Fakten zur Abtreibung

Bildung und Geburtenkontrolle machen die Politik langsam weniger wichtig.

Fakten zur Abtreibung

Foto: Pixabay.com / sarahbernier3140

Im Mai dieses Jahres geriet die Pro-Leben/Pro-Wahl-Kontroverse wieder in die Schlagzeilen, als Irland mit überwältigender Mehrheit ein Referendum zur Beendigung seines verfassungsmäßigen Abtreibungsverbotes verabschiedete. Ungefähr zur gleichen Zeit schlug die Trump-Administration vor, dass die Bundesfinanzierung von Title X, dem Familienplannungsprogramm, in Abtreibungskliniken als Taktik zur Ausübungseinschränkung zurückgehalten wird. Eine Strategie ähnlich der von Texas und anderen Staaten, Kliniken zu schließen, indem sie sie in einer Lawine von Vorschriften begraben, die der US Supreme Court 2016 als unangemessene Belastung für Frauen für ein verfassungsmäßig garantiertes Recht niedergeschlagen hat. Wenn das Ziel darin besteht, Abtreibungen auszudünnen, ist es eine bessere Strategie, unerwünschte Schwangerschaften zu reduzieren. Zwei Methoden wurden vorgeschlagen: Abstinenz und Geburtenkontrolle.

Abstinenz würde Abtreibungen vermeiden, genau wie Hunger die Fettleibigkeit verhindern würde. Es gibt einen Grund, warum niemand Keuschheit als Lösung gegen die Überbevölkerung vorgeschlagen hat. Sexuelle Askese funktioniert nicht, denn körperliches Verlangen ist fast so grundlegend wie die Nahrung für unser Überleben und Gedeihen. Eine 2008 im Journal of Adolescent Health veröffentlichte Studie mit dem Titel „Reine Abstinenz- und umfassende Sexualerziehung und der Beginn der sexuellen Aktivität und Teenager Schwangerschaft“ ergab, dass bei amerikanischen Jugendlichen im Alter von 15 bis 19 Jahren „Reine Abstinenz-Erziehung nicht die Wahrscheinlichkeit eines vaginalen Geschlechtsverkehrs verringert hat“, und dass „Jugendliche, die eine umfassende Sexualaufklärung erhalten haben, ein geringeres Schwangerschaftsrisiko haben als Jugendliche, die eine reine Abstinenz oder keine Sexualaufklärung erhalten haben“. Ein PLOS ONE Paper aus dem Jahr 2011, das „Reine Abstinenz-Erziehung und Teenager-Schwangerschaftsraten“ in 48 US-Bundesstaaten analysiert, kam zu dem Schluss, dass „die zunehmende Betonung einer Abstinenz-Erziehung positiv mit der Schwangerschaft und den Geburtenraten von Teenagern korreliert“, abhängig vom sozioökonomischen Status, Bildungsgrad und Ethnizität.

Am aufschlussreichsten ist eine Arbeit aus dem Jahr 2013 mit dem Titel „Wie eine Jungfrau (Mutter): Analyse der Daten aus einer Stichprobe eines repräsentativen US-Bevölkerungsquerschnitts“, veröffentlicht im BMJ, welche berichtete, dass 45 der 7.870 untersuchten amerikanischen Frauen zwischen 1995 und 2009 angaben, ohne Sex schwanger geworden zu sein. Wer waren diese unbefleckt empfangenen, sich eigengeschlechtlich fortpflanzenden Marias? Sie haben mit einer doppelten Wahrscheinlichkeit wie andere schwangere Frauen ein Keuschheitsgelübde unterzeichnet, und es war wesentlich wahrscheinlicher, dass sie darüber berichten, dass ihre Eltern Schwierigkeiten hatten, mit ihnen über Sex oder Geburtenkontrolle zu sprechen.

Zugang zu Methoden der Geburtenkontrolle

Wenn Frauen gebildet sind und Zugang zu Methoden der Geburtenkontrolle haben, nehmen die Schwangerschaften und schließlich die Abtreibungen ab. Eine 2003 in der Zeitschrift International Family Planning Perspectives veröffentlichte Studie über die „Beziehungen zwischen Empfängnisverhütung und Abtreibung“ kam zu dem Schluss, dass die Abtreibungsraten mit zunehmendem Verhütungsmitteleinsatz in sieben Ländern (Kasachstan, Kirgisistan, Usbekistan, Bulgarien, Türkei, Tunesien und Schweiz) zurückgingen. In sechs weiteren Ländern (Kuba, Dänemark, den Niederlanden, Singapur, Südkorea und den USA) stiegen Verhütungsmittelkonsum und Abtreibungsraten gleichzeitig an, aber die Gesamtfruchtbarkeit sank im Untersuchungszeitraum. Nachdem sich die Fruchtbarkeit stabilisiert hatte, nahm der Einsatz von Verhütungsmitteln weiter zu, und die Abtreibungsraten sanken.

Ähnliches geschah zwischen 1988 und 1998 in der Türkei, als die Abtreibungsraten um fast die Hälfte zurückgingen, als unzuverlässige Formen der Geburtenkontrolle (zum Beispiel die Rhythmusmethode) durch modernere Methoden (z.B. Kondome) ersetzt wurden. Die Public-Health-Beraterin Pinar Senlet, die die Studie 2001 durchführte, die in der Zeitschrift International Family Planning Perspectives veröffentlichte wurde, und ihre Kollegen berichteten, dass „eine deutliche Verringerung der Zahl der Abtreibungen in der Türkei durch einen verbesserten Verhütungsmitteleinsatz und nicht durch erhöhte Anwendung erreicht wurde“.

Fairerweise muss man sagen. dass das multivariable Geflecht von Korrelationen in all diesen Studien schwer zu entflechten ist und die Ableitung direkter kausaler Zusammenhänge für Sozialwissenschaftler erschwert. Aber wenn Frauen eine eingeschränkte Sexualerziehung und keinen Zugang zu Verhütungsmitteln haben, werden sie eher schwanger, was zu höheren Abtreibungsraten führt. Wenn Frauen über effektive Verhütungsmittel sowie legale und medizinisch sichere Abtreibungen aufgeklärt werden und Zugang dazu haben, nutzen sie zunächst beide Strategien zur Kontrolle der Familiengröße, danach ist die Verhütung allein oft alles, was benötigt wird, und die Abtreibungsraten sinken.

Zugegebenermaßen sind stark polarisierende moralische Fragen im Spiel. Abtreibung beendet ein Menschenleben, also sollte sie nicht ohne ernsthafte Betrachtungen des auf dem Spiel stehenden, erfolgen, wie wir es bei der Todesstrafe und dem Krieg tun. Ebenso sollte die Würdigung der Gleichberechtigung, insbesondere der reproduktiven Rechte, von allen freiheitsliebenden Menschen anerkannt werden. Aber vielleicht könnte der Fortschritt für alles menschliche Leben leichter realisiert werden, wenn wir Abtreibung als ein zu lösendes Problem und nicht als eine moralische Frage, um andere zu verurteilen, betrachten würden. So befriedigend das Gefühl der moralischen Empörung auch ist, es ist wenig geeignet, um den moralischen Fortschritt hin zur Gerechtigkeit zu fördern.

Hier geht's zum Originalartikel...

Kommentare

  1. userpic
    Norbert Schönecker

    Ein sachlich bleibender Artikel zum Thema Abtreibung - eine Seltenheit! Ich bin beeindruckt. Zumal ich zugeben muss, dass ich selbst bei diesem Thema allergrößte Mühe habe, sachlich zu bleiben.
    Vor allem der letzte Absatz hat mich erfreut. Das moralische Problem wird nicht mit "Der Embryo hat noch kein Gehirn" oder gar dem reichlich dummen Slogan "Zellhaufen" weggewischt.

    Zwei Anmerkungen:
    1) Es wird eine "reine Abstinenzerziehung" einer "umfassenden Sexualerziehung" gegenübergestellt und die "reine Abstinenzerziehung" als mangelhaft dargestellt. So weit, so gut. Mir fehlt aber der Hinweis, dass Abstinenzerziehung und umfassende Sexualerziehung durchaus miteinander vereinbar sind. Es ist möglich,Jugendliche zu Keuschheit und vorehelicher Enthaltsamkeit zu erziehen (oder es zumindest zu versuchen) und ihnen gleichzeitig alles Wichtige über Sex zu erzählen, sogar inklusive Verhütungsmethoden (auch hier gilt: oder es zumindest zu versuchen). Kurz: Man kann Jugendliche über das informieren, worauf sie verzichten sollen. Ich halte Abstinenz für ein gutes Mittel, um Abtreibungen zu verhindern. Ich halte übrigens auch Hunger für ein gutes Mittel,um Fettleibigkeit zu verhindern (bezugnehmend auf den zweiten Absatz). Und ich halte es für ein ausgezeichnetes Mittel zur Charakterbildung, beides ertragen zu lernen. Es erhöht auch den anschließenden Genuss, wie schon Epikur wusste.

    2) Aus dem letzten Absatz: "Ebenso sollte die Würdigung der Gleichberechtigung, insbesondere der reproduktiven Rechte, von allen freiheitsliebenden Menschen anerkannt werden. "
    Wie soll ich diesen Satz verstehen? Soll das heißen, dass die Väter bei der Entscheidung über Abtreibung - der Tötung ihres Nachwuchses (um das kontroverse Wort "Kindes" zu vermeiden)! - ein Mitspracherecht haben sollen? Das wäre ein interessanter Gedanke. Das Problem ist aber etwas diffizil. Immerhin haben die werdenden Mütter in der Schwangerschaft die Haupt- oder sogar alleinige Last zu tragen, was ein berechtigter Einwand gegen Gleichberechtigung ist. Die Natur macht uns nun einmal unterschiedlich, was auch zu unterschiedlichen Rechten führt. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass es für einen Mann belastend ist zu wissen, dass das Leben des eigenen Kindes vom Wohlwollen dessen Mutter abhängt. Schwierig.

    Antworten

    1. userpic
      Klaus Steiner

      Hallo Herr Schönecker,

      Ihr Zitat: „Es ist möglich,Jugendliche zu Keuschheit und vorehelicher Enthaltsamkeit zu erziehen (oder es zumindest zu versuchen) und ihnen gleichzeitig alles Wichtige über Sex zu erzählen, sogar inklusive Verhütungsmethoden (auch hier gilt: oder es zumindest zu versuchen). … Ich halte Abstinenz für ein gutes Mittel, um Abtreibungen zu verhindern.“

      Ich frage mich, ob oder wie Sie das Zitat: „Es gibt einen Grund, warum niemand Keuschheit als Lösung gegen die Überbevölkerung vorgeschlagen hat. Sexuelle Askese funktioniert nicht, denn körperliches Verlangen ist fast so grundlegend wie die Nahrung für unser Überleben und Gedeihen.“ aus dem Text verarbeitet haben?
      Mit den Ergebnissen der Studie „Reine Abstinenz- und umfassende Sexualerziehung und der Beginn der sexuellen Aktivität und Teenager Schwangerschaft“ wird untermauert, dass „Reine Abstinenz-Erziehung nicht die Wahrscheinlichkeit eines vaginalen Geschlechtsverkehrs verringert hat“ und dass Jugendliche mit umfassender Sexualaufklärung ein geringeres Schwangerschaftsrisiko haben als Jugendliche, die eine reine Abstinenz oder keine Sexualaufklärung erhalten haben.
      Wenn also kein Nutzen in einer Abstinenz-Erziehung gefunden werden konnte, wie können Sie diese dann als ein „gutes Mittel um Abtreibungen zu verhindern“ bezeichnen, also für ein Sexualerziehung „und“ Abstinenz plädieren? Dieses „und“ ist entbehrlich!

      Nun muss man auch sehen, dass in modernen Jugendkulturen Abstinenz ein Verhalten sein kann, mit dem man seine Zugehörigkeit zu einer Gruppierung ausdrückt (Straight Edge, Wahre Liebe Wartet) (Quelle: Wikipedia, Abstinenz, Sexuelle Abstinenz). Ein „Dazugehören-wollen“ ist ein sicherlich nicht zu unterschätzender Motivator für abstinentes Verhalten.

      In den 1960-er Jahren war es den Gegnern der Enttabuisierung der Sexualität wichtig, Sexualität in ein schlechtes Licht zu rücken. Um das Ziel der Aufklärung die sexuelle Enthaltsamkeit bis zur Eheschließung durchzusetzen, kam es zu etwaigen Verfremdungen der Sexualität. So wurde der sexuelle Bereich dämonisiert - Geburten wurden als Horrorszenarien dargestellt, Masturbation mit körperlichen und seelischen Leiden assoziiert und der voreheliche Geschlechtsverkehr mit Sanktionen belegt (Quelle: Sex im Alltag, Melanie Sarnow, 2013, S. 44).

      Im Islam wird dem Sexuellen gegenüber eine zustimmende Einstellung vertreten, welche nicht nur den Fruchtbarkeits- sondern auch den Lustaspekt betont. Sexualität ist natürlich und positiv, Enthaltsamkeit ist daher kein Ideal. Sexuelle Beziehungen gehören zweifellos in einen Rahmen gegenseitiger Verantwortung. Die Ehe ist ein Vertrag zwischen Mann und Frau, der einen solchen Rahmen definiert. … Während in der islamischen Lehre eine eher zustimmende Gesinnung vorherrschend, wobei sich diese in der evangelischen Kirche inzwischen liberalisiert hat. Geprägt durch den hellenistisch-orientalischen Dualismus wurde die sexuelle Enthaltsamkeit im Christentum zum Ideal: Der Geist sei von der ´Fleischeslust´ zu befreien. Im Islam hingegen wird die Befreiung des Geistes nicht angestrebt (Quelle: Die sexuelle Sozialisation in der weiblichen Adoleszenz, Annette Müller, 2006, vgl. S. 316).

      Nach dem zuvor zitierten vertrete ich die Meinung, dass es wichtig ist, Jugendlichen zu vermitteln, dass es in einem Liebesverhältnis um gegenseitigen Respekt, Verbindlichkeit, Vertrauen und Gemeinschaft geht. Das könnte Enthaltsamkeit mit einschließen, diese steht jedoch nicht im Vordergrund. Wichtiger ist doch, dass junge Menschen zur Autonomie, zu Selbstbewusstsein erzogen werden. Sie sollen lernen, was in ihrer Sexualität gegenseitiger Respekt, Verbindlichkeit, Vertrauen und Gemeinschaft bedeuten.

      Antworten

      1. userpic
        Norbert Schönecker

        S.g. Herr Steiner!

        Der Großteil des Textes,den Sie aus dem Artikel zitieren, konstruiert einen Gegensatz zwischen "reiner Abstinenz-Erziehung" und "umfassender Aufklärung". Ich propagiere, Abstinenz-Erziehung mit umfassender Aufklärung zu verbinden. Ich würde sogar so weit gehen, Keuschheit als wesentlichen Teil einer umfassenden Sexualaufklärung zu betrachten.

        (Exkurs: "Keuschheit" bedeutet in der Katholischen Morallehre nicht das selbe wie "Enthaltsamkeit". Keuschheit bedeutet v.a. Selbstbeherrschung im sexuellen Bereich - also die Souveränität über die Lust. Das heißt: Ein keuscher Ehemann wird bei anderen Frauen seine Hände und sogar Augen beherrschen und sich seine Lust für seine Ehefrau aufheben, und auch das nur, wenn sie das auch will. Das ist ein sehr aktuelles Thema, sowohl in der Kirche aus auch in der me-too-Debatte. Und selbst wer mit der kirchlichen Lehre der außerehelichen Enthaltsamkeit nichts anfangen kann/will, wird mir wohl bestätigen, dass sexuelle Selbstbeherrschung - also Keuschheit im katholischen Sinn - etwas ist, was von Jugendlichen dringend gelernt werden muss. Zumindest um sexuelle Übergriffe zu vermeiden. Schön, dass Sie mir in Ihrem letzten Absatz zustimmen: Ein Mensch muss Enthaltsamkeit können, sie aber nicht immer ausüben.)

        Den Satz "Sexuelle Askese funktioniert nicht, denn körperliches Verlangen ist fast so grundlegend wie die Nahrung für unser Überleben und Gedeihen" bestreite ich in diesem Zusammenhang. Wobei zu klären wäre, wie weit "sexuelle Askese" geht. Betrifft sie nur sexuelle Aktivität mit einem Partner? Oder auch alleine? Umfasst sie sogar Träume oder selbst rein biologisch-mechanische Funktionen?
        Da es im Artikel um Abtreibungen geht, will ich Askese in diesem Zusammenhang auf den Bereich der sexuellen Aktivität mit Partner beschränken.

        Und hier stelle ich fest: Es gibt Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen keinen Sex mit anderen Menschen haben können oder dürfen (weil sie keinen Partner finden, weil der Partner nicht will oder verreist ist, und weil Prostitution in ihrer Nähe nicht oder nur illegal oder unter ethisch inakzeptablen Umständen stattfindet). Als erstes fällt auf: Diese Menschen sterben daran nicht, was ein sehr großer Unterschied zu Nahrungsmangel ist. Als zweites kann ich sagen: Selbst wenn diese Menschen darunter leiden, so entwickeln sie sich doch in der Regel psychisch normal. Askese führt also auch nicht direkt zu psychischen Schäden. Das gilt umso mehr, wenn die Menschen freiwillig als Asketen leben. Ich stelle die unbewisene These auf: Unfreiwillige Asketen (z.B. Menschen, die als besonders hässlich gelten) leiden viel mehr unter der sozialen Ausgrenzung als unter der körperlich-sexuellen Askese.

        Unser gemeinsames Anliegen, Herr Steiner, ist folgendes: Sexualität möge verbunden sein mit Respekt, Verbindlichkeit, Vertrauen und Gemeinschaft. Das haben Sie in Ihrem letzten Absatz sehr schön aufgezählt. Keuschheit (also die Fähigkeit zur zumindest zeitweiligen Abstinenz) ist dafür eine Voraussetzung. Insofern gehört zu einer umfassenden Sexualerziehung die Erziehung zur Keuschheit dazu. Und zwar ganz wesentlich.
        Informationen über Verhütungsmittel kann man dann auch bieten (obwohl ich als Katholischer Amtsträger sie ablehne, aber seis drum, so wichtig wie gegenseitiger Respekt ist das bei Weitem nicht).
        Ich behaupte, wieder ohne Daten dazu zu haben, aber mir erscheint es offensichtlich: Hätten alle Menschen Keuschheit erlernt - wäre bei allen Menschen der gegenseitige Respekt stärker als die Lust - hätten alle Menschen den Mut, ihre hohen Ziele konsequent anzustreben - wäre das Verantwortungsbewusstsein größer als der Sexualtrieb - dann gäbe es viel weniger unerwünschte Schwangerschaften! Und auch sonst viel weniger Leid auf der Welt.

        Antworten

      2. userpic
        Klaus Steiner

        Hallo Herr Schönecker,

        Ihr Zitat: „Ein keuscher Ehemann wird bei anderen Frauen seine Hände und sogar Augen beherrschen und sich seine Lust für seine Ehefrau aufheben, und auch das nur, wenn sie das auch will.“

        In einem Artikel des Hpd ist zu lesen:
        Keuschheit ist nicht eine klerikal auf Unterleibsprobleme eingeengte Tugend. Der Begriff muss entlastet und geweitet werden: Keuschheit meint den Respekt vor der Intimsphäre, vor dem Lebensgeheimnis der anderen. Unkeusch handelt dagegen, wer interessegeleitete Blicke auf die andere Person richtet, Schamgefühl überspringt, Unsicherheiten ausnutzt, eine übergriffige Nähe sucht (Quelle: https://hpd.de/artikel/mein-sex-mein-gott-13846).

        Damit läuft das Einstehen für Keuschheit darauf hinaus, für Monogamie zu plädieren. Wie „natürlich“ ist Monogamie? Diese Frage zielt auf die Biologie, wird aber von der kulturellen Evolution „überschattet“.

        Zum einen gibt es da den Geschlechterkonflikt, ein Männchen kann viel mehr Eier befruchten als ein einziges Weibchen produzieren kann. Das Problem der Monogamie ist, dass menschliche Normen und Verhaltensweisen in der Regel stark kulturell geprägt sind. Daher ist oft schwer zu beurteilen ist, ob und in welchem Maße biologische Faktoren das Erscheinungsbild mitformen oder die Tradition einmal mitgeprägt haben. Ehescheidungen und Trennungen nehmen in hochentwickelten Industrieländern zu und gehen auch immer häufiger von der Frau aus - sicherlich eine Folge von Wohlstand und sozialer Sicherheit. Der Paarzusammenhalt verliert dann seine biologische Notwendigkeit. 

        Inwieweit die jeweiligen ökonomischen Verhältnisse die Ausprägung der überlieferten Eheformen mitbestimmt haben, läßt sich nicht leicht nachvollziehen. Nach dem Polygynieschwellen-Modell sollte man Monogamie dort erwarten, wo die Ressourcen auf die Männer einigermaßen gleich verteilt sind. Das war in der abendländischen Kultur aber nie der Fall. Zwar verdient heute nahezu jeder Mann immerhin genug, um Kinder durchbringen zu können, denn einen Teil der Kosten für Erziehung und medizinische Versorgung sowie notfalls soziale Hilfen übernimmt der Staat. Doch obgleich zumindest eine Chancenähnlichkeit besteht, sind die ökonomischen Ungleichheiten weiterhin sehr groß. Darum ist für unsere Gesellschaft eher eine kulturell gesetzte Norm als Grund für die Einehe anzunehmen. Gestützt wird sie von einem komplexen Sittenkodex, den die christliche Mission gleich mit dem Evangelium bei anderen Kulturen eingeführt hat (Quelle: https://www.spektrum.de/magazin/evolutive-ursachen-der-monogamie/820777).

        Christopher Ryan glaubt, dass durch die Sesshaftigkeit auch Felder für den Ackerbau oder Kühe zu vererben gab. So wurde wichtig, welches Kind von wem abstammt. Auch Frauen seien auf diesem Weg zu einer Art Besitztum geworden, ihre Sexualität musste kontrolliert werden, um die Abstammungslinien abzusichern. 

        Monogamie ist zu einer starken gesellschaftlichen Norm geworden, es braucht keine Religion mehr, um ihre Einhaltung zu fordern, viele Menschen fordern das von sich selbst.

        Zumindest in der Fantasiewelt der Männer wie auch der Frauen habe sich die Monogamie keineswegs durchgesetzt. Kein Mensch ist im Kopf treu. Sexuelles Interesse an nur einem Partner, womöglich noch auf Dauer? Eine unerfüllbare Norm.

        Christopher Ryan, der Autor der Anklageschrift gegen die Monogamie, sagt, dass es mit der sexuellen Treue vielleicht wie mit dem Vegetarismus sei. Es gibt Menschen, die sich entscheiden, kein Fleisch zu essen. Das ändere aber nichts daran, dass Menschen eigentlich Allesfresser sind (Quelle: https://www.welt.de/print/wams/wissen/article157880674/Die-Erfindung-der-Monogamie.html).

        Außerdem muss aus dem Bereich der evolutionären Medizin beachtet werden:
        Wenn Kirche oder Staat Sex mit mehreren oder gar vielen Partnern (Promiskuität) verbieten und dieses Verbot beachtet wird, so hat das zwei Folgen: Erstens kann man sich nicht an einer Geschlechtskrankheit anstecken, zweitens aber sterben in einer monogamen Gesellschaft die Wirte der tödlichen Viren und damit auch die Viren selbst (Ergänzung von mir: Viren können nicht sterben!) ohne weite Menschen anzustecken. So setzen sich bei den Viren jene Varianten durch, die ihre Wirte nicht oder jedenfalls nicht so schnell töten. Partnertreue und vermindert Promiskuität lohnen sich also nicht nur deshalb, weil man weniger leicht angesteckt wird, sondern auch deshalb, weil es sich, falls das doch passiert, in der Regel um ein weniger gefährliches Virus handeln wird. Es wird sogar erwogen, ob die günstiger wirtschaftliche und wissenschaftliche Entwicklung Europas ab 1400, der sogenannte „europäische Sonderweg“, außer der geographischen Gliederung und dem Wettbewerb auch der kirchlich geforderten Monogamie zu verdanken sein könnte (Quelle: Im Lichte der Evolution, G. Vollmer, 2017, S. 195).

        Antworten

        1. userpic
          Norbert Schönecker

          S.g. Herr Steiner!

          Ein interessantes Thema - schon alleine deshalb, weil es nur selten diskutiert wird!

          Evolutionär gesehen scheint mir, dass die Monogamie eher im Sinne der Frauen lag. Eine Frau braucht nur einen (zeugungsfähigen) Mann, um so viele Nachkommen wie möglich in die Welt zu setzen. Diesen Mann mit anderen Frauen zu teilen, wäre ein Nachteil. EIN Mann, der sich exklusiv um die Frau und den Nachwuchs kümmert, dürfte für diese besser sein als fünf Männer, die sich jeweils noch um weitere vier Frauen un deren Kinder kümmern. (Einschränkung: sofern der Mann überlebt)

          Ein Mann hingegen kann in einem polygamen System deutlich mehr Nachkommen in die Welt setzen als in einem monogamen System. (Einschränkung: sofern er eher ein Alpha-Männchen ist, ansonsten kommt er gar nicht zum Zug). Aus männlicher evolutionärer Sicht ist also die Polygamie ganz natürlich.

          Ebenfalls ganz natürlich ist für Männer aber auch die Eifersucht. Die Bereitschaft, eine Frau mit einem anderen Mann zu teilen, widerspricht dem Fortpflanzungstrieb und ist in der Natur entsprechend selten. Begründung: Wenn die Frau von einem anderen Mann schwanger wird, dann ist für neun Monate Schluss mit Fortpflanzung.
          Hinter der Eifersucht der Frau vermute ich eher den Wunsch, dass ihr Mann - wie oben erwähnt - mit aller Kraft sie und den gemeinsamen Nachwuchs ernähren und beschützen soll.

          Fazit bis hierher:
          1) Mann und Frau haben von Natur aus unterschiedliche Interessen.
          2) Eine Abschaffung der Monogamie würde die Eifersucht nicht beenden.

          Noch gar nicht im Blick waren die Interessen der Kinder. Die meisten Pädagogen sind sich einig, dass eine kleine und stabile Gruppe von Hauptbezugspersonen für Kinder ideal ist. Also z.B.: Vater und Mutter. Häufig wechselnde Väter (oder Mütter) wirken auf Kinder beängstigend, ebenso wie häufig wechselnde Kindergärtnerinnen oder Lehrer.
          Ebenso ist das Aufwachsen von Kindern in einer Kommune nicht ideal. Die Grundidee mancher Kommunen ist: Alle Erwachsenen sind gleichermaßen für alle Kinder da. Nur: Die Kinder machen da nicht mit, sie wollen Hauptbezugspersonen. Also: Eltern. (Ob das die leiblichen Eltern sein müssen, ist eine andere Frage).

          Ich würde aufgrund dessen die Interessen der Kinder als primären Grund für die Monogamie anführen. Im Vergleich zu anderen Tieren brauchen Menschenkinder extrem lange, bis sie selbständig sind. Und während dieser langen Zeit brauchen sie stabile Hauptbezugspersonen. Die leiblichen Eltern bieten sich dafür an. Die Monogamie sorgt dafür, dass Kinder bis zum Erwachsenenalter in Sicherheit und Geborgenheit bei Eltern aufwachsen, die mit aller Kraft für ihre Kinder sorgen. Ich kenne kein anderes System, das so gut funktioniert.

          Gesetzt ist hier der Idealfall einer guten Ehe ohne Todesfall. Wenn ein Elternteil stirbt oder ein heilloser Familienkrieg ausbricht, muss man natürlich Alternativen suchen. Aber anzustreben ist immer der Idealfall.

          Antworten

        Neuer Kommentar

        (Mögliche Formatierungen**dies** für fett; _dies_ für kursiv und [dies](http://de.richarddawkins.net) für einen Link)

        Ich möchte bei Antworten zu meinen Kommentaren benachrichtigt werden.

        * Eingabe erforderlich