Ist kritisches Denken irrational?

In den meisten Fällen nicht die beste Herangehensweise

Ist kritisches Denken irrational?

Foto: Pixabay.com / qimono

Er stand in seinen Vorträgen immer für kritisches Denken ein. Das heißt: Wir sollen die zu einem Thema von allen Seiten verfügbaren Argumente und Belege sammeln und selbst auswerten. So bilden wir uns einen Gesamteindruck zum Thema. Daraus leiten wir unsere Überzeugungen ab. Irgendwann schrieb er, dass die USA am Zweiten Weltkrieg schuld waren und nicht Hitler.

Ich rechne immer damit, dass jemand von uns plötzlich durchdreht. Man erlebt es häufig in der säkular-humanistischen Skeptikerszene, dass jemand ohne Vorwarnung offenbar seinen kritischen Verstand aus dem Fenster wirft, auf einmal Querdenkerslogans verbreitet, irgendeinen kommunistischen Diktator verehrt oder nicht ständig an den Holocaust erinnert werden möchte. Trump habe die Wahl eigentlich gewonnen, „wir sollen doch skeptisch sein“, hieß es neulich in einer Diskussionsrunde.

Wir sollen zwar skeptisch sein, aber auch rational, möchte man antworten. Doch inzwischen glaube ich, dass das alles kein Zufall ist. Wer sich kritisches Denken auf die Fahne geschrieben hat, ist besonders anfällig für irrationale Überzeugungen. Und zwar darum, weil, wie der US-amerikanische Philosoph Michael Huemer argumentiert, kritisches Denken als solches irrational ist. Jedenfalls zu großen Teilen.

Das muss ich jetzt erklären.

Wie finden wir heraus, was wir glauben sollen? Ein Ansatz ist kritisches Denken.

Was ist kritisches Denken?

Kritisches Denken bedeutet, wie oben geschrieben, dass wir die zu einem Thema von allen Seiten verfügbaren Argumente und Belege sammeln und selbst auswerten. Auf diese Art bilden wir uns einen Gesamteindruck zum jeweiligen Thema. Falls wir uns einen solchen Gesamteindruck gebildet haben, leiten wir unsere Überzeugungen aus diesem ab.

Zwei alternative Erkenntnismethoden lauten wie folgt:

1. Wir akzeptieren die Schlussfolgerungen von Experten auf Grundlage ihrer Fachautorität.

2. Wir geben es auf, die Antworten zu finden. Wir bilden uns kein Urteil.

Kritisches Denken wird häufig als die beste Methode in der Skeptikerszene angesehen, und auch generell in akademischen Kreisen. Die Gesellschaft für kritische Philosophie, in der ich Mitglied bin, sieht sich „der langen Tradition kritischen Denkens verpflichtet“ (trotzdem bin ich mir sicher, dass sie der Kritik daran einiges abgewinnen können). Und der Slogan des Blogs der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP), wo ich ebenso Mitglied bin, lautet: „…denken kritisch seit 1987“. Wie der US-amerikanische Philosophieprofessor Michael Huemer in seinem Paper Is Critical Thinking Epistemically Responsible argumentiert, ist kritisches Denken in den meisten Fällen nicht die beste Herangehensweise, um Wissen zu gewinnen.

Michael Shermer von der Skeptics Society sagte bei seinem Vortrag in Bremen auch etwas in dieser Richtung: Er sei nur ein normaler Typ und kenne sich mit den fachlichen Diskussionen nicht aus, er habe nicht jedes Fach studiert. Also konsultiere er seine Experten und verlasse sich auf sie. Er meinte sogar, er sei „vollständig von ihnen abhängig“. Woher soll er wissen, was die Klimaforschung besagt, wenn er kein Klimaforscher ist? Soll er die Klimaforschung bis ins letzte Detail studieren wie ein Klimaforscher, um sich nach Art des kritischen Denkens eine Meinung bilden zu können? Und jedes andere Fach? Kritische Denker müssten, wenn sie konsequent sein möchten, übermenschliche Universalgelehrte sein. Götter der Aufklärung.

Mein Pseudonym ist seit dem Jahr 2009 „Feuerbringer“. Das bezeichnet Prometheus, den Sohn eines Titanen in der griechischen Mythologie, der den Menschen das Feuer brachte. Er formte die Menschen zu autonomen Wesen, machte sie unabhängig von den Göttern. Prometheus ist der Gott der Aufklärung. Man möchte sich ja nicht unterfordern.

Als mich kritisches Denken in die Irre führte

Wir sind heillos überfordert, wenn wir kritisches Denken auf jedes Thema anwenden. Und als jemand, der sich kritisches Denken schon in jungen Jahren auf die Fahne schrieb, kann ich ein Lied davon singen. Vor rund 13 Jahren arbeitete ich für die Giordano Bruno Stiftung als Leitender Redakteur von darwin-jahr.de. Mein selbstgesetzter Auftrag: So viel über die Evolutionsbiologie wissen wie ein Evolutionsbiologe, und dieses Wissen an eine breite Leserschaft vermitteln.

Erst einige Jahre später war mir klargeworden, wie absurd die Idee ist, für ein journalistisches Projekt als Germanistikstudent die Qualifikation eines Biologieprofessors anzustreben. Aber ist es nicht das, was kritisches Denken von uns verlangt? Wie sollen wir uns eine Meinung zu den Fragestellungen in der Evolutionsbiologie bilden, ohne über das nötige Wissen zu verfügen? Und sollen wir uns nicht eine Meinung bilden zu mindestens den Themen, mit denen wir bei der Arbeit zu tun haben? Auf welche Bereiche sollen wir kritisches Denken sonst anwenden?

Wer mich kennt, weiß, dass ich keine halben Sachen mache. Später folgte also die nächste Stufe des Projekts „kritisches Denken“: Eine eigene Position zu volkswirtschaftlichen Theorien zu finden. Zu meiner Verteidigung kann ich festhalten, dass sich sehr viele Menschen bei diesem Thema überschätzen – wer hat eine wirklich informierte Meinung zu volkswirtschaftlichen Fragestellungen?

Nach einer Abwägung gelangte ich zum Schluss, dass die vollkommen freie Marktwirtschaft großartig wäre. Die volkswirtschaftliche Mainstreamforschung hält davon allerdings nichts. Das hatte mir der Ökonom Ulrich Berger vor ein paar Jahren schon gesagt. Trotzdem meinte ich, das Thema selbst überprüfen zu müssen, und landete beim Laissez-faire-Kapitalismus. Ich war sehr von der „Österreichischen Schule“ beeinflusst, welche die heutige Forschung zwar historisch würdigt, aber auch nicht viel mehr als das.

Der nächste und letzte Schritt: Ein vollständiges philosophisches System sollte mir als Weltbild dienen. Unter den verschiedenen Philosophien entschied ich mich für Ayn Rands „Objektivismus“. Dieses Gedankengebäude beantwortet wichtige Fragen in den Bereichen Metaphysik, Erkenntnistheorie, Ethik, politische Philosophie und Ästhetik. Ich denke heute, dass der Objektivismus zum überwältigenden Teil falsch ist – teilweise schlecht, teilweise dogmatisch und teilweise gar nicht begründet. Immerhin weiß ich nun genug über Philosophie, um so etwas einschätzen zu können.

Ich verstehe nun auch, wie wahnwitzig anspruchsvoll das Projekt der Aufklärung ist, wie ich es verstanden hatte. Stets kritisch denkende, universell gebildete, vollständig autonome Bürger – eine Welt, die von Göttern der Aufklärung bewohnt wird. Ein mythologisches Fantasiegebilde, den Religionen nicht unähnlich.

Die legitime Rolle von kritischem Denken

In den absolut meisten Fällen sollten wir uns keine eigene Meinung bilden nach Art des kritischen Denkens, sondern auf Experten hören oder auf ein Urteil verzichten. Doch es gibt einige Fälle, bei denen kritisches Denken eine gute Methode ist:

1. Wenn man sich ein Urteil bilden möchte zu einem Thema aus dem eigenen persönlichen Leben, das kein Gegenstand von Expertenmeinungen ist. Soll ich nach Schottland oder Mittelamerika in den Urlaub fliegen? Soll man noch ein Kind zeugen? Das wird einem kein Experte verraten können.

2. Wenn Experten selbst kein kritisches Denken anwenden, sondern von Vorurteilen geleitet werden und man selbst besser in die Lage ist, ein Thema vorurteilsfrei zu beurteilen. Die meisten Experten waren anfangs des 20. Jahrhunderts Anhänger der Eugenik. Hier wäre ein gewöhnlicher Bürger eventuell besser in der Lage gewesen, auf Grundlage seines Gewissens einen besseren Schluss zu ziehen.

3. Wenn man selbst Experte ist. Wissenschaftliches und sonstiges fachliches Arbeiten kommt nicht ohne kritisches Denken aus.

Auf Grundlage des kritischen Denkens begehen viele Menschen heutzutage große Fehler. Die Querdenkerbewegung ist ein Beispiel dafür. Ein Vertreter des kritischen Denkens könnte einwenden, dass sie nicht wirklich die Belege ausgewogen und rational auswertet. Darauf würde ich antworten, dass die absolut meisten Menschen nicht die Kompetenz von Virologen und Epidemiologen besitzen, hier also gar nichts auswerten können, sondern einfach die Mainstream-Expertenmeinung akzeptieren sollten.

Nun muss man unterscheiden zwischen dem gesellschaftlichen und dem wissenschaftlichen Mainstream. Wir sollten auf Experten hören, aber wir sollten nicht einfach die Überzeugungen unserer jeweiligen Gesellschaft wiedergeben. Beispielsweise sind Atomkraft und Gentechnik in der deutschen Gesellschaft sehr verpönt, doch Experten sagen dazu in der Tendenz etwas anderes. So sieht der IPCC eine Rolle für die Atomkraft im Kampf gegen den Klimawandel. Praktisch alle Forschungsorganisationen sind grundsätzlich für eine Anwendung der grünen Gentechnik. Darum sind das zwei Bereiche, wo sich die GWUP gegen den gesellschaftlichen Mainstream richtet.

Man sieht also, warum ausgerechnet der Aufklärung verpflichtete Organisationen und deren Mitglieder besonders anfällig dafür sind, mittels kritischem Denken zu falschen Schlüssen zu gelangen (oder gleich ganz ihren Verstand zu verlieren). Hier wäre eine gute Portion Selbstkritik angemessen.

Fazit: Wir sollten in der Regel nicht kritisch denken, sondern auf Experten hören oder uns kein Urteil bilden.

Wir sind schließlich keine Götter. Ich muss es wissen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf dem Philosophie-Blog Feuerbringer.

Kommentare

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    Adrian Müller

    Lieber Andreas,
    auf welche Experten willst du denn hören, auf welche nicht? Und warum glaubst du, dass du wenn du auf Experten hörst, dann weniger manipuliert wird? Ist Corona nicht das allerbeste Beispiel, dass es komplett gefährlich ist, sich auf Virologen und "Gesundheitsexperten" zu verlassen, die in vielen wichtigen Einschätzungen zu 100 % falsch lagen? Und wer ist überhaupt Experte? Wer sein Lebensunterhalt damit verdient? Hat der nicht auch gefährliche Eigeninteressen als sogenannter "Experte", wenn er durch seinen Expertenstatus zu hohe Autorität besitzt?
    Und gibt es nicht die Gefahr, dass Expertenmehrheiten behaupten, wer deren "Wahrheit" anzweifle sei kein Experte mehr, wie es in der Pandemie immer wieder geschah.

    Ich bleibe dabei, wer sich Experte schimpft, versucht in der Regel von seiner schwachen Argumenten abzulenken und sich durch einen Autoritätsstatus über andere zu erheben.

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