Konstruktiver Empirismus

Eine wissenschaftstheoretische Schule

Konstruktiver Empirismus

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Der konstruktive Empirismus (auch: empiristischer Strukturalismus[1] ist eine wissenschaftstheoretische Schule, nach der die Naturwissenschaften  ausschließlich darauf abzielen, empirisch adäquate Theorien zu konstruieren.[2]

Dabei gilt: Eine Theorie heißt empirisch adäquat, genau dann, wenn „das, was sie über die beobachtbaren Dinge und Ereignisse in dieser Welt sagt, wahr ist."[3]

Bas van Fraassen, welcher den konstruktiven Empirismus in seinem berühmten Werk „The Scientific Image“ begründet hat, formuliert es selbst so:

„Science aims to give us theories which are empirically adequate; and acceptance of a theory involves as belief only that it is empirically adequate.“

- Bas van Fraassen: The Scientific Image (1980), S. 12

1. Einführung

Der Begriff „Konstruktiver Empirismus“ setzt sich zusammen aus:

1. Konstruktion: wissenschaftliche Theorien „entdecken“ keine letztendlichen Wahrheiten, sondern „konstruieren“ empirische Adäquatheit.

2. Empirismus: wissenschaftliche Theorien sind agnostisch gegenüber theoretischen Termen, sie handeln nur von beobachtbaren Entitäten.

Nach dem konstruktiven Empirismus will uns die Wissenschaft also keine wahren Geschichten über unbeobachtbare Entitäten wie Atome oder Gene erzählen. Vielmehr zielt sie darauf ab, nur den erfahrbaren Teil der Wirklichkeit angemessen zu beschreiben. Der konstruktive Empirismus wird insofern auch oft als Spielform des Antirealismus verstanden. Diese Einordnung ist aber nicht ganz korrekt.

Beispiel: Karl ist konstruktiver Empirist, d.h. wenn Karl eine Theorie T akzeptiert, dann muss er davon ausgehen, dass T empirisch adäquat ist. Karl kann gleichzeitig auch wissenschaftlicher Realist sein, d.h. davon ausgehen, dass T wahr ist. Dann besitzt Karl eine ontologische Überzeugung, die aus seiner Sicht über die Überzeugungen hinter der wissenschaftlichen Theorie T hinausgeht.

Trotzdem werde ich im Folgenden das „konstruktiv-empiristische Bild“ mit dem realistischen, „klassischen Bild“ vergleichen und kontrastieren.

2. Argumente für den Konstruktiven Empirismus

2.1. empirische Adäquatheit und Wahrheit

Wenn ich sage, dass eine Theorie T empirisch adäquat ist, gehe ich über das Beobachtete hinaus. Ich sage dann etwas über das überhaupt Beobachtbare.

Wenn ich hingegen sage, dass eine Theorie T wahr ist, gehe ich sogar über das Beobachtbare hinaus, insofern T auch Aussagen über Nicht-Beobachtbares trifft.

Das erste Argument für den konstruktiven Empirismus lautet also, dass der Glaube an die empirische Adäquatheit einer Theorie epistemisch weniger waghalsig ist als der Glaube an die metaphysische Wahrheit einer Theorie. Denn er trifft keine Aussagen über prinzipiell nicht-beobachtbare Dinge oder Ereignisse.

2.2. Theorie und Experiment

Nach dem klassischen Bild besteht das Hauptziel einer wissenschaftlichen Theorie darin, die fundamentale Struktur der Wirklichkeit widerzuspiegeln. Das Experiment ist dazu da, um festzustellen, ob Theorien in diesem Sinne wahr sind.

Nach dem konstruktiv-empiristischen Bild sind Theorien dazu da, um Experimente anzuleiten. Denn diese sind schwierig zu überblicken und zu planen.

Beispiel: Van Fraasen führt das berühmte Experiment von Robert Millikan an. Nach dem klassischen Bild hat Millikan damit die Elementarladung von Elektronen gemessen. Nach dem konstruktiv-empiristischen Bild hat er hingegen nur eine Regelmäßigkeit im beobachtbaren Teil der Welt festgestellt und diese in einem Wert für eine Größe angegeben, die nun zukünftige Experimente anleiten soll.[4]

Das zweite Argument lautet nun, dass dieses konstruktiv-empiristische Bild den Zweck von Theorien und Experimenten besser erfasst als das klassische Bild.

„Das Experimentieren ist die Fortsetzung der Theorienstruktion mit anderen Mitteln. Die Angemessenheit der Mittel ergibt sich aus der Tatsache, dass das Ziel die empirische Adäquatheit ist.“

- Bas van Fraassen: The Scientific Image (1980), S. 77

2.3. Theorienwahl

Wenn man vor der Wahl zwischen verschiedenen Theorien steht, spielen immer auch pragmatische Werte wie Einfachheit, Umfang oder Eleganz eine Rolle.

Nach dem klassischen Bild spiegeln unsere besten Theorien die Wirklichkeit wider. Es wäre aber absurd zu glauben, dass die Wirklichkeit eher einfach ist.[5]

Nach dem konstruktiv-empiristischen Bild sollten unsere besten Theorien empirisch adäquat sein. Werte wie Einfachheit können bei dieser Aufgabe helfen.

Das dritte Argument lautet nun, dass nur das konstruktiv-empiristische Bild die Verwendung von pragmatischen Werten bei der Theoriewahl erklären kann.

2.4. Inflationäre Metaphysik

Nach dem klassischen Bild referieren auch theoretische Terme auf reale Entitäten. D.h. Naturgesetze, natürliche Arten und Elektronen existieren an sich.

Nach dem konstruktiv-empiristischen Bild referieren nur unsere Beobachtungsbegriffe auf reale Entitäten. Es gibt also nur Regelmäßigkeiten, Tiere und Striche in Nebelkammern.

Das vierte Argument lautet nun, dass nur das konstruktiv-empiristische Bild eine inflationäre Metaphysik vermeiden kann. Und genau dies sollte nach Van Fraasen das Ziel eines Empiristen und Wissenschaftlers sein.

3. Argumente gegen den konstruktiven Empirismus

3.1. Wunderargument

Nach dem konstruktiv-empiristischen Bild referieren theoretische Terme nicht zwangsläufig auf reale Entitäten. D.h. Realismus wird nicht vorausgesetzt.

Das Wunderargument besagt, dass der wissenschaftliche Realismus „die einzige Philosophie ist, die den Erfolg der Wissenschaften nicht zum Wunder macht.“[6]

Replik: Bas van Fraassen erwidert mit einer evolutionären Analogie:

„I claim that the success of current scientific theories is no miracle. It is not even surprising to the scientific (Darwinist) mind. For any scientific theory is born into a life of fierce competition, a jungle red in tooth and claw. Only the successful theories survive—the ones which in fact latched on to actual regularities in nature.“

- Bas van Fraassen: The Scientific Image (1980), S. 40

3.2. Beobachtbares und Unbeobachtbares

Paul Churchland kritisiert, dass die vom konstruktiv-empiristischen Bild implizierte Unterscheidung zwischen beobachtbaren und unbeobachtbaren Objekten „nur sehr schwer prinzipiert werden kann und völlig unzureichend ist, um das große Gewicht zu tragen, das Bas van Fraassen darauf ausübt.“[7]

Replik: Bas van Fraassen erwidert, dass konstruktive Empiristen die besagte Unterscheidung nicht metaphysisch treffen, sondern nur behaupten, dass sie für die epistemische Haltung, die Wissenschaftler einnehmen, große Relevanz hat.[8]

Ian Hacking kritisiert: Angenommen, wir programmieren eine Maschine, die Gitter mit derselben Form, aber in unterschiedlichen Größen herstellt. Einige Gitter sind so klein, dass wir sie nicht beobachten können, durch ein Mikroskop sehen wir aber, dass sie dieselbe Form haben wie die anderen Gitter. Nach Hacking wäre es unvernünftig, Antirealist gegenüber den kleinen Gittern zu sein:

„I know that what I see through the microscope is veridical because we made the grid to be just that way. I know that the process of manufacture is reliable, because we can check the results with the microscope. Moreover we can check the results with any kind of microscope, using any of a dozen unrelated physical processes to produce an image. Can we entertain the possibility that, all the same, this is some gigantic coincidence?“

- Ian Hacking: Do we see through a Microscope? (1985), S. 146–147

Replik: Bas van Fraassen erwidert, dass konstruktive Empiristen bezweifeln würden, was Hacking implizit voraussetzt: Nämlich, dass wir wissen können, dass die mikroskopischen Gitter genauso konstituiert sind wie die mesoskopischen.[9]

3.3. Beobachtbares und Beobachtetes

Nach dem konstruktiv-empiristischen Bild soll Wissenschaft einerseits epistemisch und metaphysisch zurückhaltend sein. Anderseits soll Sie uns aber wahre Geschichten über beobachtbare, aber nicht beobachtete Dinge geben.[10]

Replik: Bas van Fraassen erwidert, dass konstruktive Empiristen sich der Rationalität der Wissenschaften verpflichtet sehen. Wenn die Wissenschat aber nur vom Beobachteten und nicht vom überhaupt Beobachtbaren handeln würde:

„[...] there would be no scientific reason for someone to do an experiment which would generate a phenomenon that had never been observed before. But one of the hallmarks of good scientists is that they perform experiments pushing beyond the limits of what has been observed so far.“

- Bradley Monton and Bas C. van Fraassen: Constructive Empiricism and Modal Nominalism (2003), S. 407

3.4. Beobachtbares und Mikroskope

Marc Alspector-Kelly kritisiert, dass nach dem konstruktiv-empiristischen Bild Dinge nicht beobachtbar sein sollen, über die uns Mikroskope aber auch nach konservativen Schätzungen zuverlässige Wahrnehmungserfahrungen geben.[11]

Replik: Martin Kusch erwidert, dass Beobachtung mit dem bloßen Auge nur eine Theorie (i.Wechselwirkung Auge-Dinge) und die Beobachtung durch ein Mikroskop eine zusätzliche Theorie (ii. Wechselwirkung Auge-Mikroskop) erfordert. Der konstruktive Empirist lehnt ii. ab, da er epistemische Bescheidenheit schätzt.[12]

3.5. Hermeneutischer Zirkel

Nach dem konstruktiv-empiristischen Bild ist das, was in einer Theorie als beobachtbar gilt, relativ zu dem, wer Beobachter ist. Gleichzeitig wird der Beobachter, und damit das, was beobachtbar ist, von der Theorie bestimmt.

a. Zirkularität: Was in einer Theorie beobachtbar ist, hängt vom Beobachter ab, und was ein Beobachter, d.h., was beobachtbar ist, hängt von der Theorie ab.

b. Relativität: Wenn empirische Adäquatheit von Beobachtbarkeit und Beobacht-barkeit vom Beobachter abhängt, wird das Ziel von Wissenschaft radikal relativ.

Replik: Bas van Fraassen gesteht ein, dass insb. a. ein ernstes Problem ist.[13]

Fußnoten

[1] Ioannis Votsis: The Epistemological Status of Scientific Theories: An Investigation of the Structural Realist Account (2004), S. 39

[2] Hinweis: Empirische Adäquatheit ist das Ziel der Wissenschaft, nicht unbedingt das der Wissenschaftler oder das der Mehrheit der Wissenschaftler (Van Fraassen 1980, 8)! Der konstruktive Empirismus ist demnach auch keine soziologische These über die Wissenschaftsgeschaftsgemeinde, die sich an der Erfahrung überprüfen lässt. Vielmehr ist er als eine philosophische Interpretation zu verstehen, die zu erklären versucht, wie ein Empiriker die Tätigkeit der Wissenschaft als im Einklang mit den eigenen Maßstäben betrachten kann (van Fraassen 1994, 188-192).

[3] Bas van Fraassen: The Agnostic Subtly Probabilified (1998). In: Analysis, 58(3), S. 213-214

[4] Bas van Fraassen: The Scientific Image (1980) In: Oxford University Press, S. 73f.

[5] ebd., S. 90

[6] Hilary Putnam: Mathematics, Matter and Method (1975). In Cambridge University Press, S. 73

[7] Paul Churchland: The Ontological Status of Observables (1985). In: Praise of the Superempirical Virtues, S. 40

[8] Bas van Fraassen: Empiricism in the Philosophy of Science (1985). In; Churchland and Hooker, S. 258

[9] ebd., S. 298

[10] siehe u.a. Marc Alspector-Kelly: Seeing the Unobservable: Van Fraassen and the Limits of Experience (2004). In: Synthese, 140, S. 331–353.

[11] ebd.

[12] Martin Kusch: Microscopes and the TheoryLadenness of Experience in Bas van Fraassen’s Recent Work. In: Journal for General Philosophy of Science, 46, S. 167–182.

[13] Bradley Monton und Bas C. van Fraassen: Constructive Empiricism and Modal Nominalism (2003). In: British Journal for the Philosophy of Science, 54: 405–422.

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