Steins Gesetz und die Mission der Wissenschaft

Plädoyer für den wissenschaftlichen Humanismus

Steins Gesetz und die Mission der Wissenschaft

Foto: Pixabay.com / geralt

In der Scientific American Ausgabe vom April 2001 begann ich diese Kolumne mit einem Beitrag mit dem Titel „Bunte Kieselsteine und Darwins Diktum“, inspiriert von der Bemerkung des britischen Naturforschers, dass „jede Beobachtung für oder gegen eine Ansicht sein muss, wenn sie von Nutzen sein soll“. Charles Darwin schrieb diesen Kommentar in einem Brief an die Kritiker, die ihm vorwarfen, in seinem Buch über den Ursprung der Arten von 1859 zu theoretisch zu sein. Sie bestanden darauf, dass er die Fakten einfach für sich sprechen lassen sollte. Darwin wusste, dass Wissenschaft eine sehr feine Mischung aus Tatsachen und Theorie ist. Zu diesen füge ich ein drittes Bein zum Schemel der Wissenschafts-Kommunikation hinzu. Wenn wir unsere Ideen nicht klar an andere weitergeben können, schlummern Tatsachen und Theorie vor sich hin.

Seit nunmehr 214 aufeinanderfolgenden Monaten versuche ich, meine eigenen und die Gedanken anderer über die Tatsachen und Theorie der Wissenschaft so klar wie möglich zu vermitteln. Aber in Übereinstimmung mit (Herb) Steins Gesetz - Dinge, die nicht ewig weitergehen können, werden es auch nicht - endet diese Kolumne mit der Neugestaltung des Magazins. Eine notwendige Strategie in der Entwicklung dieses Nationalheiligtums, die auf 174 Jahre kontinuierlicher Veröffentlichung folgt. Ich fühle mich geehrt, einen flüchtigen Moment dieser langen Geschichte geteilt zu haben, den Redakteuren, Künstlern und Produktionstalenten für jeden Monat dankbar, in welchem ich meine Ansichten mit euch teilen durfte. Ich werde dies an anderer Stelle fortsetzen, bis meine eigene Beschäftigung in diesem provisorischen Proszenium (eine weitere Instanziierung von Steins Gesetz) viele Jahre in der Zukunft endet, so wie es die Natur und der Zufall will. Erlaubt mir daher, darüber nachzudenken, was meiner Meinung nach die Wissenschaft in das Projekt der Menschheit einbringt, von welchem wir alle ein Teil sind.

Die moderne Wissenschaft entstand im 16. und 17. Jahrhundert in Folge der wissenschaftlichen Revolution und der Übernahme des wissenschaftlichen Naturalismus - der Glaube, dass die Welt von bekannten Naturgesetzen und -kräften regiert wird, dass alle Phänomene Teil der Natur sind und durch natürliche Ursachen erklärt werden können, und dass menschliche kognitive, soziale und moralische Phänomene nicht weniger ein Teil dieser nachvollziehbaren Welt sind. Im 18. Jahrhundert führte die Anwendung des wissenschaftlichen Naturalismus auf das Verständnis und die Lösung menschlicher und sozialer Probleme zur weit verbreiteten Umsetzung des Humanismus der Aufklärung, einer kosmopolitischen Weltanschauung, die Wissenschaft und Vernunft schätzt, Magie und Übernatürliches meidet, Dogmen und Autoritäten ablehnt und versucht zu verstehen, wie die Welt funktioniert. Vieles folgt darauf. Das meiste davon ist gut.

Nennen wir es „wissenschaftlichen Humanismus“

Der menschliche Fortschritt, der in den letzten zwei Jahrhunderten in fast allen Lebensbereichen atemberaubend war, ist vor allem das Ergebnis der Anwendung des wissenschaftlichen Naturalismus bei der Lösung von Problemen, von der Konstruktion von Brücken und der Ausrottung von Krankheiten bis hin zur Verlängerung der Lebensdauer und der Etablierung von Rechten. Diese Mischung aus wissenschaftlichem Naturalismus und aufgeklärtem Humanismus sollte einen Namen haben. Nennen wir es „wissenschaftlichen Humanismus“.

Es war nicht offensichtlich, dass sich die Erde um die Sonne dreht, dass Blut im ganzen Körper zirkuliert, dass Impfstoffe gegen Krankheiten schützen. Aber weil diese Dinge wahr sind und weil Nikolaus Kopernikus, William Harvey und Edward Jenner sorgfältig gemessen und beobachtet haben, hätten sie kaum etwas anderes finden können. So war es unvermeidlich, dass Sozialwissenschaftler entdecken würden, dass Menschen überall nach Freiheit suchen. Es war auch unvermeidlich, dass Politikwissenschaftler entdecken würden, dass Demokratien ein besseres Leben für die Bürger hervorbringen als Autokratien, dass Ökonomen entdeckten, dass die Marktwirtschaften einen größeren Reichtum generieren als Planwirtschaften, dass Soziologen zeigten, dass die Todesstrafe die Tötungsrate nicht reduziert. Und es war unvermeidlich, dass wir alle entdecken würden, dass das Leben besser als der Tod, Gesundheit besser als Krankheit, Sättigung besser als Hunger, Glück besser als Depression, Reichtum besser als Armut, Freiheit besser als Sklaverei und Eigenständigkeit besser als Unterdrückung ist.

Wo kommen diese Werte her, die von der Wissenschaft entdeckt werden können? Sie kommen aus der Natur - der menschlichen Natur. Das heißt, wir können ein moralisches System des wissenschaftlichen Humanismus aufbauen, indem wir untersuchen, was die meisten bewussten Lebewesen wollen. Wie weit kann uns diese Weltanschauung bringen? Gilt Steins Gesetz für Wissenschaft und Fortschritt? Werden die nach oben gerichteten Bögen des Wissens und des Wohlbefindens eine feststehende obere Grenze erreichen?

Erinnern Sie sich an Davies´ Schlussfolgerung zu Steins Gesetz, dass Dinge, die nicht ewig so weitergehen können, viel länger dauern können, als man denkt. Wissenschaft und Fortschritt sind asymptotische Kurven, die immer nach oben gehen, aber nie in die Nähe von Allwissenheit oder Allgütigkeit kommen. Das Ziel des wissenschaftlichen Humanismus ist nicht Utopie, sondern Protopie - inkrementelle Verbesserungen des Verständnisses und der Güte, während wir die offenen Grenzen von Wissen und Weisheit immer weiter stecken. Per aspera ad astra.

Übersetzung: Jörg Elbe

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Kommentare

  1. userpic
    Norbert Schönecker

    Dieser Artikel beinhaltet eine mutige Behauptungen. Das darf und soll so sein. Aber mutige Behauptungen müssen es aushalten, kritisch hinterfragt zu werden. Und das mache ich jetzt. Ich bin nämlich nicht mit allen Aussagen Shermers einverstanden, und einige weitere sollten zumindest präzisiert werden.

    Ich bin mir z.B. nicht sicher, dass der Humanismus der Aufklärung wirklich Autoritäten ablehnt. Das hängt natürlich davon ab, was man unter "Autorität" versteht. Vielleicht meint Shermer damit Menschen, deren Aussagen von Amts wegen nicht widersprochen werden darf. Dann hat er Recht. Wer aber unter einer Autorität einen Menschen versteht, der als so kompetent und vertrauenswürdig gilt, dass es reine Zeitverschwendung wäre, seine Aussagen zu überprüfen, dann hat er nicht Recht. Vertrauenswürdige Enzyklopädien sind z.B. eine Errungenschaft der Aufklärung, und der Brockhaus ist eine Autorität im besten Sinne. Ohne solche Autoritäten, auf denen man aufbauen kann, wäre die Forschung ein sehr mühseliges Geschäft.
    Solche guten Autoritäten darf man zwar durchaus hinterfragen, aber meistens ist es zielführender, es nicht zu tun.

    "So war es unvermeidlich, dass Sozialwissenschaftler entdecken würden, dass Menschen überall nach Freiheit suchen."
    Dem widerspreche ich vehement. Aber auch hier kommt es wieder darauf an, was Menschen unter "Freiheit" verstehen. Das ist ja ein sehr schillernder und vielseitiger Begriff.
    Nach meiner Beobachtung sehnen sich die meisten Menschen nach dauerhaften Partnerschaften und nach einer eigenen Familie mit eigenen Kindern. Wenn man unter Freiheit versteht, dass man tun und lassen kann was man will, dann gibt es aber kaum eine größere Einschränkung der Freiheit als eine eigene Familie mit Kindern. So gesehen würden also Menschen eher nach Unfreiheit als nach Freiheit suchen.
    Man könnte aber die Freiheit auch anders betrachten. Man könnte sagen: Die Freiheit eines Menschen besteht gerade darin, dass er in seinem Leben Entscheidungen treffen kann, die er dann auch durchhält. Z.B. die Entscheidung, einen bestimmten Menschen zu heiraten und Kinder in die Welt zu setzen, um die er sich dann kümmert. Paradoxerweise nützt der Mensch seine Freiheit dazu, sich selbst vieler Möglichkeiten im Leben zu berauben.
    Unfrei wäre im Gegensatz dazu ein Mensch, der keine solchen Entscheidungen treffen kann, also z.B. ein Sklave. Der sucht wahrscheinlich wirklich nach Freiheit. Aber wohl in erster Linie, um sie nachher nach eigenem Gutdünken wieder aufzugeben.

    "Es war auch unvermeidlich, dass Politikwissenschaftler entdecken würden, dass Demokratien ein besseres Leben für die Bürger hervorbringen als Autokratien"
    Echt? Ist das so? Ich habe stark den Eindruck, dass die Geschichte etwas anderes lehrt. Demokratien haben ganz offensichtlich nicht zwingend etwas gegen Sklaverei einzuwenden (siehe Athen, Rom und die USA). Sie haben auch ganz offensichtlich nichts gegen Kriege und Rassismus (ebendort). Und sie garantieren schon gar keine Meinungsfreiheit (siehe die Französische Revolution).
    Richard Dawkins, dessen Foundation diese Webseite betreibt, ist übrigens offenbar auch kein 100%iger Demokrat (siehe https://de.richarddawkins.net/articles/wir-brauchen-eine-neue-partei-die-europaer ). Er würde schwierige Entscheidungen lieber Experten überlassen als der Bevölkerungsmehrheit. Das vergrößert die Chance, dass sinnvoll entschieden wird. Wobei natürlich der Charakter der Experten immer noch eine große Rolle spielt.
    Meine persönliche Meinung basiert auf Erfahrungen:
    Wenn ein guter Direktor eine Schule leitet, geht es allen in der Schule besser.
    Wenn ein guter Trainer eine Mannschaft leitet, geht es allen im Team besser.
    Wenn ein guter Dirigent ein Orchester leitet, geht es allen Musikern besser.
    Wenn ein guter Vorarbeiter anschafft, geht es allen Arbeitern besser.
    Daraus folgere ich:
    Wenn ein guter Monarch einen Staat leitet, wird es wahrscheinlich allen Bürgern besser gehen.
    Ein guter Monarch wird wahrscheinlich auch nichts gegen einzelne demokratische Strukturen einzuwenden haben. Das Zunftwesen im Mittelalter z.B. hat sich sehr bewährt. Da haben auch nur kompetente Menschen ihren eigenen Bereich organisiert. Das ist sicher sinnvoller, als wenn ich Menschen zu Regenten wählen soll, die ich nicht beinmal persönlich kenne. Oder wenn ich über ein Gentechnikgesetz abstimme, das ich nicht verstehe. Aus diesem Grunde sollte auch ein Monarch nicht etwa vom Volk gewählt werden. Das dynastische Prinzip hat sich meistens bewährt. Wahrscheinlich deshalb, weil der spätere Monarch eine gediegene Ausbildung zum Regieren bekommt, was man von unseren gewählten Politikern nicht ausnahmslos behaupten kann.

    "Reichtum besser als Armut"
    Naja. Dieser Meinung sind nicht alle. Aber wahrscheinlich versteht ein Benediktinermönch unter Armut etwas anderes als die meisten anderen Menschen.
    Nach meiner Einschätzung sind aber reiche Menschen nicht glücklicher als solche, die knapp an der Armutsgrenze leben. Und ganz sicher ist der Durchschnittsmensch heute nicht glücklicher als der Durchschnittsmensch des Jahres 1880, obwohl der Lebensstandard seit damals enorm gestiegen ist.
    Somit sind wir bei der Definition von "Armut": Waren meine Großeltern arm? Damals waren sie Mittelschicht. Heute wären sie Unterschicht (WC am Gang, kein Bad, kein Telefon, kein TV, ...). Sind es also die Konsumgüter, die nach Meinung des Autors gut sind, oder ist es entscheidend, wie viel man im Vergleich zum Bevölkerungsdurchschnitt hat? Das ist eine sehr wichtige Frage!
    Ich finde: Entscheidend ist es, sich keine Sorgen machen zu müssen, ob man im nächsten Winter erfriert oder verhungert. Wenn man sich dann auch noch Medikamente leisten kann, dann hat man das notwendigste. Von allem, was darüber hinausgeht, sollte man nicht abhängig werden. Sonst kann nämlich Reichtum sehr unglücklich machen!

    Kurzes Fazit:
    Schon alleine deshalb, weil die Begriffe "Autorität", "Armut" und ganz besonders "besseres Leben" und "Freiheit" äußerst ungenaue Begriffe sind, würde ich die obigen Erläuterungen Shermers zu sozialen Themen nicht im selben Sinne als wissenschaftliche Erkenntnisse gelten lassen wie die Entdeckung von Naturgesetzen. Das ist etwas übermütig von ihm.

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    1. userpic
      Huxley

      Leider ist der Artikel nicht wirklich aussagekräftig und strotzt nur so vor Oberflächlichkeiten und Ungenauigkeiten. Das ist tatsächlich sehr zu bedauern, denn hinter diesem Ansatz – man müsste vielleicht sagen Ansätzen; in Deutschland wäre das Pendant wohl der „evolutionäre Humanismus“ – steckt viel mehr als das, was in diesem Artikel wiedergegeben wird. … Wegen der bereits kritisierten massiven Ungenauigkeiten muss man auch sagen, dass nicht nur viel mehr, sondern auch anderes dahintersteckt. Der "wissenschaftliche Humanismus" wird hiermit nicht im Ansatz adäquat umrissen!
      Ich würde mir wünschen, dass zu dieser Thematik - wissenschaftlicher Humanismus - an dieser Stelle weitaus klarere Darstellungen angeboten werden könnten.

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