RDF Talk - Interview mit Gad Saad

Gad Saad ist ein kanadischer Wissenschaftler, der sich mit evolutionärer Verhaltens- und Konsumforschung beschäftigt. Er arbeitet an der Concordia University in Montreal und ist Inhaber des Lehrstuhls für „Evolutionary Behavioral Sciences and Darwinian Consumption“.

RDF Talk - Interview mit Gad Saad

Er ist Autor mehrerer Bücher über Konsumverhalten. Zudem betreibt er einen Youtube Kanal, eine Facebook Seite und einen Blog über Psychologie (Links am Ende des Interviews).

Zunächst vielen Dank für die Gelegenheit dieses Interview mit Ihnen führen zu können. Fangen wir mit ein paar Fragen zu Ihrem Lebenslauf an. Sie wurden in Beirut in eine jüdische Familie geboren. Wie hat Ihre jüdische Identität Sie geformt und wie wurden Sie Atheist?

Es begann als ich 5 oder 6 Jahre alt war und die Synagoge im Libanon besuchte. Und üblicherweise fragte ich meinen Vater: „Warum müssen wir dieses oder jenes tun? Warum müssen wir jetzt aufstehen? Warum müssen wir uns jetzt hinsetzen?“ Und ich erhielt als Antwort nur ein abfälliges: „Tu es einfach! Befolge einfach die Regeln!“ Vielleicht begann sich mein intellektueller Verstand damals schon zu entwickeln und  mir gefielen diese Antworten einfach nicht. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, etwas einfach nur zu tun, weil jemand anderer wollte, dass ich es tat. Und so wurde ich schon in jungen Jahren misstrauisch gegenüber Religionen.

Als ich den Bürgerkrieg im Libanon miterlebt habe, sah ich das ganze Ausmaß des religiösen Hasses. Besonders den Hass gegen Juden. Wir mussten den Libanon verlassen, anderenfalls wäre es uns nicht gut ergangen. So habe ich mich schon sehr früh in meinem Leben auf eine irdische Weise als sehr jüdisch empfunden. Auf dieselbe Weise, auf die man auch Bayern München oder Borussia Dortmund liebt - auf eine sehr irdische Weise. Dies sind reale Anknüpfungspunkte, anhand derer wir uns als Mitglieder einer Gemeinschaft definieren und uns von der jeweils anderen Gruppe abgrenzen. So gesehen bin ich sehr jüdisch. Ich bin Teil einer Abstammungslinie einer langen Geschichte und eines Volkes. Aber von den religiösen Elementen des Judentums habe ich mich schon früh im Leben abgewandt. Es ist eine kulturelle Identität. Natürlich muss man vom Prinzip her als Jude bestimmte religiöse Narrative glauben. Aber wie Sie vielleicht wissen, waren die berühmtesten Juden der Geschichte alle sehr jüdisch und dennoch sehr atheistisch. Dies verwirrt viele Menschen, weil sie nicht begreifen, dass das Judentum eine äußert facettenreiche Identität ist. Und nur eine dieser Facetten besteht aus dem Befolgen religiöser Vorschriften. Ich esse gern Schweinefleisch - und das macht mich nicht weniger jüdisch. Aber dennoch bleibt es ein kulturelles Tabu, Schweinefleisch zu essen. Und in diesem Sinne gehöre ich einerseits zu dieser Gruppe, obwohl ich andererseits ihre religiösen Grundsätze ablehne.

Sie nehmen sich also die guten Seiten und lassen die Schlechten beiseite.

Genau. Ich bekenne mich zu Einstein, aber lasse das Deuteronomium links liegen.

Sie haben den Libanon erwähnt, wo Sie geboren wurden. Was waren Ihre Erfahrungen im Libanon?

Ich war 11, als der libanesische Bürgerkrieg [im Jahr 1975] ausbrach. Meine Familie floh damals nach Montreal. Ich habe etwa ein Jahr des Krieges miterlebt. Aber ich habe genug Gewalt, Hass und Massaker gesehen, um mehrere Leben damit auszufüllen. Aber davor hatte ich eine glückliche Kindheit im Libanon. Das Land war schön, ich spielte die ganze Zeit Fußball oder ging zum Strand. Uns war immer bewusst, dass wir „anders“ waren, weil wir Juden waren. Uns wurde beigebracht, unsere Identität eher zurückzuhalten. Es war zwar kein Geheimnis, dass wir Juden waren, man konnte uns ja beim Gottesdienst in der Synagoge sehen, aber es war nichts, was wir im „toleranten, progressiven“ Libanon öffentlich vor uns hertrugen. Wir trugen keine Ketten mit Davidstern. Das ist die Bedeutung des Begriffs „Toleranz“ im Nahen Osten. „Wir tolerieren deine Existenz solange, bis wir uns dazu entscheiden, dich nicht mehr zu tolerieren.“ Auf meine glückliche Kindheit folgte mit dem Kriegsausbruch eine ausgesprochen unglückliche Kindheit.

Sie wanderten dann 1975 im Alter von 11 Jahren aus. Was waren Ihre ersten Erfahrungen in einem säkularen und demokratischen Land wie Kanada?

Ich habe als 11-jährige Junge natürlich noch nicht verstanden, was ein säkularer Staat ist. Was ich aber sehr wohl verstanden habe, war, dass ich nicht mehr auf Heckenschützen achten musste, die mich erschießen würden. Und ich musste nicht an jeder Straßenecke meinen Ausweis vorzeigen, der mich als Jude ausgewiesen hätte, was mein Todesurteil gewesen wäre. Ich musste auch nicht mehr auf das Pfeifen der Granaten achten. Ich konnte - und jeder Libanese konnte das! - am Geräusch abschätzen, ob ich in Deckung gehen musste oder nicht, weil das Geschoss entweder mein Haus treffen oder mehrere hundert Meter entfernt einschlagen würde. Als ich nach Kanada kam, waren meine Sorgen nicht mehr Bomben, sondern Schnee. Das war eine große Erleichterung. Keine Angst mehr zu haben, ob man selbst oder Familienmitglieder getötet würden.

Ich erinnere mich noch an meinen ersten Schultag in Kanada, als ich in die 5. Klasse kam. Ich konnte damals noch kein Englisch. Ich sprach nur Arabisch, meine Muttersprache, einige Brocken Hebräisch und Französisch. Als der Lehrer mich vorstellte und ich sagen sollte, wo ich herkam, konnte ich nur so tun, als ob ich ein Maschinengewehr mit meinen Händen abfeuerte, um zu beschreiben, wie es im Libanon aussah.

Aber Kinder passen sich sehr schnell an. Schon nach einem Monat ging ich auf meine erste Hausparty, wo wir eng umschlungen im Keller tanzten. Und schon bald war ich Kanadier. Der Libanon war Teil meiner Vergangenheit und nun war ich in meiner neuen Heimat. Wenn ich damals 40 gewesen wäre - wie meine Eltern zu der Zeit - wäre es sehr viel schwieriger gewesen. Meine Eltern reisten immer wieder in den Libanon.

Sie haben über Ihre Ausbildung gesprochen. Wann begann ihr Interesse an der Psychologie?

Ich hatte immer ein Interesse an den Verhaltenswissenschaften. Eine Weile lang überlegte ich, ob ich Klinische Psychologie oder Psychiatrie studieren sollte. Aber ich dachte, dass einige der theoretischen Modelle in der klinischen Branche nicht besonders gut wissenschaftlich fundiert waren. Du konntest ein Anhänger Freuds, Jungs oder von sonst jemanden sein. Dahinter steckten auch nur ideologische Gurus. Meinen Bachelor habe ich in Mathematik und Informatik gemacht und zusätzlich einen Abschluss als Master of Business Administration erhalten - was ebenfalls stark quantitativ ausgerichtet war. Ursprünglich wollte ich mathematische Modelle des Konsumverhaltens erstellen. Dann traf ich auf meinen späteren Doktorvater J. Edward Russo. Er ist ein bekannter mathematischer Kognitionspsychologe und er schlug mir während meines ersten Semesters an der Cornell University vor, Psychologiekurse zu besuchen. Mein technisch-mathematischer Hintergrund und mein Interesse an Verhaltenswissenschaften waren für ihn ein interessanter Mix. Ich nahm an einem weiterführenden Sozialpsychologiekurs teil und meine Karrierelaufbahn änderte sich grundlegend. Ich wurde von einem eher mathematisch ausgerichteten Mann zu einem Psychologen. Der Teil mit der evolutionären Psychologie geschah ebenfalls eher zufällig. Während meines ersten Semesters in Cornell empfahl mir Professor Dennis Regan im Rahmen eines sozial-psychologischen Kurses, das Buch „Homicide“ [Mord] von zwei kanadischen Evolutionspsychologen, Martin Daly und Margo Wilson. Die beiden hatten evolutionäre Psychologie angewandt, um Kriminalität zu untersuchen. Es gibt bestimmte Arten von Verbrechen, die auf genau die gleiche Art und aus genau den gleichen Gründen geschehen, ungeachtet der Kultur, in der jemand aufgewachsen ist, und egal welche Zeitperiode man betrachtet. Als ich die ungeheure Erklärungskraft der evolutionären Psychologie für menschliches Verhalten erkannte, kam mir der Gedanke, die Disziplin des evolutionären Konsumverhaltens zu begründen. Wie so oft im Leben ergaben sich diese Entscheidungen rein zufällig.

Können Sie uns etwas genauer erklären, was Konsumpsychologie ist?

Konsumpsychologie ist ein sehr weites Feld, das im Grunde die Modelle der Psychologie speziell auf den Konsumenten anwendet. Man kann beispielsweise Theorien über Motivation studieren und ähnliche Modelle kann man auf Konsumverhalten anwenden. Was sind die Dinge, die Konsumenten motivieren? Man kann beispielsweise Wahrnehmungstheorie auf Konsumverhalten anwenden. Wie beeinflussen unsere Sinneswahrnehmungen, wie wir auf Werbung reagieren?

In meiner Arbeit definiere ich den Begriff „Konsum“ so weit, dass fast alles darunter fällt. Es geht nicht nur um den Konsum von Coca Cola, Kaffee oder das Tragen von Jeans, wir konsumieren genauso Religion, Freundschaften, Ehen usw. Es geht also insgesamt um menschliches Verhalten. Ich habe gewissermaßen Konsum, Psychologie und Biologie miteinander verheiratet.

Die nächste Frage erscheint vermutlich zu einfach gehalten. Sind Sie politisch rechts oder links?

Diese Frage wurde mir schon oft gestellt - sowohl öffentlich, wie auch privat. Und ich werde mich nicht um eine Antwort drücken, sondern ehrlich antworten. Ich verachte solche Etiketten, weil es viele Positionen gibt, die mich eher links verorten würden, während es andere Positionen gibt, die eher rechts sind. Ich bin ein Mann der Ideen. Ich weiß gar nicht, ob meine Positionen in ihrer Gänze mich eher zu einem Linken oder einem Rechten machen. Ich bin eher ein klassischer Libertärer. Ich will Ihnen einige Beispiele für meine linken bzw. rechten Positionen geben. Geht es um die Homoehe, bin ich ein Linker. Es stört mich nicht, wenn Schwule heiraten, ich unterstütze das. Ich denke, Frauen haben ein Recht darauf, sich für eine Abtreibung zu entscheiden. Auch dort bin ich links. Andererseits bin ich ein Befürworter der Todesstrafe. Ich denke, dass es gewisse Verbrechen gibt, die so schlimm sind, zum Beispiel die Vergewaltigung und die Ermordung von zehn Kindern, dass ich bei denen, wenn sie zweifelsfrei nachgewiesen sind (z.B. durch DNA-Tests), kein moralisches Problem damit habe, jemanden zu töten. Man könnte genauso argumentieren, dass es grausamer ist, jemanden für den Rest seines Lebens in ein 2x3 Meter Gefängnis zu stecken. Dort stimme ich eher mit konservativen bzw. rechten Anschauungen überein. Wenn ich mir all meine Positionen anschaue, denke ich, dass ich wahrer Liberaler bin. Ein wahrer Liberaler glaubt an die individuellen Freiheitsrechte. Das tun die kanadischen Liberalen allerdings nicht. Ihnen geht es nur um Identitätspolitik  und Minderheiteninteressen, um das Kollektiv, statt um das Individuum. In diesem Sinne bin ich hingegen kein Liberaler. Ich bin ein wahrer Liberaler.

Das führt zu der nächsten Frage. Was ist so regressiv an den Linken?

Es geht darum, dass all diese progressiven Positionen in Wirklichkeit eben nicht progressiv sind. Wenn man glaubt, dass Individuen Rechte haben, wie kann man dann Frauen nicht beistehen, die im gesamten Nahen Osten unterdrückt werden? Wie kann man nur schweigen, wenn es um weibliche Genitalverstümmelung geht? Wie kann man still bleiben, wenn es um Kinderehen oder Ehrenmorde geht? In diesem Fall liegt es daran, dass die Linke - jedenfalls der Teil, den ich regressive Linke nenne - eine Hierarchie der Positionen hat. Und das schlimmste, was man als Regressiver tun kann, ist jemanden zu attackieren, der zu den „anderen", zu den braunen Menschen gehört. Wenn es darum geht, Frauen zu verteidigen oder den Islam zu attackieren, dann werden sie schweigen, weil es angeblich rassistisch und bigott ist. In diesem Sinne sind sie tatsächlich regressiv, weil ihnen individuelle Rechte nicht wichtig sind. Wie kann man nur für Schwulenrechte sein, in San Francisco marschieren und dann völlig still sein, angesichts der Lage von Schwulen im Nahen Osten? Das ist regressiv und nicht liberal. Das Problem der Linken ist, dass sie einen riesigen blinden Fleck haben, wenn es um gewisse Dinge geht, die eine bestimmte beschützenswerte Gruppe von Leuten betreffen, die sogenannten braunen Menschen. Und das ist falsch. Wie müssen in der Lage sein, offen zu sprechen, wann immer es einen Missstand gibt. Und deswegen ist Sam Harris, der von den Regressiven attackiert wird, ein wahrer Liberaler. Weil er sich nicht darum schert, was deine Hautfarbe ist, wo du herkommst, oder was deine Religion ist. Er glaubt an die Menschenwürde und Freiheitsrechte.

Haben Sie eigene Erfahrungen mit der Gedanken-Polizei an den Universitäten gemacht?

Nur indirekt. Es gab niemanden aus der Verwaltung oder eine Studenteninitiative, die meinte, dass ich bestimmte Dinge nicht sagen dürfte. In dieser Hinsicht hatte ich Glück. Aber ich weiß, dass viele meiner Kollegen mich als ausgesprochenen offenen Akademiker, der oft politisch inkorrekte Positionen vertritt, unangenehm finden. Sie wollen eben Teil der Herde sein, sie wollen politisch korrekt sein, sie wollen nichts sagen, was jemanden beleidigen könnte. Und wenn dieser jemand auf einmal vorbeikommt und ehrlich sagt, dass es ein Problem gibt, dann fühlen sich diese Leute von meinem Diskurs gestört. Einige, viele von ihnen haben mir privat geschrieben und sagen, dass sie mich respektieren und dass ich ein Held bin, aber sie trauen sich nicht, dies öffentlich zu sagen oder meine Facebook Posts zu liken. Denn dann könnte ja jemand denken, dass sie politisch inkorrekt sind. In dieser Hinsicht habe ich die Gedankenpolizei kennengelernt. Es gab nie eine direkte Attacke, aber ich weiß, dass sie da ist.

Die Schere im Kopf. Wenn jeder frei sprechen würde, wäre es besser. So aber entsteht ein Klima der Angst. Und wer definiert überhaupt, was „beleidigend“ ist und was nicht?

Genau. Selbstzensur ist die gefährlichste Form der Zensur. Weil dich nicht jemand von außen abschaltet. Weil man dir beigebracht hat, was man sagen darf und was nicht. Wenn ich Teil des Clubs bleiben will, dann halte ich besser die Klappe. Und so bin ich einfach nicht. Mein Charakter ist so, dass ich offen und ehrlich rede. Wenn meine Ideen nicht gut sind, dann sollen sie überprüft und von besseren Ideen geschlagen werden. Aber jemanden zum Schweigen zu bringen, weil er politisch inkorrekt ist, ist für mich der Höhepunkt intellektueller Unredlichkeit. Wenn man ein wahrer Akademiker ist, ein wahrer Intellektueller des öffentlichen Lebens, gibt es einen Mechanismus, nach dem Ideen bewertet werden. Präsentiere sie, lass alle darüber debattieren und die Idee gewinnt oder verliert. Aber ich halte nicht die Klappe, weil Person A oder B meint, dass es politisch inkorrekt ist.

Richard Dawkins wurde Anfang des Jahres wegen eines Tweets von einer Konferenz ausgeladen, ohne dass mit ihm zuvor über die Angelegenheit gesprochen wurde.

Das ist einfach unglaublich. Ayaan Hirsi Ali sollte eine Rede an der Brandeis University halten. Die Brandeis University ist eine jüdische Universität mit langer jüdischer Geschichte. Louis Brandeis selbst war jemand, der liberale Ideen wie Meinungsfreiheit vertrat. Viele der Professoren an der Brandeis University, die Bollwerke für die Freiheit und der Gedankenfreiheit sein sollten, waren diejenigen, die bei ihrer Ausladung an vorderster Front beteiligt waren. Wenn jemand wie Ayaan Hirsi Ali, die einen islamischen Hintergrund hat, die Somali ist, die schwarz ist, die eine Frau ist, die ein Opfer weiblicher Genitalverstümmelung ist, die gezwungen wurde, jemanden zu heiraten, den sie nicht liebt, die nicht die Freiheit über ihre eigene Fortpflanzung hatte, wenn diese Person, eine persona non grata an der Brandeis University ist, dann ist der moralische Kompass kaputt.

Es geht doch nicht darum, jemand zu beleidigen. Es geht darum eine Meinung auszudrücken und dann diskutiert man darüber.

Es hängt davon ab, was deine oberste Zielsetzung ist. Als öffentlicher Intellektueller, als Wissenschaftler, der jeden Morgen aufwacht und neugierig auf die Welt ist, ist es meine größte Verantwortung, zu versuchen, der Wahrheit entsprechend meinen Fähigkeiten möglichst nahe zu kommen. Das treibt mich an. Aber es gibt Leute, die der regressiven Linken angehören, bzw. der Vogel-Strauß-Brigade oder der Eunuchen-Brigade, deren Ziel es ist, mögliche Beleidigungen zu minimieren. Die Wahrheit sieht so aus: Manche Wahrheiten sind beleidigend. Wenn ich eine Religion während meines Strebens nach Wahrheit und Vernunft kritisiere, wird die Konsequenz sein, dass sich jemand beleidigt fühlt. Aber genau dafür haben wir die Meinungsfreiheit. Wir haben die Meinungsfreiheit nicht, damit wir sagen können: „Oh mein Gott, du hast so wunderschöne grüne Augen.“ Wir haben die Meinungsfreiheit, damit wir sagen können: „Weißt du was? Ich denke, dass das Judentum ein Haufen Bullshit ist.“ Es sollte erlaubt sein, das zu sagen. Wenn es mich beleidigt - Pech gehabt! Und darum geht es bei dieser Auseinandersetzung. Was ist das bestimmende Ziel von Intellektuellen? Ist es das Diskutieren und Debattieren, verspotten und verhöhnen, Ideen zu verteidigen oder ist es das Ziel niemanden zu beleidigen?

Wenn man z. B. den Islam kritisiert, kritisiert man nicht die Muslime. Man kritisiert die Ideologie.

Das ist ein so trivialer Punkt, den wirklich jeder verstehen kann. Und es erstaunt mich immer wieder, wie viele Menschen es trotzdem nicht verstehen. Und nicht bloß dumme Menschen. Meine akademischen Kollegen verstehen es nicht. Gerade erst gestern hatte ich ein Gespräch mit jemandem, der meinte, dass es unfair ist, den Islam statt des Islamismus zu attackieren. Sein Schwiegervater ist Muslim, der fromm ist und betet und dennoch keine schlimme Dinge tut. Er vermischt das Individuum mit der Lehre. Einzelne Menschen, einzelne Muslime können sehr nett oder sehr böse sein - allein schon durch zufällige Genkombinationen. Es gibt schlechte und gute Juden. Schlechte und gute Atheisten. Schlechte und gute Muslime. Aber die Tatsache dass du ein säkularer Muslim bist, dass du tolerant und friedlich bist, sagt nichts über den Islam aus. Es sagt nur etwas über dich als anständiges und freundliches Individuum aus. Und das unterscheidet sich von der Lehre des Islam. Das Beispiel das ich dann immer verwende - es ist wirklich simpel - lautet: Ich esse Schweinefleisch. Ich bin jüdisch. Die Tatsache, dass ich Schweinefleisch esse, bedeutet nicht, dass das Judentum den Verzehr von Schweinefleisch erlaubt. Ich esse Schweinefleisch TROTZ meines Judentums. Das ist wirklich simpel. Und dennoch verwechseln die Leute immer einzelne Muslime mit der islamischen Lehre.

Man darf alles kritisieren, nur Religion nicht. Das ist die Ausnahme.

Aber wir wissen, dass in der pragmatischen Welt, in der wir leben, nicht alle Religionen gleichermaßen Kritik akzeptieren. Es gibt etwa 10.000 Religionen auf der Welt, vielleicht sogar 30.000, wenn wir alle christlichen Sekten mitzählen, aber nur bei einer muss man aufpassen, wenn man sie kritisiert. Und das ist inakzeptabel. Wenn man Teil der säkularen, liberalen, pluralistischen, toleranten Welt sein will, dann muss man sich von diesen bösartigen Reflexen verabschieden. Wenn eine Religion das nicht kann, dann ist sie in unserer Gesellschaft nicht willkommen.

Warum, denken Sie, unterstützt die regressive Linke den Islam, obwohl dieser gegen viele der liberalen Werte steht, wie die Gleichberechtigung von Frauen, Rechte von Homosexuellen, Meinungsfreiheit?

Es gibt mehrere Antworten auf diese komplexe Frage. Ich werden Ihnen mindestens zwei geben. Es gibt ein Buch des Historikers Jamie Glazov „United in Hate: The Left's Romance with Tyranny and Terror“, das beschreibt, warum Linke und Muslime zusammen ins Bett steigen. Der Hass auf den Westen vereint sie. Wenn man einen gemeinsamen Feind hat - der große Satan USA, Israel und die Juden sind der Satan, der böse Katholizismus - und die andere Ideologie dieses Feindbild teilt, dann kann man eine kurzfristige Vernunftehe eingehen und die Streitpunkte ausdiskutieren, nachdem man diesem gemeinsamen Feind getötet hat. Wenn der Westen jemals zerstört würde und es zum Streit zwischen Linken und Islam käme, dürfte es einfach sein zu erraten, wer diesen Kampf gewinnt. Aber die Idioten auf der linken Seite begreifen das nicht. Das ist die eine Antwort.

Der Feind meines Feindes ist mein Freund…

Ganz genau. Die andere Antwort hat mit der Hierarchie der Opfer zu tun. Man nennt das auch die Unterdrückungs-Olympiade oder Opfer-Poker. In diesem Narrativ ist die beste Trumpfkarte, die alle anderen Karten aussticht, wenn du muslimisch bist. Wenn man diese Karte ausspielt, spielen alle anderen Dinge keine Rolle mehr. „Ja, wir sind für Homo-Rechte, aber wenn die Muslime Schwule von Gebäuden stürzen, dann dürfen wir nichts sagen. Psst! Ja, wir sind für Frauenrechte, aber wenn die Klitoris in islamischen Ländern beschnitten wird, dann dürfen wir nichts sagen. Psst!“ Es ist letztlich eine Art Religion. Aber statt an einen Gott zu glauben, glaubt man an bestimmte Narrative.

Die Bigotterie der gesenkten Erwartungen…

Genau. Sie erwähnten den Tweet, den Richard Dawkins über einen meiner Videos veröffentlicht hat. Dort geht es um diesen Doppelstandard. Ich erwähnte dort die Heuchelei um gesenkte Erwartungen. In diesem Video, das Richard dankenswerterweise getwittert hat, beschrieb ich die folgende Situation: Ich erwähnte, dass ich alle Religionen gleichermaßen kritisiere. Ich habe auch einen Clip über einen orthodoxen Juden produziert, der auf einem Flug für Probleme sorgt. Oder ich rede über einen christlich-fundamentalistischen US-Senator, der die Evolutionstheorie leugnet. Und normalerweise sind die Leute erfreut, diese Religionskritik auf meiner Facebookseite zu sehen. Auch meine akademischen, progressiven Freunde. Einen Tag stellte ich - völlig unkommentiert - einen Clip online, in dem ein irakischer Astronom zu beweisen versuchte, dass die Erde flach ist. Er zitierte Koranpassagen, die behaupten, dass die Erde flach ist. Ich stellte das Video online, um den Wahnsinn der Religion zu illustrieren. Wie sie selbst gebildete Menschen dazu bringen, solchen Müll zu erzählen. Was glauben Sie, was passierte? Eine Evolutionsbiologin aus Kalifornien, fragte mich, wieso ich diese Menschen attackiere. Diese Wissenschaftlerin war also nicht beleidigt, dass ein anderer Wissenschaftler behauptete, dass die Erde flach sei. Sie war beleidigt, dass ich darauf hinwies. Und warum war sie beleidigt? Natürlich, weil dieser Mann Muslim ist. Und man darf keine muslimischen Wissenschaftler kritisieren, selbst wenn sie die idiotischsten Sachen sagen. Das ist ein Ausdruck der Bigotterie der gesenkten Erwartungen.

In Europa und speziell in Deutschland verzeichnen wir seit dem letzten Jahr eine Zuwanderung einer großen Zahl von Muslime. Wie werden dadurch Europa und Deutschland verändert?

Ich habe neulich in einem Videoclip gesagt, dass der Dalai Lama ein bigottes, rassistisches Nazi-Monster ist. Schließlich hatte er gesagt, dass die Flüchtlingskrise in Europa und vor allem in Deutschland außer Kontrolle geraten ist. Alles was er gesagt hat, unterscheidet sich nicht inhaltlich von dem was Donald Trump gesagt hat. Aber Trump ist offensichtlich ein Nazi, aber dem Dalai Lama lässt man es durchgehen. Meine Position ist klar und einfach: Personen wegen ihrer Hautfarbe zu diskriminieren, ist irrational und einer Zivilisation nicht würdig. Wenn man gegen das Geschlecht oder die sexuelle Orientierung einer Person diskriminiert, macht das ebenso wenig Sinn. Es gibt einige Formen des Hasses, die der Westen zum Glück langsam überwindet. Wenn es aber um Menschen geht, deren Werte den deinen komplett entgegengesetzt sind, dann muss man komplett hirnlos sein, um nicht zu erkennen, dass es ein Problem gibt. Niemand diskriminiert sogenannte braune Menschen. Ich bin ja selbst braun. Ich bin aus dem Libanon. Arabisch ist meine Muttersprache. Aber als meine Familie nach Montreal kam, wollte sie keinen Umsturz oder besondere Zuwendungen aufgrund unserer Kultur. Wir haben uns assimiliert. Wir waren stolze Kanadier. Das war's! Ich bin zuerst Kanadier und erst dann Jude. Denn Kanada akzeptierte mich. Es ist das Land das mich aufnahm, als ich kurz davor stand, ermordet zu werden. Viele der Migranten, die aus diesen Ländern kommen, sind freundliche, absolut normale Leute, die nichts Böses wollen. Das Problem ist: Man weiß nicht, wer dabei wer ist. Und viele von ihnen sind zwar keine IS-Mitglieder, aber ihre religiösen und kulturellen Werte stimmen nicht mit den liberalen, säkularen Werten des Westens überein. Wie entscheiden wir also wer gut oder schlecht ist? Und deswegen ist es falsch, die Türen für jeden zuzuschließen. Denn damit schließen wir auch gute Leute aus. Also sind Donald Trumps Forderungen nach einem Einreiseverbot für Muslime falsch. Aber die Schleusen weit aufzumachen ist ebenfalls falsch. Wenn man Leute zu einer Party einlädt, bestimmt die Größe des Hauses, ob man 10 oder 10.000 Personen einladen kann. Wenn man 10.000 Personen einlädt, wird das Haus leicht überfüllt sein und die Party wird nicht gut ausgehen. Also muss man dieser Situation mit gesundem Menschenverstand begegnen. Eine Million Menschen – völlig unabhängig von der Tatsache, dass sie Muslime sind - in Wellen einreisen zu lassen, macht keinen Sinn. Meine Meinung ist, dass Deutschland einen sehr hohen Preis für „Mutti“ Merkels Fehler zahlen wird.

In Kanada und den USA erfolgt eine kontrollierte Einwanderung…

Die Situation in Kanada ist bei weitem nicht so ernst wie in Deutschland. Aber unser neuer Premierminister oder wie ich ihn nenne, der Ober-Eunuch, Oberhaupt der Regressiven, Justin Trudeau, hat die Tore geöffnet. Zwar nicht so wie Merkel, aber er hat 25.000 Syrer ins Land gelassen und weitere werden folgen. Ich habe mit einigen der Flüchtlinge schon vor der aktuellen Flüchtlingswelle gesprochen. Es dauert 12 bis 18 Monate, eine einzelne Person zu überprüfen. Aber nun haben wir auf magische Weise 25.000 überprüft und können zweifelsfrei garantieren, dass sie alle wundervolle, liebe Menschen sind, die niemals Probleme verursachen. Man muss nicht Einstein sein, um zu sehen, dass man so die Zukunft von Menschen verspielt. Ich erzähle eine Geschichte aus einem meiner neuesten „Saad Truth“ Videos, in dem ich beschreibe, dass alle Kinder aus dem Kindergarten meines Sohnes nach Hause geschickt wurden, weil jemand eine Tasche unbeaufsichtigt gelassen hatte. Alle waren sehr besorgt. Das wäre vor 5 Jahren in Montreal undenkbar gewesen. Das erinnert mich an meine Kindheit im Libanon. Wenn wir an der Politik der offenen Türen festhalten, werden wir mehr solche Probleme bekommen. Leider sind viele Menschen, die zu uns kommen, wirklich nett und wundervoll, aber wir können nicht riskieren, die Tore zu öffnen, nur weil diese Menschen dann nicht zu uns kommen. Es muss eine kontrollierte Einwanderungspolitik geben.

Vielen Dank für das Interview.

Das Interview führte Jörg Elbe. Das Video im Youtube Kanal von Gad Saad.

Gad Saad Online:

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Concordia University

Hier geht's zum Originalartikel...

Kommentare

  1. userpic
    Gowron Tausendschlau

    Tolles Interview. Allerdings kann man manche Passage leicht missverstehen, wenn man Gad Saads Videoclips nicht kennt. Wenn er zum Beispiel sagt "Ich habe neulich in einem Videoclip gesagt, dass der Dalai Lama ein bigottes, rassistisches Nazi-Monster ist. Schließlich hatte er gesagt, dass die Flüchtlingskrise in Europa und vor allem in Deutschland außer Kontrolle geraten ist." dann meint er das natürlich sarkastisch. Er denkt nicht wirklich das der Dalai Lama soetwas sei. Gad Saad prangert vielmehr die Heuchelei und Doppelmaroal der Political Correctnes - Polizei an. Das geht in dem Clip wunderbar hervor. Hier in dem Text ist es nicht so klar. Aber trotzdem, Danke für das Interview. Ich bin ein großer Fan von Richard Dawkins und Gad Saad - v.a. auch weil sie ihre Religionskritik konsequenz auch auf den Islam anwenden.

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    1. userpic
      Uwe Lehnert

      Ich schließe mich der Einschätzung von Gowron Tausendschlau an. Es handelt sich um ein lesenswertes Interview mit einem Mann, der einen klaren liberalen, rationalen Standpunkt vertritt und der den Mut hat – ja man muss inzwischen Mut haben! – diesen auch offen zu vertreten. Auch wenn man weiß, dass man dabei oft in die Minderheit gerät, weil eine Mehrheit zu feige geworden ist, zu den grundlegenden Werten Meinungsfreiheit und Wahrheit zu stehen. Gut auch, dass er die missverständliche Äußerung des Dalai Lama zur Flüchtlingsproblematik als eine sarkastisch überhöhte, nicht wörtlich zu verstehende Ansicht erläutert.

      Sehr hilfreich zum Verständnis ist das, was Gad Saad zu den Gründen sagt, weshalb der führende Teil der Linken die Muslime, ihren polit-religiösen Anspruch und ihre politische Praxis entgegen ihren früher eingenommenen Positionen und entgegen aller politischen Vernunft verteidigt. Gad Saad empört sich zu Recht, dass die wohl begründete Kritik an dieser polit-religiösen Ideologie und ihrer weltweiten Praxis von diesen Linken verharmlost, verschwiegen, wenn nicht sogar verteidigt wird. Er nennt zwei Gründe für diese polit-intellektuelle Kumpanei: Erstens. Der gemeinsame Hass auf den Westen, insbesondere die USA und Israel. Zweitens: Die »Bigotterie der gesenkten Erwartungen«, die heuchlerisch unterschiedliche Maßstäbe anlegt, je nachdem, ob es sich um politische Freunde oder Gegner handelt.

      Ich möchte einen weiteren Grund anführen, der zur Erklärung der nur politisch, nicht sachlich-philosophisch nachvollziehbaren Haltung der Linken dienen kann. Sozialisten und Kommunisten sehen in den hier in großer Zahl sozial und ökonomisch scheiternden Muslimen ein interessantes Potential an Wählerstimmen und das künftige, ihnen derzeit abhanden gekommene Proletariat, das ihnen dereinst wieder zur Macht verhelfen könnte. Und unsere grünen Sozialromantiker sehnen sich immer noch nach der bunten multikulturellen, sich selbst formierenden Gesellschaft, ohne den damit einhergehenden Verlust an Aufklärung und Rationalität sehen zu wollen.

      Humanisten, eigentlich darin geübt, sich für Aufklärung, Demokratie und Menschenrechte einzusetzen, fürchten den Vorwurf der Inhumanität und Fremdenfeindlichkeit und schweigen in ihrer Mehrheit daher lieber zu den Problemen mit Menschen aus einer religiös dominierten und patriarchalisch geprägten Kultur. Diese Gemengelage aus Vorsicht, verdeckten Motiven, den wie selbstverständlich in Anspruch genommenen Freiheiten bis hin zur Gleichgültigkeit gegenüber den Gefahren, die den mühsam erkämpften Rechten in einer liberalen und demokratisch organisierten Gesellschaft drohen, wird wohl dazu führen, was Michel Houellebecq in seinem Roman »Unterwerfung« resignierend beschreibt. Man registriere nur mal, wie ablehnend bis verächtlich die gut begründeten Thesen z.B. von Hamed Abdel-Samad oder etwa Necla Kelek in unseren linksorientierten Medien behandelt werden.

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