„Mein Gott, mein Gott, warum hast du die Kirche verlassen?“

Kommentar zu den Austrittszahlen der Kirchen im Jahr 2020

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du die Kirche verlassen?“

Foto: Pixabay.com / MichaelGaida

Es wirkt irgendwie bizarr, wenn Kirchen und Medien die aktuellen Austrittszahlen der beiden großen christlichen Konfessionen nahezu erleichtert kommentieren: Ja, tatsächlich hat sich die Zahl derjenigen Gläubigen, die 2020 ihre geistliche Heimat verlassen haben, im Vergleich zu den Vorjahreszeiträumen ein wenig relativiert – doch der massive Trend des Mitgliederschwundes hat sich dadurch keineswegs abgeschwächt. Als wesentliche Gründe werden vor allem die Kirchensteuerlast genannt, die viele Schäfchen nicht mehr berappen wollen – aber auch eine „inhaltliche Distanz“ zu den Lehren und Praktiken der Kirche. Schlussendlich darf man davon ausgehen, dass unter diesem Oberbegriff auch der Schock über die immer neuen Verdachtsfälle von sexuellem Missbrauch von minderjährigen Personen in der Kirche zusammengefasst ist, der vielen Zweiflern an der Institution „den Rest gegeben hat“ und sie letztlich dazu brachte, endgültig einen Schlussstrich unter ihre Zugehörigkeit zu ihrer Religionsgemeinschaft zu ziehen.

In den vielen Berichten über die angebliche Abflachung der Kurve bei den Austrittszahlen bleibt weitgehend unerwähnt, dass im vergangenen Jahr an manchen Orten erhebliche Wartezeiten in den Gerichten und Standesämtern entstanden, nachdem sie die Nachfrage nach Kirchenaustritten nicht mehr bewältigt werden konnten. Das betrifft – nicht ohne Grund – vor allem das Bistum in Köln, wodurch klar wird, dass es regional massive Unterschiede in den Befunden gibt. Gleichermaßen zeigt sich nämlich auch, dass viele Menschen durch die Schließung der Behörden aufgrund von Corona-Verordnungen vielerorts gar nicht die Gelegenheit hatten, ihre Mitgliedschaft in der Kirche beenden zu können. Scheinheilig wirken da die Aussagen, wonach schon eine Stagnation bei den Austritten prognostiziert wird. Wunschdenken scheint hier der Vater des Gedankens, doch ich bin sicher, dass die Gläubigen dem teils selbstüberheblichem Auftreten des Klerus diesen Gefallen wohl nicht tun werden.

Denn es wäre auch zweifelsfrei zu kurz gegriffen, würde man allein die schändlichen Taten von Priestern dafür verantwortlich machen, dass immer mehr Menschen der Kirche den Rücken kehren. Denn im offenbar weniger von sexuellen Vorfällen an Kindern betroffenen Protestantismus verlassen die Anhänger ihre Landeskirchen ebenfalls in Scharen und geben dafür meist ganz andere Motivationen an. Das Märchen, vor allem der Griff in den Geldbeutel bewege sie zum Austritt, verdeckt die weitaus komplexeren Beweggründe, mit denen man sich in den Leitungsebenen der christlichen Konfessionen ungern beschäftigt. Natürlich sind es auch die Dogmatik und Glaubenssätze über die Sexualmoral, die einer Anpassung in die gegenwartsnahe Wirklichkeit bedarf und durch eine kontextbezogene Auslegung der Schrift dringend reformbedürftig wird. Der Umgang mit Homosexuellen, Geschiedenen und nicht zölibatär wirkenden Geistlichen ist ebenso wie die andauernde Herabwürdigung der Frau nicht allein ein Ausdruck von Ausgrenzung, Missachtung und Diskriminierung, sondern schon längst nicht mehr mit den Geboten der Bibel vereinbar.

Stärker auf Mission setzen?

Die Empfehlung aus evangelikalen Kreisen dieser Tage, wonach man auch in Deutschland wieder stärker auf Mission setzen müsse, um Gläubige zu halten – und ungläubig Gewordene wieder zurückzuholen, teile ich nicht. Denn meine Erfahrungen in dieser Hinsicht bremsen die Unterstützung für solch ein Vorhaben erheblich. Denn wir brauchen keine Überredungskunst, mit der wir lediglich auf Verheißung, Durchhaltevermögen und Prophetie bei den Menschen setzen – sondern Überzeugungskraft, die auf einer ehrlichen, realitätspraktischen und lebensechten Verkündigung der christlichen Botschaft fußt und zu einer authentischen Nachfolge von Jesu im Hier und Jetzt ermutigt. Dazu gehört eine kritische Exegese, die nicht nur leere Versprechungen mit Blick auf die Ewigkeit macht. Stattdessen wünschen sich die Zweifelnden Antworten auf drängende Fragen der Zeit, wie das Theodizée-Problem – und klare, umsetzbare Handlungsanweisungen für ihren Alltag, die mit geistlicher Nahrung zu unterfüttert sind.

Es wäre meiner Ansicht nach ein Trugschluss, den verschiedenen Vorschlägen einer zeitgeistigen Liturgie und Predigt hinterherzulaufen, die auf eine neumodische Ansprache der Gläubigen setzt und mit Gottesdienstformen von sich reden machen möchte, welche flippig und in leichter Sprache daherkommen. Ich bin mir sicher, dass die Mehrheit der Kirchenanhänger und Kirchenfernen nicht wollen, dass Gotteshäuser zu Discos umfunktioniert werden – und dass sonntags bei geistlichem Hip-Hop tanzend und die Hände empor reißend der Allmächtige angebetet wird. Es geht nicht um die Modernisierung der Form, sondern um eine Emanzipierung der Inhalte. Dafür ist es keinesfalls notwendig, einer bibeltreuen Interpretation der Heiligen Schrift zu entsagen. Doch es ist nach meiner festen Überzeugung die Aufgabe von verantwortungsvoller Theologie, Gleichnisse und Bilder aus den Worten Gottes innerhalb von dynamischen Rahmenbedingungen derart zu übersetzen, dass die Menschen die Botschaft unmittelbar ins Dasein einbringen können.

Zusammenfassend scheint es müßig, sich weiterhin an der Oberfläche des Problems aufzuhalten. Denn die Schäfchen haben schon seit langem bemerkt, wo der Hase wirklich im Pfeffer liegt. Da braucht es keine Ablenkungsmanöver und Nebelkerzen, die die Aufmerksamkeit auf die temporären Skandale richten und damit die fundamentale Krise der Kirche erklären sollen. Solange sie ein autokratisches, besserwisserisches und diktierendes Identitätsverständnis praktiziert, wird ihre Glaubwürdigkeit und Akzeptanz auch weiterhin abnehmen. Da ist es egal, wie viele Bischöfe zurücktreten – oder ob 10 Euro mehr in der Steuererklärung abgezogen werden. In einer Dekade der Diversität von Weltanschauungsangeboten und „Patchwork“-Religionen muss die Institution einerseits zwar auf Konservativismus, andererseits aber auch auf Veränderungsbereitschaft setzen. Dass das kein Widerspruch ist, zeigt sich an unterschiedlichen Umfragen unter den Mitgliedern. Niemand verlangt, dass das Christentum seine Seele verkauft – denn viele biblische Allegorien sind aktueller denn je. Stattdessen sind es die menschgemachten Doktrinen der Kirche, die mit einer humanistisch-aufgeklärten Philosophie des figurativen Christen nicht mehr übereinstimmen. Und so sich Zwei entfremden, freut sich möglicherweise der Dritte: Der Atheismus boomt, doch dieser Anschein ist zerbrechlich.

Kommentare

  1. userpic
    matthias freyberg

    Der Artikel ist verwirrend – realistische Einschätzungen wechseln sich mit regelrechten Merkwürdigkeiten ab. Das beginnt schon mit der Überschrift. Aller Wahrscheinlichkeit gibt es keinen Gott und dass er sich ausgerechnet mit der christlichen Kirche solidarisiert haben sollte ist noch viel unwahrscheinlicher. Gute Gründe die Kirche zu verlassen hätte der imaginäre Gott jedenfalls in der Vergangenheit im Überfluss gehabt.

    Recht hat der Autor wenn er feststellt, dass die Kirchenaustritte sicher nicht nur an der mangelnden Überzeugungskraft und den Verfehlungen des Bodenpersonals liegen. Die im Christentum enthaltenen Erzählungen und Interpretationen zur Welt und zum Menschen sind widerlegt, widersprüchlich und ihre Grundannahmen teilweise von archaischer Struktur! Sie überzeugen zu Recht nicht mehr, auch wenn sie verwoben sind mit menschlichen Bedürfnissen, Hoffnungen und Alltagsbeobachtungen, die auch heute gelten und wie sie sich auch in anderen Religionen finden.

    Eine besondere logische Volte liegt in der Aussage, dass bestimmte Ansichten „schon längst nicht mehr mit den Geboten der Bibel vereinbar“ seien. Die Bibel muss halt Recht behalten - mehr Bias bzw. kognitive Dissonanz geht kaum. Abschied von etwas Überholtem ist angezeigt und Neuanfang - da helfen auch keine kunstvollen, kontextbezogenen Interpretationen. Die Formulierung hinsichtlich der „Emanzipierung der Inhalte“ ist schlicht blasphemisch.

    Der Autor verwirft leere Versprechungen auf die Ewigkeit, verlangt eine kritische Exegese und klare Handlungsanweisungen. Da wäre er letztlich wohl bei den säkularen Humanisten am Besten aufgehoben. Denn mehr als kritische Selbstprüfung, Wissenschaft (incl. der 'humanities'), konstruktiver Dialog und Verantwortungsethik stehen uns nicht zur Verfügung.

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