„Jüdisches Kind“? „Muslimisches Kind“? „Christliches Kind“?

Kulturelle Tradition hat ihren Stellenwert, aber keinen Platz in einer auf Fakten basierten Bildung.

„Jüdisches Kind“? „Muslimisches Kind“? „Christliches Kind“?

Mein oft (manche mögen sagen, zu oft) wiederholter Hinweis auf die Absurdität - ja Bösartigkeit - der Etikettierung von Kindern mit der Religion ihrer Eltern („Würden Sie von einem ‘postmodernen Kind’ oder einem ‘gramscianischen-marxistischen Kind’ sprechen?) ist in der Regel erfolgreich. Die Leute verstehen den Punkt fast immer sofort, wiewohl es eine andere Frage ist, ob es bei ihnen ein zukünftiges Bewusstsein dafür schafft, bei dem sie tatsächlich zusammenzucken, so wie ich es tue, wenn sie von einem „katholischen Kind“ oder „muslimischen Kind“ hören. Aber es gibt ein Gegenargument, dem ich oft begegne, und es klingt oberflächlich plausibel. Es ist mein Anliegen, mich hier damit auseinanderzusetzen.

Die Gegner, von denen ich spreche, berufen sich oft auf den Sonderfall des Judentums, aber der Punkt kann allgemeiner formuliert werden. Es sei lächerlich und falsch, Eltern davon abzuhalten, ihre kulturellen Traditionen an ihre Kinder weiterzugeben. Sprache, Akzent, Kleidungsstile, Ernährung, Essgewohnheiten, Sprichwörter, poetische Anspielungen, Spiele, nonverbale Signale oder Grüße wie Kopfschütteln oder Nicken oder soziales Küssen werden kulturell vermittelt. Die Menschheit wäre ärmer, wenn wir sie verlieren würden. Religion, so wird behauptet, ist nur ein weiterer Punkt auf der Liste.

Ich stimme vielem davon zu und freue mich über die bunt gemischten Traditionen der Weltkulturen. Aber Religion ist nicht nur ein weiterer Punkt auf der Liste. Es ist etwas völlig anderes. Hier ist der Grund.

Religion erhebt Wahrheitsansprüche über die reale Welt. Dies unterscheidet sie von anderen überlieferten Traditionen, wie z.B. den Kleidungsstil und die Kochkunst. Wenn ein „jüdisches Kind“ aufgrund einer Kippa auf dem Kopf und Schläfenlocken vor den Ohren etikettiert wird, erscheint mir das nicht schlimmer als eine kulturell übertragene Vorliebe für Cricket oder Baseball, oder die Gepflogenheit, einen Kilt und Sporran statt einer Hose zu tragen (kulturell übertragene Körperverstümmelung von Kindern ist eine ganz andere Sache). Das Problem entsteht, wenn man annimmt, dass das „jüdische Kind“ („muslimisches Kind“ etc.) aufgrund seines jüdischen Charakters (etc.) einen Glauben an eine Behauptung hat. Eine Behauptung wie über das Alter der Welt, dessen Wahrheit nur von Beweisen abhängt und nicht kulturell bestimmt ist. Solche glaubensbasierten Überzeugungen über die Realität widersprechen allzu oft aktiv den Beweisen und untergraben damit eine echte Bildung.

Es gibt legitime und bewundernswerte Ansichten, in denen sich Menschen aufgrund der über Generationen überlieferten Traditionen voneinander unterscheiden. Tatsachenbehauptungen über die reale Welt sollten nicht darunterfallen. Wenn man es so ausdrückt, fällt es mir schwer, mir vorzustellen, wie eine Person mit gutem Willen und Intelligenz ernsthaft anderer Meinung sein könnte. Doch weil es normalerweise nicht so formuliert wird, gibt es viele Menschen, sogar nicht-religiöse Menschen mit Intelligenz und gutem Willen, die hinters Licht geführt wurden, und dadurch die „kulturelle Tradition“ der Religion mit dessen „Tatsachenbehauptungen“ verwechseln. Wenn eine solches Missverständnis durch die Etikettierung von Kindern entsteht, ist sie geradezu bösartig.

Übersetzung: Jörg Elbe

Hier geht's zum Originalartikel...

Kommentare

  1. userpic
    Klarsicht(ig)

    Aus den „Text-Videos" in den nachstehend aufgeführten Links ergeben sich die Prämissen für „die Absurdität - ja Bösartigkeit - der Etikettierung von Kindern mit der Religion ihrer Eltern“.

    Vorstellungen des christlichen Weltbildes und seelische Gesundheit ?:
    https://www.youtube.com/watch?v=xNMMaRPrDVo

    Theodizee des Glücks und des Leides, Gott, Gebet, Priestertum, Glaube und Religion:
    https://www.youtube.com/watch?v=4qu1DP0gPiQ

    Grußn von
    Klarsicht(ig)

    Antworten

    1. userpic
      Uwe Lehnert

      Es gilt nach wie vor:

      Religionen predigen den Menschen, was sie denken sollen, die Wissenschaften, speziell die Naturwissenschaften zeigen den Menschen, wie sie denken sollen, um zu wirklichkeitsgerechten und damit dem Menschen dienlichen Erkenntnissen zu gelangen.

      Antworten

      1. userpic
        foramentor

        Lieber Herr Lehnert

        Solche schlagwortartige Pauschalisierungen finde ich problematisch. Die Lebenserfahrung lässt hier sofort Skepsis aufkommen - wenigstens bei mir.

        Lassen sich nach Ihrer Denkweise die wissenschaftlich interessieren Gläubigen oder die religiösen Wissenschafter vorschreiben, wie sie was denken sollen?

        Antworten

        Neuer Kommentar

        (Mögliche Formatierungen**dies** für fett; _dies_ für kursiv und [dies](http://de.richarddawkins.net) für einen Link)

        Ich möchte bei Antworten zu meinen Kommentaren benachrichtigt werden.

        * Eingabe erforderlich