Missbrauch des Widerstands

Eine Verharmlosung des Nationalsozialismus

Missbrauch des Widerstands

Foto: Pixabay.com / niekverlaan

Vor 77 Jahren, am 20. Juli 1944, haben Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Mitstreiter versucht, Hitler mit einem Bombenattentat zu töten und das NS-Regime zu stürzen. Die Widerstandskämpfer scheiterten und wurden hingerichtet. Heute wollen sich querdenkende Menschen den Status eines Widerstandkämpfers anheften. Eine grässliche und beschämende Verharmlosung des Nationalsozialismus.

Wir erinnern uns: Im November letzten Jahres bevölkerten an Wochenenden Tausende von Querdenkern die Innenstädte des Landes. Es waren Leute zu sehen, die sich Judensterne an ihre modischen Anoraks hefteten, auf denen „Ungeimpft“ oder „Jesund“ stand. Dauerempörte „Kämpfer der Freiheit“ beanspruchten, Opfer zu sein. Sie fühlten sich vom Staat reglementiert und verfolgt. Dabei hatten sie mit keinerlei staatlicher Repression zu rechnen. Sie entblödeten sich nicht, sich als die wahren Erben, als Kämpfer der Freiheit gegen „Diktatur und Faschismus“ auszugeben. Sie skandieren „Nie wieder! und „Wehret den Anfängen!“. So zog die bunte Querfront-Polonaise, vollends von jeder Rationalität befreit, unter den Rufen von „Wir sind frei, Corona ist vorbei!“ durch die Zentren der Städte. Volksfeste des kollektiven Wahns.

In Hannover verglich sich eine junge Frau auf einem „Widerstands-Festival“ in Hannover mit der von den Nazis ermordeten Sophie Scholl. „Ich fühle mich wie Sophie Scholl, da ich seit Monaten hier aktiv im Widerstand bin“, verkündet sie unter dem Beifall der Querdenker-Gemeinde.  Das war sogar der New York Times einen Beitrag wert. Im Artikel hieß es, die Rede der jungen Frau Rede sei das „jüngste Beispiel“ von Anti-Corona-Demonstranten und Verschwörungs-Erzählern, die ihren Protest mit der Unterdrückung und Ermordung der Juden durch die Nazis gleichsetzten. Man fühlte sich in Zeiten zurückversetzt, als sich der nazi-kontaminierte Hitler-Durchschnittsdeutsche gerne selbst als Nazi-Gegner und Widerstands-Kämpfer eingestuft sehen wollte. Nun wollten allerlei querdenkende Menschen sich selbst den Status eines Widerstandkämpfers anheften. Eine bizarre Wahrnehmung der Wirklichkeit. Auf grässliche und beschämende Weise wird der Nationalsozialismus verharmlost.

Kalkulierte Tabu-Brüche und gezielte Provokationen

Bei einer Veranstaltung erinnerte Bundesarbeitsminister Hubert Heil in der Gedenkstätte Berlin-Plötzensee an den Widerstand vom 20. Juli. Vor 77 Jahren, am 20. Juli 1944, hatte der Wehrmachtoffizier Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Mitstreiter versucht, Hitler mit einem Bombenattentat zu töten und das NS-Regime zu stürzen. Die Widerstandskämpfer scheiterten und wurden hingerichtet. Der SPD-Politiker hatte eine wichtige Botschaft: „Der Missbrauch des Widerstands gehört längst zum geschmack- und geschichtslosen Narrativ eines bestimmten politischen Milieus in Deutschland“.

Nicht allein verschwörungs-bewegte Querdenker sind damit gemeint. Spätestens seit dem Einzug in Landesparlamente und den Bundestag hat das Rechts-Milieu eine parlamentarische Bühne und ein öffentlichkeitswirksames Podium, auf der kalkulierte Tabu-Brüche und gezielte Provokationen, etwa Björn Höckes Gerede von einer „erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad“ oder Alexanders Gaulands „Vogelschiss“-Verharmlosung der Nazi-Diktatur, regelmäßig und absichtsvoll erfolgen. Die Verwendung des Begriffes „Widerstand“ gehört dabei zum rhetorischen Arsenal: gegen die „Merkel-Diktatur“, gegen die „Lügenpresse“, gegen die „Alt-Parteien“.

Was geht da vor, wenn sich Ewig-Gestrige und Verblödet-Heutige, beide frei von jeglicher historischer Bildung, als Demokratie-Retter und Widerstands-Kämpfer aufspielen? Historische Demenz, Ignoranz oder böse Absicht? Wohl eine trübe Melange aus allem. Wir sollten den Missbrauch des Widerstand-Begriffs nicht zulassen. Nicht bei geschichtslosen Vergleichen im Zusammenhang mit dem Widerstand gegen die Nazi-Diktatur, er verbietet sich, aktuell!, auch wenn es etwa um die mutigen Bürger in Belarus, in Hongkong, in Venezuela oder anderswo geht, die gegen Menschenrechtsverletzung, Wahlfälschung und Korruption, trotz Polizeiterror und drohender Verhaftung unter Einsatz ihres Lebens auf die Straße gehen.

Helmut Ortner, Jahrgang 1950, hat bislang mehr als zwanzig Bücher, überwiegend politische Sachbücher und Biografien veröffentlicht, u.a. Der Hinrichter - Roland Freisler, Mörder im Dienste Hitlers, Der einsame Attentäter - Georg Elser und Fremde Feinde - Der Justizfall Sacco & Vanzetti, sowie Ohne Gnade und EXIT - Warum wir weniger Religion brauchen – Eine Abrechnung (Paperback).

Seine Bücher wurden bislang in 14 Sprachen übersetzt. Helmut Ortner ist Mitglied bei Amnesty International und im Beirat der Giordano-Bruno-Stiftung.

Sein neues Buch Widerstreit – Über Macht, Wahn und Widerstand“ erschien im Mai 2021.

Am 3. November 2021 stellt Helmut Ortner sein Buch als Gast der Richard Dawkins Foundation in Bremen vor.

 

Kommentare

  1. userpic
    Jörg Jaskolka

    Sehr geehrter Herr Ortner,
    es ist ein sehr rühmlicher Lebensweg, den Sie beschritten haben. Leider ist Ihr Artikel zum Missbrauch des Widerstandes nur mit einem Auge betrachten. Sicher sind dort in der sogenannten Widerstandsbewegung dreiste Zeitgenossen unterwegs, aber Sie pauschalieren ohne sich den Anstoß deren Denken zu betrachten. Mit Leichtigkeit lässt sich auf Massenmeinung segeln. Eine permanente Suggestion (Mausfeld) kann auch kluge Menschen zu „schweigenden Lämmern“ machen. Und die Drogenverteilung ist noch lange nicht vorbei. So wie durch Sie geschehen, kann jeder Widerstand gegen eine Demokratieverdiktatur pauschal diskreditiert werden. Warten wir es ab......... nach Allem..... , die Wissenschaft wird sich nicht vollständig kaufen lassen!

    Antworten

    1. userpic
      matthias freyberg

      Herr Ortner bemüht sich um Differenzierung und bezieht klar Stellung. Das hilft.
      Der "permanenten Suggestion" von allen möglichen Seiten - unter zunehmender Professionalisierung - entgeht niemand. Um so dringender der Ruf nach Verantwortungsethik und den Werten der Aufklärung.

      Antworten

      1. userpic
        Christian

        Das Querdenken steht einer Entwicklung im Bereich der Wissenschaften entgegen. Nur Aufklärung kann unsere Gesellschaft zu neuen Erkenntnissen bringen. So auch wird das Wirken gegen Faschismus immer notwendig sein.

        In Österreich gibt es zu diesem Zweck auch den Simon-Wiesenthal Preis. Ein Geldbetrag und Preis für jene, die sich in persönlichem Engagement gegen Antisemitismus verdient gemacht haben.

        Antworten

        Neuer Kommentar

        (Mögliche Formatierungen**dies** für fett; _dies_ für kursiv und [dies](http://de.richarddawkins.net) für einen Link)

        Ich möchte bei Antworten zu meinen Kommentaren benachrichtigt werden.

        * Eingabe erforderlich