Kindesmissbrauch – ein Missverständnis

A ist schlimm. B ist schlimmer. „Wie können Sie es wagen, A verteidigen zu wollen?“

Der Inbegriff etlicher Attacken auf Twitter

Übersetzung von Daniela Bartl

In meinen Memoiren „An Appetite for Wonder“ schrieb ich folgendes über einen Vorfall im Internat:

Ich sah mir die Squash-Spiele immer von der Galerie aus an und wartete auf das Ende, um dann selbst hinunter zu gehen und alleine zu üben. Eines Tages – ich war ungefähr elf Jahre alt – war ein Erzieher mit mir in der Galerie. Er zog mich auf seinen Schoß und schob seine Hand in meine Hose. Er tastete dort nur ein wenig herum, aber es war extrem unangenehm (der Hodenheberreflex ist nicht schmerzhaft, aber auf gruselige und haarsträubende Art fast schlimmer als Schmerzen) sowie peinlich. Sobald ich mich von seinem Schoß winden konnte, lief ich los, um meinen Freunden davon zu erzählen, von denen viele dasselbe mit ihm erlebt hatten. Ich glaube nicht, dass er auch nur bei einem von uns einen bleibenden Schaden angerichtet hat, aber ein paar Jahre später brachte er sich um.

Dieser Absatz, zusammen mit der nachfolgenden Stellungnahme in der Times, dass ich diesen Lehrer nicht mit den heutigen Maßstäben messen möchte, ist heftig kritisiert worden. Diese Kritiken repräsentieren ein Missverständnis, das ich gerne aufklären möchte.

Die heutige Sichtweise ist bedingt durch unser zunehmendes Wissen über den traumatisierenden Effekt, den Kinder durch sexuellen Missbrauch erleiden können und der sie manchmal für den Rest ihres Lebens zeichnet. Heute lesen wir, beinahe täglich, von Erwachsenen, deren Kindheit von einem Onkel etwa, oder gar einem Elternteil vernichtet wurde, durch sexuellen Missbrauch eines schutzlosen Kindes, Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr. Oftmals bleibt dem Kind keine Möglichkeit zur Flucht, der andere Elternteil würde ihm keinen Glauben schenken, ebenso wenig die Lehrer. In vielen Fällen kommen solche Vorfälle erst ans Tageslicht, wenn die missbrauchten Kinder selbst erwachsen sind. Ihre Erlebnisse herunter zu spielen könnte in manchen Fällen das Trauma, dass einem nicht geglaubt wurde - gerade als es für das Kind am wichtigsten gewesen wäre -, auch nach all den Jahren wieder aufleben lassen.

Nur marginal weniger schuld als die Kinderschänder selbst sind die Institutionen, die sie schützen, hier sticht die Hierarchie der Rangältesten der römisch-katholischen Kirche als prominentestes Beispiel heraus. Das ist der Grund, aus dem ich persönlich 10.000 Pfund meines Privatvermögens an einen Fonds, der von Christopher Hitchens und mir angeregt worden war, gespendet habe. Der Fonds verfolgt das Ziel, Beweismaterialien zusammenzutragen für eine Anklage gegen Papst Benedikt XVI wegen der Rolle, die er (als Kardinal Ratzinger) bei der Vertuschung von sexuellem Missbrauch von Kindern durch Priester gespielt hatte. Unsere Initiative, die ich zu 50% finanziere - der Rest wurde von Christopher Hitchens und Sam Harris aufgebracht – zog das Buch Angeklagt: Der Papst: Die Verantwortlichkeit des Vatikan für Menschenrechtsverletzungen nach sich, in welchem der angesehene Kronanwalt Geoffrey Robertson für die Staatsanwaltschaft die Argumente abwägt, sollte irgendeine Gerichtsbarkeit auf der Welt sich entscheiden, sich der Sache anzunehmen.

Nun, angesichts der schrecklichen, anhaltenden und widerkehrenden Traumata, die Menschen erleiden, die als Kinder missbraucht wurden, Woche für Woche, Jahr für Jahr, was hätte ich sagen sollen über meine eigenen dreißig Sekunden Ekel, damals in den 1950er Jahren? Hätte ich lügen sollen und sagen, es sei das Schlimmste gewesen, das mir je widerfahren sei? Hätte ich unaufrichtig nach dem Mitleid heischen sollen, das Opfern angedeiht, die wahrhaft für den Rest ihres Lebens gezeichnet sind? Hätte ich den Täter namentlich nennen und posthume Schande über ihn bringen sollen?

Nein, nein und nein. Denn das hätte eine Herabsetzung und Beleidigung jener Menschen bedeutet, deren Leben tatsächlich in Trümmern liegen, etwa wegen wiederholtem Missbrauch durch den eigenen Vater oder eine andere Person, die für sie wichtig war. Dies zu tun hätte diese verständlicherweise entrüstete Antwort provoziert: „Wie können Sie es wagen, so viel Aufhebens um eine Widerwärtigkeit zu machen, die bloß eine halbe Minute dauerte, ein einziges Mal vorkam und wo der Täter nicht der eigene Vater war, sondern ein Lehrer, der in Ihrem Leben keinen besonderen Stellenwert hatte. Hören Sie auf, das Opfer zu spielen. Beenden Sie den Versuch, jenen die Show stehlen zu wollen, die wahre Opfer ihrer tragischen Situation wurden. Schlagen Sie nicht blinden Alarm aufgrund Ihrer eigenen unangenehmen Episode, weil es jene unterminiert, deren Erlebnisse um so viel ärger waren – und sind.“

Aus diesem Grund habe ich meine eigene schlechte Erfahrung heruntergespielt. Pädophile Angriffe generell zu entschuldigen oder die entsetzlichen Erlebnisse anderer auf die leichte Schulter zu nehmen war nie meine Absicht.

Ich hätte gehofft, all dies sei offensichtlich. Doch vielleicht war mein letzter Satz des oben zitierten Absatzes anmaßend. Ich weiß nicht mit Sicherheit, ob die Erlebnisse meiner Freunde mit demselben Lehrer ebenso kurz dauerten wie bei mir, und ob sie im Gegensatz zu meinem wiederholt vorkamen. Daher schrieb ich nur: „Ich glaube nicht, dass er auch nur bei einem von uns einen bleibenden Schaden angerichtet hat“. Bei vielen Gelegenheiten sprachen wir untereinander darüber, insbesondere nach seinem Selbstmord, und stimmten faktisch darin überein, dass sein Tod durch Vergiften um einiges erschütternder war, als es seine sexuellen Streifzüge gewesen waren. Falls ich mich hier bezüglich einzelner irre; falls einer meiner Freunde wirklich noch lange nach diesen Vorfällen traumatisiert ist; falls sie womöglich häufig vorgekommen sind und schwerwiegender waren als das einmalige, unangenehme, jedoch kurzes Betasten, das ich erdulden musste, möchte ich mich entschuldigen.

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