in ihrem Facebook Account eine Diskussion angestoßen, die auf einem persönlichen Erlebnis beruhte, welches sie kürzlich hatte:

Sie besuchte mit ihren Kindern vor Kurzem einen bekannten Freizeitpark. An diesem Tag waren unter anderem auch eine Gruppe Muslime mit mehreren Frauen in diesem Park. Diese trugen Nikabs, die massivste Form der weiblichen Verschleierung nach der Burka. Ihre Kinder hatten sich wohl gefürchtet, und sie teilte in ihrem Eingangsposting mit, dass sie die „Sorgen“ ihrer Kinder teilte. Daraufhin stellte sie eine Reihe teils eher lustig erscheinender Fragen, die allerdings alle um die Kernfrage herum formuliert waren: „Müssen wir uns hier in Deutschland diese Form der weiblichen Verschleierung gefallen lassen?“

Sie wies auch darauf hin, dass viele ihrer Freundinnen Muslima seien, sich davon jedoch keine derart verschleiern würde. Unter anderem fragte sie auch, ob nicht in Frankreich die totale Verschleierung mittlerweile verboten sei.

Die Diskussion brandete recht schnell hoch, mit Vertretern beider Seiten, zum einen die, die der Ansicht waren, dass das hier verboten werden sollte. Die Argumente waren die üblichen. Zentral war der Gedanke: Wir haben zwar Religionsfreiheit, aber die hiesigen Sitten gebieten es, zumindest das Gesicht zu zeigen, und da diese Menschen nun mal hier her gekommen seien, hätten sie sich diesen Gebräuchen auch anzupassen.
Das zweite Hauptargument war die Annahme, dass diese Frauen ja dazu gezwungen würden, und wenn man es per Gesetz abschaffen würde, müssten es deren Männer nun mal akzeptieren und würden sich mit der Zeit auch daran gewöhnen.

Die andere Fraktion (zu der auch ich gehörte – wir waren in der Minderheit) versuchte zu argumentieren, dass es doch Aufgabe der Eltern (in dem Fall ihre Aufgabe) sei, Vielfalt im Erziehungskonzept mit einzubinden und Kindern so die Angst vor derart gekleideten Frauen zu nehmen. Die Tatsache, dass sie anmerkte, es sei ihr selbst irgendwie unheimlich, macht dies natürlich für sie nicht leichter.

Auch wenn ich die Ansicht teile, dass viele dieser Frauen die Verschleierung nicht freiwillig über sich ergehen lassen, bin ich mir dennoch darüber im Klaren, dass unsere Rechtsprechung keinen Zwang zum „Glücklichsein“ enthält. Das bedeutet für mich: Wenn eine Frau sich an die Behörden wendet und sich darüber beklagt, ihre vom Grundgesetz garantierte Freiheit vorenthalten zu bekommen, muss der Staat einschreiten. Solange sie aber die Integrität ihrer familiären Bindung dem Ausleben ihrer persönlichen Freiheit vorzieht, ist es nicht an mir (oder dem Staat), ihr vorzuschreiben, dass dies nicht richtig ist.

Im Verlauf der Debatte wurden alle möglichen Argumente von beiden Seiten vorgebracht, persönliche Einzelerfahrungen, Vorstellungen zum Thema Höflichkeit und Adaption von Sitten und Gebräuchen der Mehrheitsgesellschaft auf der einen Seite, auf der anderen die Frage nach der Grundlage von Gesetzen, die nach der Ausgewogenheit von der Freiheit religiöser Weltanschauungen und dem Anwenden der damit verbundenen Sitten und Gebräuche, sowie auch die Frage, ob den alle Religionen dasselbe Maß an Freiheit genießen sollen, wenn wir in unserer Gesellschaft auf der Freiheit des Individuums pochen und auch auf eine Gleichheit vor dem Gesetz.

Die Debatte selbst brachte zwar einige recht eigentümliche Ansichten und Vorstellungen zutage, wurde aber im Großen und Ganzen (wie auch die Dame, die die Debatte initiiert hatte im Nachhinein anmerkte) recht gesittet und ohne wüste gegenseitige Beschimpfungen, wie sie bei solchen Debatten häufig irgendwann erfolgen, geführt.

Am Tag nach Eröffnung der Diskussion, die gerade dabei war, richtig Fahrt aufzunehmen, geschah etwas für mich sehr Befremdliches, und im ersten Moment auch sehr Überraschendes: Die Initiatorin der Debatte erklärte aus heiterem Himmel, dass sie von ihren Leuten (konkret ihrem Bruder) dazu aufgefordert wurde, die Diskussion zu beenden und den Thread zu löschen.

Dies geschah so schnell, dass ich nicht einmal die Gelegenheit hatte, mich dazu noch zu äußern. Ich holte das dann in einem kurzen geschlossenen Chat mit meiner Bekannten und noch zwei anderen Personen, die an der Debatte beteiligt waren (wir kennen uns alle schon seit Jahrzehnten) nach, ich sprach mein Bedauern darüber aus, welchen Verlauf das ganze so plötzlich genommen hatte, versicherte ihr aber auch mein Verständnis dafür, dass sie sich deshalb nicht mit ihrem Bruder überwerfen sollte.

Erst mit einigen Stunden zeitlichen Abstands wurde mir klar, dass ihr Bruder ihr im Grunde dasselbe „angetan“ hatte, was die religiösen Bräuche den Frauen antun, die diese dazu zwingen, nur voll verschleiert oder in Begleitung eines „Mannes“ (es kann auch ein 6 jähriger Pimpf sein, den man wohl kaum als zum Schutz der Frau befähigten Mann bezeichnen kann!) auf die Straße zu gehen. Er hatte ihr ihr Recht abgesprochen, sich frei zu äußern, sowie Fragen, die sie hatte und die sie offensichtlich beschäftigten und wohl nun auch noch weiter beschäftigen würden, zu stellen und so ihre persönliche Freiheit zu genießen, wie es unser Grundgesetz nun einmal vorsieht.

Es gibt sie also überall, die emotional besetzten Gebiete, in denen sich Vernunft und Logik nicht blicken lassen dürfen. Und zwar schon weit unterhalb der Schwelle, die extreme, die Emotionen sehr hart belastende Gedankenexperimente zu Vergewaltigung oder Kindesmissbrauch überschreiten.

Diese Erfahrung zeigt mir einmal mehr, wie ungeheuer wichtig es ist, dass Menschen wie Dr. Dawkins bereit sind, solche Fragen zu stellen und entsprechend provokativ die Öffentlichkeit damit aufzusuchen.

Kommentare

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    Liberty1

    Eine interessante Diskussion. Das mit dem Bruder der Initiatoren der Debatte erinnert mich an den berühmten Loriot-Sketch "Jodeldiplom". Der Ehemann erzählt dem Reporter lang und breit, dass man auch als Frau etwas "Eigenes" haben sollte und
    nicht nur hinter dem Herd stehen sollte, und als seine Frau ihn darauf hinweist, dass sie das doch alles schon erzählt hat, weist er sie zurecht mit: "Vor Allem sollst Du mich nicht unterbrechen, wenn ich einem HERRN etwas mitzuteilen habe!". Meine Meinung zu den verschleierten Frauen: Ich habe zwei Kinder und reise mit Ihnen sehr viel in arabische Länder. Meine Kinder wissen erstens, dass verschleierte Frauen nichts Gefährliches sind (für sie ist es normal), zweitens, dass diese Frauen natürlich unterdrückt werden, drittens aber auch, dass dies nicht automatisch bedeutet, dass es sich daher bei Menschen aus solchen Kulturen um schlechte Menschen handelt. Wir haben auch über Gleichberechtigung in unserer Kultur gesprochen, auch darüber, dass auch hier die Frau nicht immer so gleichberechtigt war, wie sie es heute ist. Über das Bibel-Zitat "Die Frau ist dem Manne Untertan" brauchen wir wohl nicht mehr zu reden. Selbstverständlich muß man sich als freier Mensch wünschen, dass sich die Einstellung hierzu auch in anderen Teilen dieser Erde ändert. Ich halte es aber für gefährlich, wenn dies zu schnell, und mit der Brechstange geschieht.
    Ein anderer Aspekt ist die Tatsache, dass ich feststelle, dass oft genau Diejenigen, die sich hier über das Kopftuch oder die Verschleierung aufregen, und argumentieren, Andere sollten sich in unserem Land unseren Sitten anpassen, völlig hemmungslos und uninformiert in andere Länder reisen und sich dort zum Beispiel barbusig zeigen, völlig ungeachtet der Tatsache, dass dies vom Gastgeberland als unmoralisch empfunden wird. Das zeigt eine gewisse "Herrscher-Mentalität". Man müsste dann z.B. auch völliges Verständnis dafür aufbringen, reist man zum Beispiel zu Urvölkern, die gar keine Kleidung benutzen, wenn die Menschen dort das auch von uns verlangen würden. Man sieht oft Dinge und urteilt schnell, vergißt aber, zu reflektieren und sich selbst bzw. die eigene Kultur mal losgelöst und objektiv und etwas kritischer zu betrachten, weil eigene Eigenarten für das eigene Empfinden eben allzu normal sind.
    Um nicht mißverstanden zu werden: Selbstverständlich wünsche auch ich mir die Gleichberechtigung von Männern und Frauen auch in anderen Kulturen. Dass Menschen aus gewissen anderen Kulturen dieses Verständnis jedoch (noch) nicht haben, ist für mich kein Grund, diese Menschen zu diskriminieren oder sich vor ihnen zu fürchten und meine Kinder in ihren Ängsten und Hemmschwellen zu bestätigen. Ich sehe keinen Grund, mich von Kopftüchern oder verschleierten Frauen irgendwie stören oder verängstigen zu lassen. Ich lebe damit sehr gut, und meine Kinder auch!

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      Joseph Wolsing

      Antwort auf #4 von Joerg Middendorf:
      > @JW
      >
      > "Ich weiß nicht, ob es einfacher ist, Kindern die komplexe Idee hinter der Kritik an Religion zu vermitteln, als ihnen zu erklären, dass das halt Leute sind, die von wo anders herkommen und die sich auch deshalb so kleiden, weil sie an etwas anderes glauben als wir."
      >
      > Und dieses "etwas anderes"...

      Liest Du auch was Du schreibst, oder noch besser, überlegst Du auch bevor Du schreibst? Deine schon pathologisch anmutende Abneigung gegen äußerliche Zeichen religiöser Andersartigkeit erscheint mir mehr als nur bedenklich. Kritik an deiner Ansicht begegnest Du mit aus der Luft gegriffenen Beschuldigungen, ohne tatsächlich auf die Kritik einzugehen. Ob ich hier im Forum richtig bin oder nicht, entscheide ich glücklicherweise selbst und bin dabei nicht auf deine Zustimmung angewiesen. Das meine Bekannte nicht unter einer Nikab steckt ist richtig, anscheinend ist dir das wichtiger, als die Frage ob sie ihre Ansichten frei äußern darf und Dinge die sie selbst in Frage stellt zur Diskussion stellen darf. Eine sehr merkwürdige Haltung aus meiner Sicht.

      Ob Du nun grünhäutige Marsmenschen mit Stacheln auf dem Kopf attraktiv findest oder nicht ist mir völlig gleichgültig, da Du dem Namen nach eh nicht in meine persönliche Kategorie fällst, bei der Attraktivität eine Rolle spielt. Das die Eltern dieser Kinder etwas verbockt haben, ist dennoch nach wie vor meine Ansicht. Man muss und kann nicht alles pädagogisch kanalisieren, aber der Umgang der Menschen miteinander ist wohl die wichtigste Kategorie innerhalb der Pädagogik! Deine Forderung, dass wir alle "glücklich" sein sollen ist dermaßen Absurd, dass mir da schon hätte klar sein sollen,dass ich dich nicht ernst nehmen kann.

      Sollte ich auf dich den Eindruck machen, dass ich mich hier ausheulen will, weil ich mich so unterdrückt fühle, muss ich dich enttäuschen. Aber im Gegenzug erscheint es mir so, dass Du glaubst, die allein seelig machende Auffassung davon zu besitzen, was für uns alle richtig ist. Vielen Dank, das hatten wir bereits und es hat uns nicht besonders gut getan. Pseudo-Gerechtigkeit auf Basis grundsätzlicher Unterdrückung (exakt das ist es, was Du für Dinge verlangst, die nicht in dein Denkschema passen!) steht nicht auf meiner geistigen Speisekarte!

      Du willst keine Diskussion, sondern alle sollen deiner Meinung sein, sind sie das nicht, sind sie zu verbannen (z. B. ich aus dem Forum) das ist nicht das, was ich mir unter der Umgangsweise von Menschen untereinander vorstelle. Und dabei fallen dir die Brüche in deiner Argumentation nicht einmal auf, aber vielleicht ist das auch ein wenig zu viel verlangt.

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        Joerg Middendorf

        @JW

        "Ich weiß nicht, ob es einfacher ist, Kindern die komplexe Idee hinter der Kritik an Religion zu vermitteln, als ihnen zu erklären, dass das halt Leute sind, die von wo anders herkommen und die sich auch deshalb so kleiden, weil sie an etwas anderes glauben als wir."

        Und dieses "etwas anderes" ist das Entscheidende, worüber man disktuieren muss, wie weit es gehen kann und wann es gefährlich wird.

        "Der Vergleich mit den Rockerkutten hinkt meiner Ansicht nach ganz kräftig. Wenn der Vergleich stand halten soll, müsste es hier auch Nonnen und Mönchen verboten sein in ihrer Ordenskleidung herum zu laufen."

        Darüber könnte man nachdenken.

        "Darüber hinaus kann auch ein 1000€ Anzug als Insignie der Macht verstanden werden - soll der dann auch verboten werden?"

        Dem kann man das nicht unbedingt ansehen, dass er 1000 Euro wert ist, es kann sich auch um eine Fälschung handeln.

        "Meiner Meinung nach ist es bedenklich, auf alles was einem fremd ist, sofort mit dem Ruf nach Verbot zu reagieren."

        Hiermit offenbarst Du eine mangelnde Sensibilität. Alles, was fremd ist, ist Deiner Meinung nach erstmal zu tolerieren. Auch das Schächten und Tierequälen?

        "Für den Islamisten, der ein (konvertierter, oder auch originär islamischer) hier geborener Deutscher ist, kann dieser Ansatz schon aus Rechtsgründen nicht gelten."

        Dann soll man sie halt ins Land lassen und sofort einsperren.

        "Ich selbst habe die Erfahrung machen müssen, dass kleine Kinder zuweilen auf mein anderes Aussehen sehr verstört und verängstigt reagiert haben. Und bei allem Respekt für die Freiheit der Erziehung: DA HABEN DIE ELTERN ABER WOHL GEWALTIGEN MIST GEBAUT!!!"

        Wie bitte? Wenn die Kinder noch nie jemanden mit dunkler Hautfarbe gesehen haben, so ist dies eine neue Erfahrung für sie und wie sie dann spontan darauf reagieren ist allein ihre Sache. Man kann nicht alles pädagogisch kanalisieren. Ich persönlich finde Menschen mit braungebrannter Haut und brünetten Haaren attraktiver als rothaarige Menschen mit weißer Haut. So what? Muss ich mir das jetzt von Dir pädagogisch umerziehen lassen? Sei doch froh, dass Kinder auf Dein Lächeln freundlich reagieren, sie sehen wenigstens Dein Gesicht. Diese spontane positive Reaktion ist bei einer Burkaträgerin gar nicht möglich.

        "Zum Schluss nochmal auf die Intention des Artikels selbst (eigentlich war meine ganze bisherige Antwort eine auf einen Kommentar, der völlig of topic war!)."

        Ach so, es geht Dir also um Selbstdarstellung und Du beurteilst dann hinterher, ob jemand Deiner Selbstdarstellung gefolgt ist oder nicht?

        "Mir ging es dabei um die Tatsache, dass meine Bekannte praktisch gezwungen wurde ihre Fragen und die daraus entstehende Diskussion zu löschen und sie damit im Grunde ebenso mundtot wie die gemacht wurde, die die unter einer Nikab stecken."

        Mit dem Unterschied, dass sie nicht unter einer Nikab stecken muss.

        "Aber dazu konnte ich leider in der Antwort die ich hier kommentiere nicht das mindeste Lesen."

        Dann hast Du jetzt was. Allein die Tatsache, sich so ein Ding anziehen zu müssen, würde ich als schwerste Körper- und Seelenverletzung bezeichnen, die der Verletzung des Rechtes auf Meinungsfreiheit in nichts nachsteht. Und ich denke, diesen Punkt hast Du übersehen, indem Du das Tragen dieser "Kleider" verharmlost.

        "Emotionale no-go Areas im Alltag und die Schwierigkeiten, über Religion zu sprechen"

        war die Überschrift Deines Artikels. Da hast Du dann ja jetzt selbst ein Beispiel gegeben. Es ist wirklich schwierig, mit Dir über Religion zu sprechen. Was Dir nicht in den Kram passt, wird gleich von Dir verurteilt. So langsam frage ich mich, ob es nicht andere Foren gibt, wo Du Dich besser präsentieren kannst. Vielleicht ist dieses Forum ja ein Ort für Dich, um Dich selbstmitleidig und selbstgerecht als ausgegrenzt darzustellen.

        Deine Reaktion erinnert mich an ein Erlebnis, das ich in meiner Kindheit hatte. Ich war mit einem Freund in einer Imbissstube, wir haben uns unterhalten und lachten. Plötzlich kommt ein Mann mit dunkler Hautfarbe auf uns zu und fragt uns, warum wir über ihn lachen, er sei auch nur ein Mensch.
        Eine hypersensible Grundhaltung macht Diskussionen irgendwo unnatürlich.

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          Bernd Kammermeier

          Das Zauberwort ist wohl - wie so oft - Toleranz. Toleranz kann man lernen, muss man lernen, muss man leben, vertreten, gutheißen, atmen. Wenn jeder dies täte, hätten wir die schönste Welt, die man sich erträumen kann.

          Natürlich ist der Niqab Ausdruck einer intoleranten Religion. Selbst wenn Frauen sich dies freiwillig antun, ist es für eine Religion, in der Reinheit eine so große Rolle spielt, höchst unhygienisch. Neulich habe ich einen Zeitungsbericht gelesen. Da hatte eine Frau einen Selbstversuch gemacht, mit schwarzem Niqab herumzulaufen. Ich selbst saß schon im Zug in der Nähe einer Niqab-Trägerin. Frische Luft riecht anders. Auch Ärztinnen beklagen sich. Doch das ist nicht der Punkt. Ich denke mit nur, dass Frauen Besseres verdient haben, als sich derart entwürdigen zu lassen - im Namen einer vermeintlichen Würde. Selbst wenn sie es freiwillig machen, ist es wegen der unangenehmen Begleitumstände niemals wirklich so gewollt.

          Aber auch die Reaktion des Bruders, der die Diskussion darüber abgewürgt hat (warum eigentlich?) gehört in die gleiche intolerante Kategorie. Wir beschneiden Freiheit auf sinnlose, unnötige und schmerzhafte Weise. Warum? Was tut weh an der Freiheit des anderen? Was ist so unerträglich, wenn jemand glücklich ist, zufrieden oder einfach nur ausgeglichen?

          Müssen wir vielleicht unseren eigenen Existenzkäfig anderen überstülpen, zur Not gewaltsam? "Ich bin nicht frei, dann du auch nicht." "Ich kann auch nicht machen, was ich will, warum du dann?"

          Da Ganze hat nichts mit Kleidung zu tun, und wenn sie hundertmal gegen den Himmel stinkt. Gegen den Himmel stinkt nur die Intoleranz, die uns von früh auf beigebracht, beigebogen wurde. "Der da ist anders, den mögen WIR nicht!" "Der isst kein Fleisch, der ist doof!" "Der isst Fleisch, der ist noch doofer!" "Der ist das, die ist jenes und das ist das Letzte!" Wozu? Zu welchem Zweck?

          Fühlt man sich besser, fühlt man die eigene Minderwertigkeit weniger intensiv, wenn da einer ist, auf den man mit dem Finger zeigen kann? Wenn da einer ist, den man ausgrenzen, ausweisen, nicht reinlassen darf? Ich habe echte Schwierigkeiten, dies nachzuempfinden. Ich bin sicher niemand mit dem goldenen Löffel im Mund, ich bin weder König, noch Star. Ich sehe Menschen, die es besser als ich haben und auch solche, denen es schlechter geht. Nichts an deren Erhöhung oder Erniedrigung macht mein Leben auch nur einen Deut besser.

          Toleranz zu üben tun mir weniger weh, als intolerant zu sein, weil Intoleranz anstrengend ist. Ich muss ja die fremde Kultur nicht verstehen, die fremde Religion nicht glauben und die fremde Kleidung nicht tragen. Ich kann mich daran erfreuen oder darüber staunen. Ich kann mir auch Gedanken machen, ob die Menschen in dieser oder jener Lebenssituation glücklich in ihrer Lage sind oder ob sie leiden. Denn natürlich gibt es keinen Zwang zum "Glücklichsein", aber es gibt den staatlichen Schutz vor "Unglücklichsein". Niemand muss unnötiges Leid ertragen.

          Und wenn eine Muslima unter ihrer Kleidung leidet, muss es Wege geben, sie davon zu befreien, ohne ihre sozialen Wurzeln zu verlieren. Dies ist sicher ein Spagat, der durch reine Rechtsprechung nicht zu schaffen ist. Aber mit langfristigen Aufklärungsprogrammen, die z.B. zeigen, dass sich in einem schwarzen Synthetics-Niqab bei Sonne im Schweiß mehr Bakterien bilden, als sich je unter einer intakten Vorhaut vermehren können, könnten Denkprozesse angestoßen werden. Schließlich geht es vornehmlich bei religiösen Riten um Reinlichkeit. Was wirklich rein ist sehen wir heute anders, als noch vor Jahrhunderten. Dies ist jetzt nur ein zugegeben blödes Beispiel. Aber nicht einfach von staatlicher Seite jeden Unsinn zu respektieren ist angesagt, sondern konstruktives Lösen des Kernproblems: der Intoleranz. Ob die von religiösen Spinnern stammt oder von wie auch immer motivierten Brüdern ist einerlei.

          Nur eine vom Kern her tolerante Gesellschaft kann uns ALLE glücklich machen. Glück, das die Erniedrigung anderer braucht, ist partielles Unglück - nämlich für den Erniedrigten.

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            Joseph Wolsing

            Antwort auf #1 von Joerg Middendorf:
            > Ein kleines Kind, das sich vor einer schwarzen, voll verhüllten Figur fürchtet, reagiert doch ganz normal und natürlich. Soll man nun kleinen Kindern, die vielleicht noch nicht einmal richtig sprechen können, religiöse Toleranz zwanghaft gegen ihre eigenen Gefühle vermitteln? Wäre es da nicht ganz i...

            Ich weiß nicht, ob es einfacher ist, Kindern die komplexe Idee hinter der Kritik an Religion zu vermitteln, als ihnen zu erklären, dass das halt Leute sind, die von wo anders herkommen und die sich auch deshalb so kleiden, weil sie an etwas anderes glauben als wir. Der Vergleich mit den Rockerkutten hinkt meiner Ansicht nach ganz kräftig. Wenn der Vergleich stand halten soll, müsste es hier auch Nonnen und Mönchen verboten sein in ihrer Ordenskleidung herum zu laufen. Darüber hinaus kann auch ein 1000€ Anzug als Insignie der Macht verstanden werden - soll der dann auch verboten werden? Meiner Meinung nach ist es bedenklich, auf alles was einem fremd ist, sofort mit dem Ruf nach Verbot zu reagieren. Irgendwann waren auch mal Frauen in Hosen verboten, oder Frauen in Führungspositionen. Wir würden durch eine zu restriktive Grundhaltung (es geht immer noch um die Kleidung, nicht die Religion die hinter der Kleidung steckt!) jegliche Möglichkeit der Reform und Entwicklung im Keim ersticken.

            Ohne sogenannte Islamisten gut zu heißen, greift die Überlegung wer dann alles nicht mehr ins Land zurück kommen darf doch etwas kurz. Müssen dann auch Angestellte hiesiger Konzerne, die sich im Ausland durch Handlungen wie Umweltzerstörung, Landgrabbing, dem Ankauf von mit Blut besudelten seltenen Erden für unsere Handys und Laptops oder ähnlichem schuldhaft gemacht haben, für immer "draußen" bleiben?. Für den Islamisten, der ein (konvertierter, oder auch originär islamischer) hier geborener Deutscher ist, kann dieser Ansatz schon aus Rechtsgründen nicht gelten. Das Recht ist in solchen Punkten nicht deshalb so komplex, weil es so einfache Lösungen gibt, wie sie hier gefordert werden. Für mich klingt dabei leider auch ein gutes Stück Xenophobie mit durch, die ich wiederum als zutiefst verurteilenswert empfinde. Allerdings komme ich nicht gleich auf die Idee Menschen, die in diesem Punkt anders als ich gestrickt sind, aus dem Land zu verbannen, in dem ich nun mal per Zufall der Geburt lebe.

            Ich selbst habe die Erfahrung machen müssen, dass kleine Kinder zuweilen auf mein anderes Aussehen sehr verstört und verängstigt reagiert haben. Und bei allem Respekt für die Freiheit der Erziehung: DA HABEN DIE ELTERN ABER WOHL GEWALTIGEN MIST GEBAUT!!!

            Zum Schluss nochmal auf die Intention des Artikels selbst (eigentlich war meine ganze bisherige Antwort eine auf einen Kommentar, der völlig of topic war!). Mir ging es dabei um die Tatsache, dass meine Bekannte praktisch gezwungen wurde ihre Fragen und die daraus entstehende Diskussion zu löschen und sie damit im Grunde ebenso mundtot wie die gemacht wurde, die die unter einer Nikab stecken. Aber dazu konnte ich leider in der Antwort die ich hier kommentiere nicht das mindeste Lesen. Vielmehr war es ein Pamphlet für die Reinhaltung unserer kulturellen Identität, zu der ich nur sagen kann. Deutschland liegt in Europa in der Mitte. Welches Volk auch immer die letzten Jahrtausende in Europa eine Wanderung unternommen hat, ist fast zwangsläufig hier durchgekommen und hat seine Spuren hinterlassen, genetisch wie auch kulturell. Um es mit den Worten von Russel Peters zu sagen: "Don't you think the fucked one or two of us?"

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              Joerg Middendorf

              Ein kleines Kind, das sich vor einer schwarzen, voll verhüllten Figur fürchtet, reagiert doch ganz normal und natürlich. Soll man nun kleinen Kindern, die vielleicht noch nicht einmal richtig sprechen können, religiöse Toleranz zwanghaft gegen ihre eigenen Gefühle vermitteln? Wäre es da nicht ganz im Sinne von Richard Dawkins wichtiger, das Kind über die krankhaften Züge der Religion aufzuklären, um es selbst vor diesen krankhaften Zügen zu schützen? Wenn uns religiöse Toleranz wichtiger als die natürlichen Gefühle unserer Kinder ist, dann gute Nacht. Auf eine solche Gesellschaft kann ich pfeifen.
              Ich kann diese Verschleierten nur ignorieren, ich nehme sie allenfalls als dunkle Flecken wahr. Wer mir nicht sein Gesicht zeigt, bekommt nicht meine Aufmerksamkeit. Nun könnte man sagen, ja, aber das sind ja ganz arme Frauen, die werden unterdrückt. Gut, aber dann ist es in der Tat mit der religiösen Toleranz am Ende und diejenigen, die Toleranz in der Gesellschaft fordern, sind selbst dazu aufgefordert, über die Grenzen der Toleranz nachzudenken, sie abzustecken und gesellschaftlich und politisch umzusetzen. Was ja letztlich in Frankreich geschah. In Deutschland dauert das immer länger. Jetzt kommt man hier auf den Trichter, Rockerkutten großer Motorradclubs zu verbieten. Oder ist es normal, dass sich Kinder große geflügelte Totenschädel auf Jacken anschauen müssen, muss man also auch dies tolerieren? Der Gesetzgeber reagiert hier richtig auf die Eindruckschinder, die sich öffentlich als mächtig zeigen. Auch Burkaträgerinnen symbolisieren letztlich die Macht von etwas, nämlich diejenige einer Religion. Öffentliche Machtsymbole sollten aber nur staatliche Organe wie die Polizei zeigen dürfen, die dazu zum Schutz eben dieser freiheitlich demokratischen Grundordnung (und hier geht es zunächst einmal garnicht um Religion) legitimiert sind.
              Und wenn deutsche Islamisten meinen, nach Syrien und in den Irak für einen heiligen Krieg ziehen zu müssen, um dortige, im Entstehen begriffene freiheitliche Grundordnungen zu zerstören und stattdessen islamische Gottesstaaten zu errichten, so sollte man sie auch nicht mehr in unsere zweifellos schützenswerte Grundordnung zurücklassen. Diese Menschen haben hier nichts mehr zu suchen. Religiöser Fundamentalismus gefährdet Demokratie.

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