Moral und Historizismus im Zeitalter der Postmoderne

Fortschritt ist Schwinden des Bösen

Moral und Historizismus im Zeitalter der Postmoderne

Foto: Pixabay.com / edgarwinkler

Nachdem die dominanten oder sagen wir besser lautesten Teile der Sozialwissenschaften in der Postmoderne den Dekonstruktivismus zur alleingültigen Maxime erhoben haben, ist es an der Zeit für eine Bestandsaufnahme. Grundsätzlich ist nichts Schlechtes daran, dass die Geisteswissenschaften im speziellen und die Gesellschaft im Allgemeinen tradierte, althergebrachte Wertvorstellungen und Gesellschaftsbilder hinterfragen. Niemand sollte in einem maroden und baufälligen Haus wohnen, das nicht mehr den gegenwärtigen Anforderungen gerecht wird. Aber mit dem Abriss des Hauses ist es eben nicht getan, denn dann findet man sich ohne Dach über dem Kopf wieder. Aus den abgebauten Bauteilen muss eine neue Unterkunft geschaffen werden, bestenfalls auf dem Fundament des alten Gebäudes.

Aber diesen Schritt scheinen die Dekonstruktivisten nicht gehen zu wollen oder nicht gehen zu können. Nicht gehen zu wollen, da es bequemer ist brachial die Abrissbirne zu schwingen als bedacht Stein auf Stein zu setzen. Nicht gehen zu können, da sie in ihrem unbedachten Vorgehen die Steine zerstört haben aus denen das neue Zuhause entstehen muss.

Der Sozialkonstruktivismus trägt zwar den Konstruktivismus im Namen, ist aber in seinem Kern eine dekonstruktivistische Idee: In einer Weltsicht, in der alles ein soziales Konstrukt ist, alle Wertvorstellungen nur das Ergebnis kultureller und sozialer Prägung sind, kann es keinen objektiven Maßstab für Moral mehr geben. Die Moral selbst wird dekonstruiert und so finden sich die Vertreter dieser Demontage auch in auf das Subjekt relativistischen Theorien wie dem Kulturrelativismus wieder. Warum sollten die Menschenrechte, die ja nur ein Konstrukt der westlichen Prägung wären, einen, wenn auch nicht objektiven so doch zumindest allgemeingültigen Charakter besitzen? Eigentlich ist aber auch jedem vernünftigen Menschen klar, dass eine Kultur, die Homosexuelle von Häusern werfen lässt oder an Kränen aufknüpft, keineswegs erstrebenswert ist. Doch wie lässt sich das abseits meiner subjektiven, westlich geprägten Moralvorstellungen begründen? Ist die Idee der „moralisch-kulturellen Entwicklungsstufen“ haltbar?

Die zentrale Frage der Menschheit

Es ist eine der zentralen Fragen, die ich mir im Laufe meines Lebens immer wieder gestellt habe: Entwickelt sich die Menschheit wirklich weiter?

Die diametralen Lösungsansätze dieser Frage sind:

1. Die Menschheit kaschiert die Menschen ihre (moralischen)Unzulänglichkeiten nur besser und/oder mir als Gefangene des Zeitgeistes fallen diese Verfehlungen nicht auf oder

2. Die Menschheit entwickelt sich tatsächlich weiter und die Menschenrechte sind universal und die gegenwärtig höchste Stufe der Moralentwicklung.

Warum ich denke, dass nur Antwort 2 richtig sein kann, werde ich im Folgenden erörtern, in dem ich die folgenden Ansichten prüfe:

1. Meinen Glauben an die Universalität der Menschenrechte.

2. Meinen Glauben an den moralischen Fortschritt der Menschheit, der sich in Martin Luther Kings Zitat „The Arch Of History bends towards Justice“ wohl am besten widerspiegelt.

Die Menschenrechte, die ich als Grundlage meines Wertesystems annehme, sind eine recht junge Entwicklung. Daraus schließe ich, dass es vorwärts, aufwärts geht mit den Werten der Menschheit. Das dogmatische i.d.R. religiöse Moralsystem, dessen fatale Auswirkungen wir in religiös-fundamentalistischen Staaten noch immer beobachten können, hat die Menschheit weitgehend hinter sich gelassen.

Die Grundaussage der Erklärung der Menschenrechte, dass jeder Mensch mit den gleichen Rechten geboren wird, ist mehr als eine bloße Zeiterscheinung. Um dies zu begründen ist ein Exkurs in die Philosophie unerlässlich, genauer gesagt in die kontraktualistische Theorie von John Rawls. Kontraktualismus, Vertragstheorie ist ein Gedankenexperiment in dem in einem theoretisch angenommenen Urzustand die Menschen in einem Gesellschaftsvertrag die Ordnung der Gesellschaft festlegen. Die klassische Vertragstheorie entstand zur Zeit der Aufklärung im 17. Jahrhundert. Ihre einflussreichsten Vertreter waren Thomas Hobbes, John Locke und Jean-Jacques Rousseau.

Bei Hobbes ist der Naturzustand ein rechtsfreier Raum und so unerträglich, dass alle sich wünschen, ihn aufzulösen, denn das Leben gleicht einem Kinderhemd: Es ist kurz und beschissen. Die Unterordnung unter eine (staatliche) Rechtsordnung nach der die Gesellschaftsmitglieder geordnet zusammenleben, stellt sich als kleineres Übel dar. Dadurch wird postuliert, dass diejenigen, die sich im Naturzustand befinden, durch einen Vertrag freiwillig in den geordneten Gesellschaftszustand übergehen. Dies führt zu seiner aus heutiger Sicht höchst fragwürdigen Theorie des Leviathan, eines Herrschers der in sich die Wünsche der Gesellschaftsmitglieder vereint.

Theorie der Gerechtigkeit

John Rawls greift im 20. Jahrhundert auf dieses Gedankenexperiment zurück, erweitert sie um einen wichtigen Bestandteil, den Schleier des Nichtwissens (veil of ignorance), der den Zustand der Menschen in einer fiktiven Entscheidungssituation bezeichnet, in der sie zwar über die zukünftige Gesellschaftsordnung entscheiden können, aber selbst nicht wissen, an welcher Stelle dieser Ordnung sie sich später befinden werden, also unter einem „Schleier des Nichtwissens“ stehen. Rawls geht davon aus, dass in diesem „Urzustand“ (fälschlicherweise oft als Naturzustand gedeutet) alle Menschen völlig gleich sind und deswegen keine aufeinander oder gegeneinander gerichteten Interessen haben. Ebenso werden sie aus demselben Grund ihre Entscheidung über die Gerechtigkeitsprinzipien nicht verfälschen können und sich so für einen gerechten Gesellschaftsvertrag entscheiden.

Diese völlige Gleichheit erreicht Rawls, indem er die folgenden Faktoren des Menschen und des menschlichen Lebens als für Gerechtigkeit nicht relevant behandelt:

- geistige, physische und soziale Eigenschaften wie Hautfarbe, Ethnie, Geschlecht, Religionszugehörigkeit

- Stellung innerhalb der Gesellschaft, sozialer Status und materieller Besitz

- geistige und physische Fähigkeiten wie Intelligenz, Kraft

- besondere psychologische Neigungen wie Risikofreude, Optimismus

- Vorstellung vom Guten, Details des eigenen Lebensentwurfs

- Einrichtung der Gesellschaft etwa ökonomischer und politischer Art

- Niveau der Gesellschaft zum Beispiel hinsichtlich Zivilisationsfortschritt und Kultur

- Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation

Ein Beispiel: Aus einem rein utilitaristischen Ansatz (das größtmögliche Glück für die größtmögliche Anzahl von Menschen) lässt sich beispielsweise keine moralische Begründung für Behindertenparkplätze ableiten. Es gibt mehr Menschen, die in ihrer persönlichen Freiheit zu parken wo sie wollen eingeschränkt werden, als Menschen, denen sie nutzen.

Aus dieser abstrakten Gleichheit folgt die Unparteilichkeit der Menschen, aufgrund derer sie aus einer Reihe von möglichen Gerechtigkeitsprinzipien die Rawlsschen wählen sollten. Darin ist nun keine logische Beziehung zu sehen; es handelt sich um eine in der normativen Gerechtigkeitstheorie argumentativ dargelegte Behauptung.

Und das Ergebnis dieses Vertrags wäre meiner Einschätzung nach eben immer etwas, was der Deklaration der Menschenrechte sehr ähnlich wäre. Ergo: Menschenrechte sind universalistisch begründbar.

Bleibt die Frage, ob sich die Menschheit in diese Richtung entwickelt. Als Maßstab muss hier zwangsläufig die Geschichte der Menschheit gelten.

Ich glaube, die Entwicklung der Menschheit ist eine in ihrem Zentrum nach oben steigende Sinuskurve. Ja, es gibt harte Rückschläge, Atavismen wie das Dritte Reich, Sowjetunion oder das kommunistische China – das 20. Jahrhundert ist voll davon. Aber die Idee der Menschenrechte hat sich dann letztendlich doch durchgesetzt bzw. sie ist zumindest nicht verschwunden. Da es sich um eine vergleichsweise junge Theorie handelt, kann man meiner Meinung nach den Entwicklungszustand einer Gesellschaft anhand seiner Annäherung an eine im Einklang mit den Menschenrechten stehende Gesellschaftsordnung bewerten. Fortschritt ist Schwinden des Bösen.

Das Böse

Was ist denn das Böse? Was empfindet jeder Mensch unabhängig der kulturellen Prägung, apriorisch im Sinne Kants bzw. unter dem Schleier des Nichtwissens im Sinne Rawls als böse? Schmerz, Gewalt, Willkür.

Hier kann man einwenden das in vielen Kulturen Hinrichtungen, Folter usw. fester, sogar institutionalisierter Bestandteil der Gesellschaftsordnung waren. Menschenopfer, Hinrichtungen, sogar Genozide. Aber, damit sich Menschen dies gegenseitig antun, braucht es eine sehr starke Indoktrination, in der Regel eine Entmenschlichung der „Anderen“. Eine derartige Moralvorstellung kann also nicht wahrhaftig sein.

Also, was tun? Wie kann man diesem „Bösen“ beikommen? Das Böse ist letztendlich eine Mangelerscheinung. Mangel an Gütern zur Befriedung der physiologischen, sozialen, individuellen Grundbeürfnisse. Mangel lässt sich, zumindest theoretisch, beheben. Doch was ist der Schlüssel zur Behebung dieses Mangels? Technologie.

Wir vergessen, wie lange es schon Menschen gibt und dass über die längste Zeit keinerlei Aufzeichnungen bestehen: 300.000 Jahre. Die frühen Menschen haben von der Nutzung des Feuers bis es selbst entfachen zu können alleine 10.000 Jahre gebraucht. Zwischen dem ersten Flugzeug und der Mondlandung vergingen keine 100 Jahre.

Technologie ist ein fortlaufender Prozess – wenn nicht gerade die Bibliothek von Alexandria abgefackelt wird.

Es sind noch keine hundert Jahre vergangen seit der letzten Hungersnot in Europa. Die letzte in Irland, welche die starke Migration der Iren in die USA zur Folge hatte.

Aber die Erfindung des Kunstdüngers und der großflächige Einsatz in den 20ern führte zum Verschwinden des Hungers in Europa, abgesehen natürlich von den menschengemachten Katastrophen der Weltkriege. Der Hunger ist zwar noch nicht weltweit, aber ein wichtiger Schritt in die Beseitigung dieses Mangels, den die Menschheit in ihrer 300.000 Jahre während Geschichte hatte ist vollbracht. Eigentlich unvorstellbar. Und diese Entwicklung findet in dem Teil der Erde, der eben auch die fortschrittlichsten Gesetze hat.

Und hier schließt sich der Kreis zu den Eingangsfragen:

Ja, die Menschheit entwickelt sich moralisch weiter.

Ja, die Menschenrechte sind das was einem natürlichen, apriorischen Gesetz am nächsten kommt.

Ob die Menschenrechte sich allerdings durchsetzen – das hängt von sehr vielen Faktoren ab. Nicht ohne Grund erschaffen Menschen wohl so viele Dystopien. Es kann einfach verdammt viel schief gehen.

Der Artikel erschien zuerst im Blog von Aischa Schluter.

Hier geht's zum Originalartikel...

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