„Streit ist systemrelevant...“

oder: Konformismus ist Gift für die Demokratie

„Streit ist systemrelevant...“

Foto: Pixabay.com / geralt

Helmut Ortner plädiert für zivilisierten Streit – nicht nur in diesen Corona-Zeiten. Denn eine offene Gesellschaft braucht Gegenrede und Widerstreit, denn Konformismus ist Gift für die Demokratie.

Darmstädter Echo:

Ihr neues Buch, Herr Ortner, „Widerstreit“ - liest sich wie ein Plädoyer für eine vielstimmige Streitkultur. Wird derzeit nicht schon genug gestritten in unserem Land?

Helmut Ortner:

Keineswegs. Streit ist der Sauerstoff für unsere Demokratie.  Man könnte auch sagen: die Bereitschaft zum Streiten ist „systemrelevant“. Dies gilt besonders in Zeiten, wo die Pandemie das ganze Land in Griff hat. Politische Entscheidungen müssen von der Mehrheit unterstützt werden, aber Minderheiten müssen gehört werden. Sie müssen sich in den Entscheidungen wiederfinden können. Es muss diskutiert und gestritten werden. Das ist die Grunderkenntnis von Demokratie.

Wann aber wird aus einem konstruktiven Streit eine aggressive Abgrenzung, die nicht zusammenführt, sondern spaltet?

Die Corona-Pandemie wirkt wie ein Brennglas für gesellschaftliche Missstände und Defizite. Und da gibt es derzeit nun wirklich viel zu diskutieren. Vieles von dem, was wir jetzt erleben, was in unserem Land nicht funktioniert, hat auch mit der Frage zu tun: Wer hat dieses Land eigentlich die letzten 16 Jahre regiert? Politik- und Verwaltungs-Versagen sind vielfältig spürbar, noch nie haben so viele Menschen den politischen Entscheidungs- und Funktionsträgern ihre Loyalität aufgekündigt

Beispielsweise die Aktion bekannter Schauspieler, die – in nicht unumstrittenen Videos - für Aufregung gesorgt haben...

…eine Aufregung, die ich nicht teilen mag. Man muss ja nicht alle Beiträge für gelungen halten. Redliche Absichten bringen nicht automatische sinnvolle Inhalte hervor. Einige Beiträge sind missverständlich, ja, auch missraten. Wenn Politiker aber von Zynismus reden, dann sind das gewohnte Reflexe derer, die wirklich in der Pandemie versagt haben. Wenn eines zynisch ist, dann das verlogene Applaudieren für Pflegekräfte und Klinikpersonal. Die Politik hat doch in den letzten Jahren an deren Gehälter rigoros gespart. Darüber sollte man sich aufregen. Aber zu übersehen ist: unsere Demokratie steht auf dem Prüfstand, viele Bürger misstrauen dem Staat und seinen Institutionen. Und klar ist: Politik muss mehr sein als Abwehrkampf gegen den Virus. Es braucht Strategien über den Tag hinaus, eine Antwort auf die Frage: Wie wollen wir als offene Gesellschaft mit der Pandemie leben? Darüber muss und soll gestritten werden...“

Kein Plan zur Abschaffung der Demokratie

Streit um die beste Lösung ja. Aber nicht allein in digitalen Foren wird gehetzt und polarisiert. Aggression und Hass statt Argument und Austausch. Einige wittern sogar eine Meinungs-Diktatur.

Nein, es gibt keinen Plan zur Abschaffung der Demokratie durch eine “Merkel-Diktatur“ oder andere böse Kräfte. In Krisenzeiten grassiert nicht nur eine Realitätsverleugnung, sondern es kursieren wahnhafte Verschwörungstheorien – nicht nur in digitalen Echo-Räumen. Extremismus kann sich hier ungestört entfalten. Kein guter Zustand. Demokratie aber braucht Vertrauen, das ist die tragende Währung. Mangelt es daran, schafft es ein Klima des Misstrauens, der Angst, der Aggression. Mit anderen Worten: es braucht den offenen, zivilisierten Streit. Ich sehe ihn nirgendwo hierzulande eingeschränkt, man muss sich nur daran beteiligen wollen. Protest und Streit ist hierzulande nicht gefährlich. Es eignet sich nicht als heroische Geste. Und wer sich das Etikett eines „Quer-Denkers“ anheftet, der muss nun wirklich keinen Mut aufbringen. Wer von Meinungs-Diktatur schwafelt, weiß nicht, was Diktatur ist. Ein Blick nach Belarus, in die Türkei, nach Russland klärt ihn vielleicht auf.

In ihrem Buch geht es nicht allein um die aktuelle Corona-Debatte. Es ist auch eine Bestandaufnahme historischer Beispiele von unterlassenem Widerstand und Widerstreit gegen politischen Fanatismus und religiösen Wahn, gegen Gesichtsvergessenheit und Populismus.

Ja, die Corona-Debatte überdeckt ja vieles, was aktuell “streit-würdig“ wäre: die halbherzige Klimapolitik unserer Regierung, der beschämende Umgang mit der Flüchtlings-Wirklichkeit, bis hinein in die Niederungen deutscher Realpolitik, vom Maut-Desaster eines Herrn Scheuer bis hin zum Wirecard-Versagen eines Kanzler-Kandidaten Scholz. Kurzum: an Anlässen für Widerstreit besteht ja kein Mangel. Im meinem Buch beschreibe ich anhand historischer und aktueller Beispiele, wohin jede Form von Konformismus und Gleichförmigkeit führen können. Sie sind Gift für die Demokratie.

Sie plädieren nicht nur für die unbedingte Verteidigung freier Meinungsäußerung, sondern auch für die Pflicht des Widerstreits, gewissermaßen als Grundelement der Demokratie...

Auch unsere Geschichte kennt totalitäre Epochen. Hier gab es keine eigene, widerspenstige Meinung – sondern nur Denken und Reden im Gleichschritt. Das Besondere an der Demokratie ist, dass sie nicht das „totale Wir” anstrebt. Zweifel, Aufbegehren, Widerstand sind keine Untugenden in einer freien Gesellschaft, sondern deren Grundlage. Demokratie bedeutet immer Pluralität. Demokratie ist Differenz und Dissidenz. Hannah Arendts Diktum, das es „kein Recht zu gehorchen“ gibt findet sich auf den ersten Seiten meines Buches. Es hat bis heute Gültigkeit.

Gekürztes Interview, welches in voller Länge im „Darmstädter Echo“ veröffentlicht wurde.

Helmut Ortner, Jahrgang 1950, hat bislang mehr als zwanzig Bücher, überwiegend politische Sachbücher und Biografien veröffentlicht, u.a. Der Hinrichter - Roland Freisler, Mörder im Dienste Hitlers, Der einsame Attentäter - Georg Elser und Fremde Feinde - Der Justizfall Sacco & Vanzetti. Zuletzt erschienen: Ohne Gnade und EXIT - Warum wir weniger Religion brauchen – Eine Abrechnung (Paperback).

Seine Bücher wurden bislang in 14 Sprachen übersetzt. Helmut Ortner ist Mitglied bei Amnesty International und im Beirat der Giordano-Bruno-Stiftung.

Sein neues Buch Widerstreit – Über Macht, Wahn und Widerstand“ erschein in Kürze.

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