Hamed Abdel-Samad: Schlacht der Identitäten

20 Thesen zum Rassismus - Buchbesprechung

Hamed Abdel-Samad: Schlacht der Identitäten

Wir leben immer noch in dem besten Deutschland, das wir bisher hatten. Aber es ist eine erstaunliche Ineffizienz in vielen Fragen entstanden und eine erstaunliche Trägheit in Bezug auf zukünftig lebensentscheidende Fragen. Die Freiheit der Gedanken hat offenkundig gelitten und die gesellschaftliche Atmosphäre sowie die Qualität der Auseinandersetzung ist teilweise beklagenswert.

Nach dem Buch „Aus Liebe zu Deutschland“ von Hamed Abdel-Samad weist auch das neue Werk „Schlacht der Identitäten“ Wege aus der augenblicklich zunehmenden Selbst-Blockierung der deutschen Gesellschaft. Der Verfasser der nachfolgenden Besprechung bemüht sich um den roten Faden in den vielschichtigen Beobachtungen und Analysen.

Folgen wir dem knappen Stil des Buches und springen mitten hinein in die brisante Thematik.

Die Welt ist technisch, wissenschaftlich und wirtschaftlich zusammengerückt. Damit ist sie aber nicht automatisch einiger, demokratischer, und der Mensch lässt nicht in einem großen Sprung nach vorn allenthalben „Vernunft“ oder „Rationalität“ walten. Dass wir in vielerlei Hinsicht in Zeiten des verstärkten Wandels mit überaus weitreichenden Konsequenzen leben, ist in der Praxis erst in Ansätzen erkennbar - man sieht gewissermaßen nur die Spitze des Eisberges. Die Geister, die die sozialen Medien freigesetzt haben, müssen eingefangen und gezähmt werden. Die Demokratie befindet sich in einer existentiellen Bewährungsprobe. Die Umweltproblematik - untrennbar verbunden mit dem Sachverhalt der Überbevölkerung - ist seit Jahrzehnten bekannt und spitzt sich zu. Es wird sich also vieles ändern (müssen), und das ist die Hintergrundfolie für die in dem Buch behandelte Thematik.

Darüber hinaus liegt auf der Hand, dass man das Thema Rassismus nicht isoliert betrachten kann, sondern sich ihm zwangsläufig im Kontext eines Menschen- und Weltverständnisses nähern muss.

Abdel-Samad stellt zunächst fest, dass sich manche angesichts des Ansturms von Veränderung in identitäre Utopien flüchten, die es nie gab und geben wird und denen von anderer Seite Visionen gegenübergestellt werden, die vielleicht unrealistisch, jedoch in keinem Fall verordnet werden können. Lösungen müssen gemeinsam erarbeitet und errungen werden. Entscheidend ist die Beobachtung, dass eine auf Ablehnung und Schuld basierende Debatte asymmetrisch verläuft und in erster Linie Widerstand hervorruft: „... denn die Kehrseite der Schuld ist Aggression“. Die zurzeit desolate deutsche Streitkultur erweist sich als zentrales Hindernis.

Nüchtern hält Abdel-Samad fest, dass „Rassismus“ eine Grundkonstante menschlicher Existenz und nicht zu eliminieren ist - mit der aber umzugehen und die einzuhegen ist. Wir alle müssen kategorisieren, einordnen und bewerten, um zurechtzukommen, und tun das immerzu - zu einem erheblichen Teil unbewusst. Jedoch: „Eine der Fähigkeiten, die den Menschen von anderen Tieren unterscheidet, ist die Fähigkeit zur Reflexion.“ Richtig ernst wird es also, wenn nicht immer wieder eine Selbstreflexion und Sachverhaltsprüfung erfolgt.

Beeindruckend ist, wie es Abdel-Samad gelingt, die Bedeutung der Verarbeitung je eigener Prägung und Lebensgeschichte und die dahinterstehende Dynamik herauszuarbeiten. Das gelingt durch den Bericht einer Begegnung mit einem zunächst aggressiven Fußballfan und mündet in folgende Aussage: „Ich konnte in ihm eine andere Identität erkennen, die größer war als die des Aggressors. Und ich konnte in mir eine andere Identität erkennen, die größer war als die des Verletzten. So beginnt Versöhnung mit sich selbst und anderen.“ Eine bemerkenswerte Feststellung - man braucht etwas „Bedenkzeit“, um ihrer Bedeutung innezuwerden.

Auf der Ebene der befreienden Selbstermächtigung liegt auch die bewusste Zurückweisung von einengenden Interpretationen, Denkschablonen und faktischen Verdrehungen, die aus vielerlei Quellen kommen können. Unvermeidlich rückt dabei auch die Religion in den Blick. Die Argumentation des Autors gegen die heutige Identity Politics mit PC und verordneter Sprachregulierung ist so kurz wie prägnant und unabweisbar. Diese mit allen Mitteln vertretene Ideologie führt in eine gefährliche Sackgasse und spaltet.

Dabei muss gelten: „Rassismus ist keine Einbahnstraße“. Die menschlichen „Webfehler“ sind uns im Prinzip allen gemein, und niemand ist dadurch davon befreit, dass er sie bei anderen zu kritisieren weiß.

Übernahme von historischer Verantwortung

Von der deutschen Geschichte, so verstehe ich den Autor, kann man sich durch eine merkwürdige Verbindung von größtmöglicher Distanzierung und perpetuierten Schuldgefühlen nicht „befreien“, sondern vielmehr durch einen mühsamen Prozess, der neben den vielfältigen historischen Umständen vor allem die treibende individuelle und gesellschaftlich-menschliche Dynamik erfasst. Ein solcher Prozess befreit zu einer Übernahme von historischer Verantwortung und ermöglicht eine differenzierte Hinwendung zu einer neuen Kultur des Selbstverständnisses und der Handlungsmaximen. Verarbeitung und Verantwortung sind andere Kategorien als Schuld und Distanzierung.

Abdel-Samad sieht im Rassismus ein weltweites Problem mit gegenwärtig wachsendem Gefahrenpotential. Die oft anzutreffende wuchernde Verwendung des Begriffes ist dabei keinesfalls hilfreich und wird - man kann es nicht von der Hand weisen - oftmals strategisch bewusst eingesetzt. Nicht jede Meinungsverschiedenheit, jede Befindlichkeit und jedes Eigeninteresse sollte umstandslos einem verachtungswürdigen Rassismus zugeordnet werden. Das Verlangen nach Identität und Beheimatung ist eine menschliche Grundkonstante und nicht reflexartig mit Rückwärtsgewandtheit gleichzusetzen. Nicht jede menschliche Schwäche bedeutet tatsächlich den Absturz in einen ewigen moralischen Orkus. Zitat für das säkular-humanistische Stammbuch: „Eine empathische Gesellschaft kämpft nicht gegen die Natur des Menschen, sondern hebt das Beste in ihm hervor“.

Interessenkonflikte sind immer und überall. In Zeiten des Wandels und existentieller Bedrohungen können sich Abwärtsspiralen menschlichen Verhaltens schnell entwickeln. Abdel-Samad: „Rassismus wird zum Ausdruck eines Verteilungskampfes um knappe Ressourcen.“

Wie kommen wir also von der Schlacht der Identitäten zu einem Miteinander der Identitäten?

Wie wollen wir Gesellschaft gestalten und praktische Probleme konstruktiv lösen? Wenn ich es richtig verstehe, sieht Abdel-Samad den Weg in der Verbindung von persönlicher Reifung und einem offenen gesellschaftlichen Diskurs. Letzterer dient dem Herausarbeiten bestmöglicher, tragfähiger und zustimmungsfähiger Lösungen. Dabei ist Naivität fehl am Platze. Streit und Irrtümer sind unvermeidlich, es ist immer ein Preis zu zahlen, und auch Härten sind unvermeidlich. Durch den Prozess tragen muss die Verbindung von heutigem Wissen und dem Bewusstsein für die menschliche Dynamik. Ernsthaftes Bemühen (guter Wille), Verantwortungsbewusstsein, Toleranz, Perspektivwechsel und bürgerliches Engagement sind die Werkzeuge. Vorstellungen von perfekter und stabiler menschlicher Souveränität sind unrealistisch und eher hinderlich. Nur ein gemeinsam erstrittener verbindlicher Rahmen, der zwangsläufig auch Begrenzungen und Einschränkungen enthält, ermöglicht Individualität, Vielfalt und eine bestmögliche dynamische Balance der Gesellschaft.

Wer wissen will, wie eng die Suche nach Klärung und Gemeinsamkeit mit der Notwendigkeit zu Abgrenzung und Selbstschutz verzahnt ist, der schaue auf die Lebenssituation von Hamed Abdel-Samad.

In These 20 fragt Abdel-Samad rhetorisch: Die empathische Gesellschaft - eine Utopie?

Tatsächlich hält er die Entwicklung auf diese „Utopie“ hin für eine notwendige Voraussetzung für die Bewältigung der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts!

Was diesen Prozess behindert und was uns auf dem Weg dahin voranbringt, wird in einer ganzheitlichen Sichtweise ausgeführt. Dabei werden auch tatsächlich oder vermeintlich sich in der Rassismusfalle befindende Menschen nach den Vorstellungen von Abdel-Samad nicht geächtet.

Natürlich können im Rahmen dieser kurzen und subjektiven Besprechung nicht alle im Buch erörterten Themen angesprochen werden - und schon gar nicht die vielschichtigen Beobachtungen und Analysen, die in bemerkenswert eingängige Formulierungen gegossen sind. Man lese unbedingt sein Buch!

Abdel-Samad packt eine Vielzahl sehr heiß diskutierter Themen an, die in Deutschland teilweise fast einen „Tabustatus“ errungen zu haben scheinen. Er folgt dabei unerschrocken einem inhaltlichen Weg. In die Falle, stichhaltige Argumente und Analysen zurückzustellen, weil sie instrumentalisiert werden könnten, tappt er nicht.

Warum ein Buch mit 20 Thesen? Weil - so wage ich den Autor zu interpretieren - die übersichtliche Gliederung in Thesen den Zugang erleichtert und dabei gleichzeitig signalisiert wird, dass diskutiert und gerungen werden muss, dass ein gemeinsamer Weg zu suchen ist. Möge das Buch eine breite Leserschaft finden und eine ebenso breite wie konstruktive Diskussion anfachen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf der Webseite der „Freie Säkulare Humanisten Hamburg“ (fshh). Der Verein wurde im Mai 2020 gegründet und fördert den Meinungsaustausch freier säkularer Humanisten.

Das Buch: https://www.dtv.de/buch/hamed-abdel-samad-schlacht-der-identitaeten-28275/

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