Ist all der Fortschritt, den wir seit der wissenschaftlichen Revolution im Verstehen der Welt und uns selbst gemacht haben, durch eine Flut Posts und Tweets in den sozialen Medien ausgelöscht worden?
Im Jahr 2005 war das Wort des Jahres der amerikanischen Dialekt-Gesellschaft „Wahrheitlichkeit“, das von Stephen Colbert in seiner Satire-Nachrichtensendung The Colbert Report, bekannt gemacht worden war. Es bedeutet so viel wie „die Wahrheit, die von der wir wollen, dass sie existiert“. 2016 nominierten die Oxford Wörterbücher „Post-Truth“ als ihr Wort des Jahres, was sie als „Umstände, in denen objektive Fakten weniger einflussreich sind, die öffentliche Meinung zu beeinflussen als Emotionen und persönliche Überzeugungen“ charakterisierte. Im Jahr 2017 erhöhte sich die Nutzung des Begriffs „Fake News“ um 365 Prozent, womit es den Spitzenplatz der „Wort des Jahres Shortlist“ des Collins English Dictionary einnahmen, das es als „Verbreitung falscher, oft sensationsgierige Informationen, die sich als Nachrichten tarnen“ definiert.
Leben wir in einer postfaktischen Welt der Wahrheitlichkeit, voll von falschen Nachrichten und alternativen Fakten? Ist all der Fortschritt, den wir seit der wissenschaftlichen Revolution im Verstehen der Welt und uns selbst gemacht haben, durch eine Flut Posts und Tweets in den sozialen Medien ausgelöscht worden? Wie der Psychologe Steven Pinker von der Universität Harvard in seinem glänzenden neuen Buch „Enlightenment Now: The Case for Reason, Science, Humanism, and Progress“ beobachtet, sind „Verlogenheit, Abstufungen der Wahrheit, Verschwörungstheorien, außergewöhnliche populäre Wahnvorstellungen und der Wahnsinn der Massen ist so alt wie unsere Spezies, aber auch die Überzeugung, dass einige Ideen richtig sind und andere falsch sind.“
Selbst als Experten das Ende der Wahrhaftigkeit verkündeten und die Politiker sich mit der Wahrheit herumschlugen, kam der umkämpfte Markt der Ideen mit einem neuen Werkzeug des Internetzeitalters daher: Echtzeit-Faktenprüfung. Als Spin-Doktoren die Realität in Reden verdrehten, prüften die Faktenchecker von Snopes.com, FactCheck.org und OpenSecrets.org sie auf ihre Wahrheit, wobei PolitiFact.com scherzhaft Urteile wie Wahr, Eher wahr, Halbwahr, Eher Falsch, Falsch, und (Liar Liar) Pants on Fire“ (englischer Kinderreim) fällt. Die politische Faktenprüfung wurde sogar zu Clickbait („Klickköder“, Zweitplatzierter für das Wort des Jahres 2014 des Oxford Dictionary), wie die Herausgeberin von PolitiFacts, Angie Drobnic Holan, in einem Artikel aus dem Jahr 2015 erklärte: „Journalisten erzählen mir regelmäßig, dass ihre Medienorganisationen bei ihrer Berichterstattung die Faktenchecks hervorheben. weil viele Leute nach einer Debatte oder einem hochrangigen Nachrichtenereignis Faktenchecks anklicken.“
Nennen sie es „Faktenkeit“
Weit davon entfernt zurückzurudern, merkt Pinker an, dass die heutige Praxis des Faktencheckens, „in früheren Jahrzehnten sehr hilfreich gewesen wäre, als falsche Gerüchte häufig zu Pogromen, Ausschreitungen, Lynchmorden und Kriegen (inklusive des Spanisch-Amerikanischen Krieges von 1898, der Eskalation des Vietnamkrieges 1964, des Irakkriegs 2003 und vieler anderer) führten.“
Und er sagt, dass ganz im Gegensatz zu unseren mittelalterlichen Vorfahren, „heute nur noch wenige einflussreiche Personen an Werwölfe, Einhörner, Hexen, Alchemie, Astrologie, Blutvergießen, Miasmen, Tieropfer, das göttliche Recht der Könige oder übernatürliche Omen in Regenbögen und Sonnenfinsternissen glauben.“
Wir nennen unsere Epoche das Zeitalter der Wissenschaft und aus einem vernünftigen Grund: der Vernunft selbst. Sie ist in den vergangenen Jahrzehnten unter Feuer geraten ist, von Kongnitionspsychologen und Verhaltensökonomen, die behaupten, dass Menschen von Natur aus irrational sind und von Postmodernisten, die betonen, dass die Vernunft eine hegemoniale Waffe der patriarchalen Unterdrückung ist. Papperlapapp! Nennen sie es „Faktenkeit“, die Qualität von etwas, das faktisch scheint, es aber nicht ist. All diese Erklärungen widerlegen sich selbst, insofern als „wenn die Menschen unfähig wären, vernünftig zu sein, hätten sie niemals die Art und Weise entdeckt, in der wir irrational sind, weil wir keinen Maßstab für Rationalität hätten, nachdem wir menschliche Urteile abwägen können“, erklärt Pinker. „Das menschliche Gehirn ist unter den richtigen Umständen zu Vernunft befähigt; das Problem besteht darin, diese Umstände zu erkennen und sie stärker zu betonen.“
Trotz des Backfire-Effekts, bei dem Menschen umso fester an ihren Überzeugungen festhalten, wenn sie mit gegenteiligen Tatsachen konfrontiert werden, um kognitive Dissonanz zu reduzieren, kann ein „affektiver Wendepunkt“ erreicht werden, wenn die Gegenbeweise überwältigend sind. Besonders, wenn die gegenteilige Überzeugung von anderen „Stammesmitgliedern“ akzeptiert wird. Dieser Prozess wird unterstützt durch „Debiasing“-Programme, in denen Menschen die zahlreichen kognitiven Verzerrungen nahegebracht werden, die unsere Spezies heimsuchen, wie der Bestätigungsfehler, die Verfügbarkeitsheuristik und die vielen Arten, nicht zu argumentieren: Appelle an Autorität, Zirkelschlüsse, ad hominem und besonders ad Hitlerum. Es ist von grundlegender Bedeutung, die Schüler zu lehren, sich kritisch mit Themen auseinanderzusetzen, indem sie alle Seiten diskutieren und debattieren, insbesondere die eigene und die andere Position zu artikulieren und zu fragen: „Was würde Sie dazu bringen, Ihre Meinung zu ändern?“ Dies ist ein effektives Denkwerkzeug des Philosophen Peter Boghossian von der Portland State University.
„Wie lange es auch dauert“, folgert Pinker, „wir dürfen nicht zulassen, dass kognitive und emotionale Vorurteile oder Krämpfe der Irrationalität in der politischen Arena, uns von dem aufklärerischen Ideal abbringen, unerbittlich nach Vernunft und Wahrheit zu streben.“ Und das ist ein Tatsache.
Übersetzung: Lukas Mihr und Jörg Elbe
Kommentare
Neuer Kommentar