Sie halten es für Mord

Warum sind sie so fanatisch?

Sie halten es für Mord

Foto: Maria Oswalt (Unsplash)

Ein beträchtlicher Teil der religiös-rechten Wähler interessiert sich nur für ein einziges Thema oder stimmt zumindest dafür: Abtreibung. Sie schluckten ihre Abneigung gegen Donald Trumps Heuchelei und (aus ihrer Sicht) ungeheuerliche Sündhaftigkeit hinunter und stimmten nur wegen einer Sache für ihn. Er versprach (und hat, wie wir jetzt wissen, leider geliefert) einen Supreme Court (Oberster Gerichtshof), der Roe gegen Wade aufheben würde.

Warum sind sie so fanatisch bei diesem einen Thema, das alle anderen in den Schatten stellt? Weil sie wirklich glauben, dass Abtreibung Mord ist. Sie setzen den Begriff „Embryo“ mit „Baby“ gleich. Abtreibung ist Babymord.

Versetzen Sie sich in die Lage von jemandem, der wirklich glaubt - tief und aufrichtig glaubt -, dass Abtreibung Mord ist. Sie würden die Anzahl der „getöteten Babys“ zählen und sie mit einem jährlichen Holocaust von abscheulichem Ausmaß vergleichen. Kein Wunder, dass sie vor Abtreibungskliniken schreien und gelegentlich sogar die Ärzte ermorden, die dort arbeiten. Würden wir nicht alle schreien, wenn wir glauben, was sie glauben?

Aber wie sollen wir reagieren, wir, die wir an der Spitze des fortschrittlichen, aufgeklärten Denkens marschieren? „Haltet eure Rosenkränze von meinen Eierstöcken fern.“ Der Körper einer Frau gehört nur ihr und geht niemanden sonst etwas an. „Mein Körper, meine Entscheidung.“

Natürlich kann ich diese Slogans nachempfinden. Aber können Sie sich vorstellen, wie hohl sie für jemanden klingen, der zutiefst und ehrlich davon überzeugt ist, dass ein Embryo ein Baby ist und Abtreibung Mord bedeutet? „Ja, Ihr Körper, der einer Frau, gehört Ihnen, aber in ihm steckt noch ein anderer Körper, ein menschliches Wesen mit den gleichen Rechten wie der Ihre.“ Können Sie sich vorstellen, dass die Standardargumente der Abtreibungsbefürworter bei jemandem, der einen Embryo nicht von einem Baby unterscheiden kann - also bei jemandem, der aufrichtig glaubt, dass das menschliche Leben mit der Empfängnis beginnt -, nicht greifen würden? Unsere Standardargumente würden bei solchen Menschen nicht nur versagen, sondern sie würden sie geradezu wütend machen.

Wir müssen unsere Argumente modifizieren, um die tief verwurzelten Überzeugungen unserer Gegner entschieden entgegenzutreten. Wir müssen ihnen ihren Irrglauben ausreden, ihre leidenschaftliche Überzeugung, dass die menschliche Persönlichkeit mit der Empfängnis beginnt und Abtreibung deshalb Mord ist.

Der Irrtum wird in der offiziellen römisch-katholischen Glaubenslehre mit dem Titel Donum Vitae mit fast kindlicher Naivität formuliert:

Mit der Befruchtung der Eizelle beginnt ein neues Leben, das weder das des Vaters noch das der Mutter ist; es ist vielmehr das Leben eines neuen menschlichen Wesens mit eigenem Wachstum. Es würde niemals zum Menschen werden, wenn es nicht schon ein Mensch wäre. Zu diesem immerwährenden Beweis [...] bringt die moderne genetische Wissenschaft eine wertvolle Bestätigung. Sie hat gezeigt, dass vom ersten Augenblick an feststeht, was dieses Lebewesen sein wird: ein Mensch, ein individueller Mensch mit seinen charakteristischen Aspekten, die bereits feststehen. Schon bei der Befruchtung beginnt das Abenteuer eines menschlichen Lebens. (1)

„Es würde niemals zum Menschen werden, wenn es nicht schon ein Mensch wäre.“ Ernsthaft? Bedeutet das, dass eine Eichel eine Eiche ist? Bedeutet das, dass der flüsternde embryonale Zephir draußen im Atlantik gleichbedeutend mit dem Hurrikan ist, der später eine Stadt in Florida platt macht? Eineiige Zwillinge trennen sich nach der Befruchtung. Welcher Zwilling ist am Ende im Besitz des einzigartigen neuen menschlichen Lebens? Welcher Zwilling ist der unmenschliche Zombie?

Aber empfindet ein abgetriebener Embryo Schmerzen? Das ist eine Frage, die wir nicht mit Sicherheit beantworten können. Aber wenn er Gefühle oder Erfahrungen hat, gibt es keinen Grund anzunehmen, dass seine Fähigkeit die eines embryonalen Schweins oder einer Kuh übersteigt (denen er in jeder relevanten Hinsicht sehr ähnlich ist). Und was auch immer ein Embryo fühlen mag oder nicht, es steht außer Zweifel, dass ein erwachsenes Schwein oder eine erwachsene Kuh eine weitaus größere Fähigkeit hat, Schmerz und Angst zu empfinden, wenn sie zur Schlachtbank geführt werden. Wer Fleisch isst und gleichzeitig die Abtreibung mit der Begründung ablehnt, dass der Embryo Schmerzen empfinden könnte, ist ein Heuchler - oder er hat es einfach nicht durchdacht. „Pro-Life“ bedeutet dann ausschließlich Pro-Menschliches-Leben.

Vielleicht treibt der „Pro-Lifer“ die Ausschließlichkeit des Menschen noch weiter. Selbst wenn der Embryo nicht mehr Fähigkeiten hat als ein Schweineembryo, so hat er doch das Potenzial, ein menschliches Wesen zu werden, das sehr viel mehr Fähigkeiten hat als ein Schwein. Indem Sie ihn abtreiben, berauben Sie einen zukünftigen Menschen eines erfüllten Lebens. Ihre Abtreibung beraubt einen denkenden, fühlenden und liebenden Menschen seiner Existenz. Welche Freuden hätte sie oder er in einem langen und erfüllten Leben erfahren können, wenn Sie nicht so herzlos gehandelt hätten? Töten Sie vielleicht einen Beethoven?

Dieses Argument trifft den Nagel auf den Kopf. Es ist schwer, sich die Spekulationen darüber zu verkneifen, was aus diesem beginnenden kleinen Leben hätte werden können. Aber stellen Sie sich einmal das potenzielle Leben vor, das Sie jedes Mal verhindern, wenn Sie auf den Geschlechtsverkehr verzichten. Aber das Argument des „nicht eingeschlagenen Weges“ gerät schnell außer Kontrolle. Allzu schnell sind wir bei Michael Palins „Jedes Sperma ist heilig“ angelangt. „Es ist deine moralische Pflicht, (ungeschützten) Sex mit mir zu haben, weil du sonst potenzielles menschliches Leben verweigerst.“

Hier ist ein weiterer Punkt, den wir anführen könnten, und dieser funktioniert nur, wenn - zugegebenermaßen ein ziemlich großes „wenn“ - unser hypothetischer Pro-Lifer die Wahrheit der Evolution akzeptiert. An welchem Punkt in der Evolution erreicht das menschliche Leben einen derartigen Grad an Heiligkeit, dass das Töten eines menschlichen Embryos, der einem kleinen Fisch ähnelt, unendlich viel schlimmer ist als das Töten eines echten Fisches? Wenn, rein hypothetisch, ein moderner Livingstone auf eine Reliktpopulation von Australopithecus, Ardipithecus oder Sahelanthropus stößt, sollten wir sie dann aus moralischen Gründen, wie wir sie in der Abtreibungsdebatte einsetzen, als unendlich wertvolles menschliches Leben behandeln? Wenn Sie menschliches Leben für unendlich wertvoll halten, „tierisches“ Leben aber nicht, wo im evolutionären Kontinuum würden Sie dann die Grenze ziehen?

Über diese schwierige Frage mache ich mir keine Sorgen, denn ich bin kein Freund davon, Grenzen zu ziehen - weder in der Evolution noch im parallelen Prozess der Embryonalentwicklung (die ebenfalls ein fließendes Kontinuum ist, in diesem Fall von der Zygote zum Baby und darüber hinaus). Es wird Sie auch nicht beunruhigen, wenn Sie - wie es bei einem dogmatischen „Pro-Lifer“ durchaus möglich ist - nicht an die Evolution glauben. Aber es muss doch einige vernünftige Evolutionisten geben, die auch gegen Abtreibung sind (sogar Christopher Hitchens hatte Bedenken), und dieses letzte Argument könnte ihnen zu denken geben.

Aber, um auf meinen Hauptpunkt zurückzukommen, unser beliebtestes Pro-Choice"-Argument - das absolute Recht der Frau, über ihren eigenen Körper zu bestimmen - wird bei den „Pro-Lifer“, die Abtreibung für Mord halten, kein Gehör finden. Wenn wir sie überzeugen wollen - und davon gibt es viele im Kongress und in anderen einflussreichen Positionen -, müssen wir unsere Argumente direkt auf ihre grundlegende Prämisse ausrichten: die unlogische oder zumindest zweifelhafte Prämisse, dass die Menschlichkeit mit der Empfängnis beginnt. „Mein Körper, meine Entscheidung“ ist für Sie und mich sehr überzeugend. Es wird die andere Seite kalt lassen, sogar unnötig feindselig. Und sie sind diejenigen, die wir überzeugen müssen.

Übersetzung: Jörg Elbe

Anmerkung

1. http://www.priestsforlife.org/magisterium/donumvitae.htm

Hier geht's zum Originalartikel...

Kommentare

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    Norbert Schönecker

    Es ist hoch erfreulich, dass es Richard Dawkins gelingt, die Position eines Abtreibungsgegners nachzuvollziehen.
    Er versteht, dass die Grundlage unseres Denkens nicht Frauenfeindlichkeit die ignorante Befolgung eines Gebots ist, sondern einfach die Annahme, dass das Mensch-Sein bereits mit der Empfängnis beginnt, mitsamt allen Konsequenzen, inklusive dem Recht auf Leben. Und Dawkins versteht ganz richtig, dass dadurch die gängigen "Mein Bauch gehört mir"-Argumente hinfällig werden.
    Das Problem besteht darin, dass es keine allgemeingültige Definition dafür gibt, was ein Mensch ist. Die Fragen, auf die jede seriöse Abtreibungsdiskussion hinausläuft, sind nach meinen (reichen) Erfahrungen:
    1) Was ist Leben?
    2) Was ist ein Lebewesen?
    3) Was ist ein Mensch?
    4) Woher bekommt ein Mensch seine Menschenrechte?
    5) Unter welchen Umständen darf man einen unschuldigen Menschen töten?
    Für die Fragen 3 bis 5 kenne ich keine allgemeingültige Antwort.
    Meine Position ist, ganz ohne religiös-dogmatische Grundlage: im Zweifelsfall darf man nicht das Risiko eingehen, einen Menschen zu töten.
    Außerdem neige ich immer mehr dazu, den Menschen nicht danach zu bewerten, was er kann. Früher habe ich gerne damit argumentiert, dass ein Embryo bereits sehr früh Herzschlag und Nervenknoten hat. Inzwische rücke ich davon ab. Ich bewerte ja auch erwachsene Menschen nicht danach, was sie können oder nicht können, wie viel sie wissen oder empfinden. Wichtiger ist es, ob ein Mensch ein Teil der Menschheitsfamilie ist.
    Aber, wie gesagt: es fehlt hier eindeutig ein allgemeiner Konsens, wer jetzt zu uns Menschen gehört. Das ist das Problem.
    Der obige Beitrag von Richard Dawkins kann immerhin dazu führen, der anderen Seite Gründe zuzusprechen, die nicht bösartig sind. Das ist jedenfalls ein Fortschritt.
    Noch schöner fände ich es, der anderen Seite auch Intelligenz zuzubilligen.

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      Anti- Christ

      Das ist ja wirklich eine Glanzleistung die von den Kirchen ausgeht!!
      Abtreibung ist Mord aber wehrlose Kinder misshandeln im ganz großen Stil!!
      Anschließend werden Täter gedeckt und die Opfer gedemütigt!!
      Gratulation an ALLE Kirchen dieser Welt, euch braucht kein Mensch!!!

      Gruß der Anti- Christ

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        Norbert Schönecker

        @Anti-Christ
        Sehen Sie, das ist der Unterschied zwischen dem obigen Beitrag von Richard Dawkins und Ihrem Kommentar: Dawkins versucht, die Gegenseite zu verstehen (ohne etwa die Meinung der Gegenseite gut zu finden). Sie hingegen verbreiten Verachtung und Hass. Aber das zeigen Sie ja schon durch Ihren Namen.
        Übrigens: die kirchlichen Maßnahmen gegen Missbrauchstäter sind inzwischen so streng, wie es für eine nichtsstaatliche Organisation nur möglich ist. Die Studie der Diözese Münster belegt es. Sie zeigt, dass die Kirche jahrzenhtelang versagt hat, die Täter geschützt und die Opfer alleinegelassen hat. Das ist schlimm. Sie zeigt aber auch, dass die Kirche bereits seit vielen Jahren auf einem Weg der Besserung ist und nun für andere Organisationen, in denen dasselbe geschieht, ein Vorbild sein kann - zum Schutz unserer Kinder.

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          Christ

          @Anti-Christ
          Nüchtern betrachtet, ist Mord wesentlich schlimmer als Missbrauch.

          Ich bin immer wieder überrascht, wie die sonst demonstrative Nüchternheit und "Toleranz" der (atheistischen) Humanisten beim Stichwort Kirche in angriffige Verständnislosigkeit umkippt.

          @Norbert Schönecker
          Bin ebenfalls überrascht, dass es Richard Dawkins gelingt, mit einem gewissen "Sympathie-Vorschuss" den Abtreibungsgegnern ein sach- bzw. menschenbezogenes Verständnis entgegenzubringen. Gegen eine faire und mitunter scharfe Debatte ist nichts einzuwenden, solange die Würde des Kontrahenten respektiert wird. - Viele kleine Schritte ergeben mit der Zeit auch einen Fort-Schritt.

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            Christ

            @Anti-Christ
            Weshalb unterliegen viele Atheisten und atheistische Humanisten immer demselben Beissreflex, wenn das Wort "Kirche" fällt? Vielleicht demonstrativ, weil sie eben Atheisten sind und Gott ablehnen? Oder weil sie Gott ablehnen, im Grunde aber an Ihn glauben (möchten)?

            Jedenfalls ist Ihre Aussage weder weiterführend, sachdienlich oder auch nur von Belang. Kindesmord ist moralisch und ethisch ungleich schlimmer als Misshandlung. Die Kirche - wie Norbert Schönecker treffend darlegt - ergreift Konsequenzen beim Missbrauch und korrigiert diesen Missstand. Bei der Abtreibung aber ist sich Politik, Gesellschaft und Wissenschaft nicht mal einig, ob überhaupt Kindesmord vorliege (!); hier hat die Kirche seit jeher eine klare Haltung eingenommen.

            Der Versuch Richard Dawkins, den Kontrahenten Verständnis entgegenzubringen, ist so etwas wie ein "Sympathie-Vorschuss", ohne welchen Respekt und wirkliches Verständnis kaum möglich sein können.

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