Haben Menschen eine Moral?

Vielleicht verschwenden Philosophen ihre Zeit

Haben Menschen eine Moral?

Foto: Pixabay.com / StockSnap

Philosophen verbringen viel Zeit mit moralischen Fragen. Sollen wir unserem Gewissen folgen, für das Lebensglück der Mehrheit handeln, unsere Pflichten erfüllen, tugendhaft leben, eine Kombination aus all dem? Vielleicht verschwenden Philosophen ihre Zeit. Denn es gibt empirische Gründe für die Annahme, dass Menschen überhaupt nicht moralisch handeln, darunter Moralphilosophen.

Ich habe einen Beitrag zu diesem Thema lange aufgeschoben. Doch im Austausch mit dem Philosophen Michael Huemer habe ich mich nun der Möglichkeit gestellt, dass Menschen vielleicht keine Moral haben. Und wir als Philosophen unsere Zeit verschwenden. Das ist dabei herausgekommen.

1. Sind Moralphilosophen moralisch?

2. Ist die breite Bevölkerung moralisch?

3. Sind Menschen nicht auch gut?

4. Die Wahrheit ist kompliziert

Sind Moralphilosophen moralisch?

Ethikbücher werden viel häufiger aus führenden Universitätsbibliotheken entwendet als andere Philosophiebücher. Das ergab eine Untersuchung von von Eric Schwitzgebel(1). Schwitzgebel fand außerdem heraus, dass sich Moralphilosophen generell wohl nicht ethischer verhalten als andere Menschen. (2) Die Erwartung liegt nahe, dass sie das eigentlich sollten. Ebenso hat sich gezeigt, dass Geistliche mit derselben Wahrscheinlichkeit Kinder missbrauchen wie Betreuer in staatlichen Institutionen. Obwohl sich Priester und Bischöfe dazu verpflichtet haben, Gottes Gebote zu befolgen.

Hier einige metaethische Theorien, die das Fundament der Moral ergründen:

1. Nonkognitivismus: Es gibt keine objektiven ethischen Wahrheiten, Moral ist subjektiv. Das heißt, es ist nur falsch, einen Menschen zu ermorden, wenn die eigene Gesellschaft, man selbst oder ein bestimmtes Individuum wie Gott dies gerade für falsch erachtet. Oder vielleicht drückt man mit dem Gerede über Moral nur seine eigenen Gefühle aus („Emotivismus“).

2. Egoismus: Moral dient nur dazu, den eigenen Interessen zu dienen (Thomas Hobbes, Ayn Rand).

Wenn einige Moralphilosophen solche Theorien aufstellen – der Nonkognitivismus ist weit verbreitet -, dann scheint das zu zeigen, dass sie Moral überhaupt nicht verstehen. Sie sind quasi moralblind wie andere farbenblind sind. Denn Moral ist objektiv und ist dem eigenen Interesse übergeordnet. Oder sie ist keine Moral. Menschen ermorden ist falsch, Punkt. Babys foltern ist falsch, Punkt. Warum das letzten Endes falsch ist, darüber kann man sich streiten. Aber es ist falsch.

Ein Grund, warum ich eine Weile lang für 2. argumentiert hatte, lautet, dass ich die meisten Menschen für rücksichtslos egoistisch gehalten habe. Die einzige Möglichkeit, rücksichtslose Egoisten auch nur ansatzweise zu moralischem Verhalten zu bewegen, sah ich darin, die egoistischen Vorzüge von moralischem Verhalten aufzuzeigen.

Ayn Rands Ethik besagt, dass man gerade nicht rücksichtslos egoistisch sein soll, sondern ehrlich, integer, produktiv, gerecht und so weiter, und man obendrein die Rechte anderer Menschen zu achten habe. Ein richtiger Egoist hätte dafür keinen Grund. Rands Ethik ist also nicht konsequent egoistisch, sondern sie argumentiert (letztlich wenig überzeugend), dass ein tugendhaftes Leben im eigenen Interesse sei.

Dieser Tage stimme ich dem Philosophen G.E. Moore zu, dass der Egoismus grundsätzlich falsch ist. Außerdem handeln Menschen wohl nicht einmal ethisch, wenn sie glauben, das wäre in ihrem persönlichen Interesse.

Man sieht, dass die meisten Moralphilosophen selbst nicht moralischer handeln als andere Menschen und dass viele von ihnen nicht einmal verstehen, was Moral überhaupt ist.

Und das sind Experten in Sachen Moral. Wie sieht es bei der breiten Bevölkerung aus?

Ist die breite Bevölkerung moralisch?

Das sagt die Psychologie dazu:

- Die Milgram-Experimente haben gezeigt, dass 2/3 der Menschen bereit sind, einen anderen Menschen mit einem Stromschlag zu ermorden, wenn ein Mann in einem weißen Kittel ihnen dies aufträgt.

- Die doppelblinde Version der Diktatorspielstudien hat ergeben, dass die meisten Menschen rein egoistisch handeln, wenn sie glauben, dass niemand sie beobachtet.

Das sagt die Geschichte dazu:

- Sklaverei war bis ins 19. Jahrhundert eine weit verbreitete menschliche Institution. Es gab sie in fast allen Gesellschaften überall auf der Welt.

- Menschenopfer waren ebenso lange Zeit eine weit verbreitete menschliche Institution in zahlreichen Kulturen.

- Noch im 20. Jahrhundert haben Abermillionen Menschen die massenhafte, systematische Ermordung ihrer Mitbürger mitgetragen bis unterstützt. Darunter die Judenvernichtung durch die Nazis und den Massenmord an gebildeten Menschen und Unternehmern durch Kommunisten.

- Rund 75 Prozent der russischen Bevölkerung unterstützt seit 1999 das Handeln von Vladimir Putin als Präsident/Premierminister Russlands. Bis heute, auch nach Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine.

Wie der Philosoph Michael Huemer in „Are Humans Amoral?“ schreibt, sieht es so aus, als wäre ein Großteil der Menschheit nicht nur egoistisch oder amoralisch, sondern böse. Menschen handeln manchmal ethisch gut aus sozialem Konformismus. Aber nicht darum, weil sie zu guten Taten motiviert wären.

Sind Menschen nicht auch gut?

Dieser Schluss schien mir zu einseitig und extrem. Schließlich wissen wir auch, dass Menschen zu selbstlosen, aufopferungsvollen Taten in der Lage sind. Und nicht immer aus Konformismus.

Die meisten Deutschen gehen wählen, obwohl das aus egoistischer Sicht sinnlos ist (aufgrund der statistisch geringen Auswirkung auf das Wahlergebnis). Und es ist fraglich, ob sie das nur tun, wenn ihre Mitbürger sie dabei beobachten können. Rund 40 Prozent der Menschen in Deutschland engagieren sich ehrenamtlich. Und das wohl nicht nur für den Lebenslauf. Im Jahr 2020 haben die Deutschen 5,4 Milliarden Euro für wohltätige Zwecke gespendet. Es erscheint unplausibel, dass all diese Dinge nur durch Anpassertum motiviert sind.

Abseits davon passt die Auffassung, Menschen seien böse und handelten nur aufgrund des sozialen Konformismus manchmal gut, nicht offensichtlich zu Huemers und meiner eigenen Ethik. Schließlich denken wir, dass unsere Ethik letztlich auf menschlichen Intuitionen beruht. Falls diese Intuitionen böse wären, wäre es moralisch gut, böse zu sein. Das ergibt keinen Sinn.

Die Wahrheit ist kompliziert

Also habe ich mit Michael Huemer über das Thema geredet.

Ich schrieb ihm: „Mir ist womöglich ein Widerspruch aufgefallen: Wie können Menschen zur selben Zeit Konformisten sein und ethische Intuitionen haben? Falls sie nur aufgrund ihrer Anpassung an soziale Normen und aus Furcht vor anderen Menschen handelten, so erscheint es, dann haben sie keine Moral. Zur selben Zeit beruht deine Ethik auf unseren gemeinsamen Intuitionen. Also tun Menschen, was andere tun – aber sie müssen auch eine Vorstellung davon haben, ob ihre Handlungen ethisch richtig sind. Und daher können sie keine reinen Konformisten sein, sofern sie nicht konsistent ihre Intuitionen ignorieren.“

Huemer antwortete: „Die Lösung ist, dass Menschen eine Vielfalt an verschiedenen Fähigkeiten, Motiven und Tendenzen haben. Sie haben also sowohl einen Instinkt, sich anzupassen, als auch ein Moralempfinden, neben vielen anderen Motiven.“

Und das ist wohl die Antwort auf die Frage, ob Menschen moralisch sind. Menschen werden durch zahlreiche Motive angetrieben. Die Moral spielt in ihre Entscheidungen und Handlungen hinein, aber sie ist nur ein Faktor von vielen. Als Philosophen können wir versuchen, den Anteil der Moral zu stärken. Dafür brauchen wir eine fundierte Ethik, deren Bedeutung für ihr Leben die Menschen klar erkennen können.

Dieser Artikel erschien zuerst auf dem Philosophie-Blog Feuerbringer.

Fußnoten

(1) Schwitzgebel, Eric (2009) ‚Do ethicists steal more books?‚, Philosophical Psychology, 22: 6, 711 — 725

(2) Schwitzgebel, Eric (2011) ‚The Self-Reported Moral Behavior of Ethics Professors

Hier geht's zum Originalartikel...

Kommentare

  1. userpic
    Frank Fuerst

    Die "goldene Regel" ist ja nun schon länger formuliert.

    Volkstümlich

    Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.

    Bei Kant etwas geschliffener und ausgereifter als kategorischer Imperativ

    „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. “ Ausschlaggebend ist also, dass du dir vor einer Handlung deine persönlichen Leitsätze (Maxime) vor Augen führst.

    In der Bibel, dem wichtigsten Buch des Christentums, klingt die Goldene Regel so: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihr ihnen ebenso. “ (Das könnt ihr nach lesen in der Bibel, im Neuen Testament, Matthäus, 7, 12).

    Es braucht Massstäbe für richtig und falsch.

    Menschen sind nicht von Natur aus moralisch.

    Dennoch ist eine funktionierende Gesellschaft darauf angewiesen, dass es einen verlässlichen Handlungsrahmen gibt, der eingehalten wird.

    Sonst bleibt nur Chaos und das Recht des Stärkeren und Willkür.

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    1. userpic
      Uwe Lehnert

      Ist denn überhaupt ein Unterschied im mitmenschlichen Verhalten zwischen gläubigen und ungläubigen Menschen zu erkennen? Es gibt Gläubige, die Gutes und Böses tun, und es gibt Ungläubige, die Gutes und Böses tun. Menschen, ob Christ oder Nichtchrist, die Gutes tun, folgen – so würde ich es etwas pathetisch formulieren – der „Stimme ihres Herzens“.

      Was ich als Stimme des Herzens bezeichne, ist für mich das Ergebnis einer biologischen, sozialen und kulturellen Evolution, der Versuch, Egoismus und Selbstlosigkeit, Trieb und Vernunft ins Gleichgewicht zu bringen. Die Soziobiologie hat inzwischen nachweisen können, dass Kooperation und Empathie (Mitleiden) die Wurzeln der Moral sind und sich evolutionär entwickelt haben. Denn eine Gruppe von Individuen hat immer deutlich bessere Überlebenschancen, wenn man sich gegenseitig unterstützt, zum Beispiel beim gemeinsamen Jagen nach Futter, und zweitens dem in Not Befindlichen beisteht. Letzteres kommt einem dann auch zugute, wenn man selbst in Not ist. Bemerkenswerterweise haben sich auf diese Weise weltweit überall, unabhängig von jeder Religion, die gleichen moralischen Kernelemente (nicht töten, nicht stehlen, nicht lügen, dem in Not befindlichen Menschen helfen, …) herausgebildet.

      Moral hat also natürliche Wurzeln, die Religionen haben moralische Verhaltensweisen erst nachträglich zu göttlichen Normen erhoben. (Was allerdings das Befolgen moralischer Regeln gestärkt hat – aus Furcht vor Vergeltung dereinst nach dem Tode.) Moral ist in uns von der Natur evolutionär angelegt und gesellschaftlich weiterentwickelt worden. Gegenseitige Vorteilhaftigkeit, fairer Interessenausgleich und Solidarität sind die rationale Basis einer säkularen Moral und des friedlichen gesellschaftlichen Zusammenlebens. Diese gilt es im frühesten Kindesalter zu entfalten, verständlich zu machen und einzuüben. Einer religiösen Begründung bedarf es dazu nicht.

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