Über das Vollverschleierungsverbot

Grundrechte im Sinne von Schariagewährleistungsrechten

Über das Vollverschleierungsverbot

Foto: Pixabay.com / geralt

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat in einem aktuellen Kampagnen-Clip die Verschleierungspflicht im Iran, in Saudi Arabien, Afghanistan und in anderen Ländern, wo die Scharia und die darin verankerte archaische Sexualmoral mit Geschlechterapartheid als maßgebliche Gesellschaftsordnung gilt, mit den Vollverschleierungsverboten in Frankreich und in der Schweiz gleichgestellt und einen berechtigten und wohlverdienten Shitstorm ausgelöst. Der Claim von Amnesty International im Videoclip lautet: «Women have the right to chose what to wear. It’s simple.» Oder auf Deutsch: «Frauen haben das Recht zu wählen, was sie anziehen. Es ist einfach.»

Mit dieser Haltung widerspricht die Menschenrechtsorganisation der klaren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR), der im vorletzten Jahr zwei wegweisende Urteile im Zusammenhang mit einem Vollverschleierungsverbot in Belgien gefällt hat (Beschwerde-Nr. 37798/13 und 4619/12). Nachdem der Gerichtshof bereits im Jahr 2014 die Vollverschleierungsverbote in Frankreich für EMRK-konform befunden hatte, ging er bei diesen belgischen Fällen einen Schritt weiter. Ein solches Vollverschleierungsverbot sei «für eine demokratische Gesellschaft notwendig», urteilten die EGMR-Richter in Strassburg. Der EGMR gab dazu an, dass ein Verbot von Schleiern, die das Gesicht teilweise oder komplett verdecken, an öffentlichen Plätzen angemessen sei, um die «Bedingungen des Zusammenlebens» zu erhalten sowie die «Rechte und Freiheiten anderer» zu schützen.

Die Richter des EGMR betonten allerdings auch, dass staatliche Behörden die Situation vor Ort besser bewerten könnten als ein internationales Gericht wie der EGMR. Die Frage, ob ein Verbot der Verschleierung des kompletten Gesichts in der Öffentlichkeit akzeptiert werde, sei letztendlich eine «Entscheidung der Gesellschaft», was so viel heisst wie, dass demokratisch gewählte Parlamente und Regierungen durch Gesetze oder Bevölkerungen über Volksabstimmungen über diese gesellschaftspolitische Frage befinden dürfen, sofern sie wie wir in der Schweiz über Volksrechte verfügen, die dies zulassen. Bekanntlich werden wir Schweizerinnen und Schweizer dies demnächst tun.

Nach dem Gesagten ist es damit schon ein starkes Stück, wenn eine Menschenrechtsorganisation nicht nur menschenrechtskonforme Vollverschleierungsverbote mit den Verschleierungspflichten von totalitären und frauenverachtenden Regimes in einem Atemzug nennt und diese damit mit westlichen Demokratien gleichsetzt. Vielmehr foutiert sich Amnesty International offenbar auch über die Rechte von Nichtsalafisten, über die Notwendigkeit eines solchen Verbots für die demokratische Gesellschaft und über das Recht eines Staates und seiner Bürger insbesondere in solchen Fällen ein Verbot zu erlassen. Damit will Amnesty International einmal mehr unsere Grundrechte im Sinne von Schariagewährleistungsrechten verstehen, worüber ich in einem anderen Zusammenhang einen Blogpost geschrieben habe.

Von westlichen Vollverschleierungsapologeten höre ich immer wieder, dass sie die Burka respektive den Niqab ja auch nicht so toll fänden. Aber in einer liberalen Gesellschaft wie der unseren müsse jede Person das Recht haben, das anziehen zu dürfen, was sie für richtig halte. Im Grunde genommen geht es auch im Claim von Amnesty International um dieselbe Aussage: Jede Person hat das Recht, sich so anzuziehen, wie sie will. Im gleichen Atemzug wird allerdings auch immer wieder behauptet, dass dieser Zustand in unserer Gesellschaft bereits gelte. So heißt es bekanntlich immer wieder «Bei uns darf sich jeder so anziehen, wie er will!» im Sinne einer Feststellung.

Wenn ich diese letztgenannte Aussage jeweils höre, schweige ich meistens einige Sekunden, um meinem Gesprächspartner die Gelegenheit zu geben, sich selbst zu korrigieren, weil die Angabe ganz offensichtlich und prima vista nicht stimmt. Oder glaubt die Leserin oder der Leser tatsächlich daran, dass bei uns im Westen keine Kleidervorschriften gelten und jeder sich so anziehen kann, wie er will?

Die vermutlich wichtigste Kleidervorschrift, die in unseren westlichen Gesellschaften gilt und die nötigenfalls auch gesetzlich durchgesetzt wird, ist jene, dass wir uns überhaupt kleiden müssen. Oder anders ausgedrückt: Nacktheit ist außer in ganz spezifischen gesellschaftlichen Konstellationen verboten. Wie in meinem Blogpost über den Burkini bereits erwähnt, kann diese vollständige Nacktheit etwa in der Sauna, beim gemeinsamen Duschen im Sport- oder Fitnessclub, auf dem FKK-Strand oder in einem privaten Rahmen wie zuhause sozial adäquat sein. Ansonsten ist Nacktheit in den allermeisten Fällen nicht angemessen, wobei es bei dieser Unangemessenheit identisch wie bei der Vollverschleierung, die offensichtlich das Gegenteil der öffentlichen Nacktheit darstellt, um die Wahrung der moralischen Vorstellungen und der Sitten einer Gesellschaft geht. Genau deshalb ist es nicht absurd oder verkehrt, wie man zunächst denken könnte, die öffentliche Nacktheit der Vollverschleierung gegenüberzustellen und sich die entsprechenden gesellschaftlichen Normen anzusehen.

Dass Menschen in der Öffentlichkeit nicht nackt auftreten und zumindest ihre primären und sekundären Geschlechtsorgane mit Kleidung „verschleiern“, geht nicht bloß auf kirchliche Moralvorstellungen zurück, sondern ist vielmehr in der gesamten Menschheitsgeschichte in unterschiedlichsten Kulturen vorzufinden. Die im heutigen Westeuropa verpönte und auch rechtlich verbotene öffentliche Nacktheit ist nicht deshalb verboten, weil damit der Wunsch der Kirche durchgesetzt werden soll. Im Grunde genommen äußert sich die heutige Kirche ja nicht einmal zu den Fragen der öffentlichen Nacktheit. Im Schweizer Kanton Appenzell-Innerrhoden etwa, wo sich das Nacktwandern zum Leidwesen der Appenzellerinnen und Appenzeller großer Beliebtheit erfreut, war es die Landsgemeinde und damit die Bürgerinnen und Bürger, die so etwas in ihrem Kanton nicht haben wollten, die auch das entsprechende Verbot erließen und nicht etwa die Katholische Kirche. Kein Schweizer Bischof oder Kardinal und natürlich auch nicht der Papst in Rom haben sich öffentlich gegen das Nacktwandern im Appenzellerland ausgesprochen, sondern die Bürger dieses kleinen Kantons, die in ihrer unmittelbaren Umgebung keinen Nacktwanderern begegnen wollten.

Auch ich habe übrigens keinen Wunsch, beim Spaziergang in der Stadt oder auf einem Wanderweg, völlig unverhofft und vor allem unfreiwillig nackten Menschen zu begegnen. Ich toleriere die Nacktheit anderer Menschen nur im dafür vorgesehenen sozialen Kontext, sofern dieser der Norm entspricht (Sauna, Sportclub, FKK-Strand etc.). Anderswo will ich so etwas nicht sehen, weil die anderen möglichen Formen vollständiger Nacktheit meinen Sittlichkeitsvorstellungen zuwiderlaufen würden, die selbstverständlich in jeder Hinsicht der Norm entsprechen. In meinem besonderen Fall hat die Ablehnung der vollständigen Nacktheit in der Öffentlichkeit erst recht nicht das Geringste mit Gott oder Religion etwas zu tun, weil ich ein Atheist bin und nie an Gott geglaubt habe. Ich denke, dass dies auch für die meisten anderen Atheisten zutreffen dürfte. Auch ohne an Gott zu glauben, will niemand einen nackten Mann in der Innenstadt sehen, der wegen des heissen Wetters sich für das Adamkostüm entschieden hat, oder nackte Frauen, die auf dem Supermarkt ihre Einkäufe erledigen. Mit anderen Worten existieren in unseren Gesellschaften Sittlichkeitsvorstellungen und entsprechende Normen, die von religiösen Moralvorstellungen völlig unabhängig sind.

Frauen in Hot Pants und freizügigen Oberteil im Petersdom

So wie ein Verbot der Vollverschleierung im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte «für eine demokratische Gesellschaft notwendig» ist und dazu dient, die «Bedingungen des Zusammenlebens» zu erhalten sowie die «Rechte und Freiheiten anderer» zu schützen, kann man dieselbe Aussage über die vollständige Nacktheit treffen, die das Gegenteil der Vollverschleierung bedeutet, wie ich schon weiter oben angegeben habe. Es gehört zu den «Bedingungen des Zusammenlebens» oder anders ausgedrückt zu den vorerwähnten gesellschaftlichen Sittlichkeitsregeln, dass Menschen in der Öffentlichkeit nicht nackt oder halbnackt auftreten, es sei denn, eine spezieller sozialer Kontext wäre gegeben, der dies rechtfertigen würde. Es gehört daher auch zu unserer Freiheit, dass wir die Nacktheit anderer nicht tolerieren müssen («Rechte und Freiheiten anderer» im Sinne der Rechtsprechung des EGMR), wobei solche minimalen Sittlichkeitsregeln auch in einer freien Gesellschaft wie der unseren notwendig sind. Jedenfalls sollte klar sein, dass das Bedürfnis desjenigen, der nackt sein will, dem Bedürfnis der Gesellschaft, ihn nicht nackt zu sehen, klar untergeordnet ist. Deshalb ist die Gesellschaft auch befugt, entsprechende Regeln und Normen aufzustellen. Ich wüsste nicht, weshalb dies bei im umgekehrten Extremfall, namentlich bei der krass normwidrigen Vollverschleierung, unzulässig sein sollte, zumal es dabei ebenfalls um die herrschenden gesellschaftlichen Sittlichkeitsvorstellungen und -normen geht.

Natürlich existieren wesentlich mehr Beispiele als die öffentliche Nacktheit, die aufzeigen, dass wir auch in unserer liberalen Gesellschaft nicht einfach das anziehen können, was wir wollen. Die entsprechenden Normen haben unterschiedliche Grundlagen und werden auch ganz unterschiedlich sanktioniert, sofern man sie nicht einhält. An Baustellen und in vielen Industriebetrieben gibt es beispielsweise eine gesetzliche Pflicht zum Tragen einer Schutzkleidung, die nicht nur für Arbeitnehmende sondern auch für Besucherinnen und Besucher des entsprechenden Betriebes gilt. Wenn wir eine Anlage betreten, wo Lebensmittel hergestellt werden, können wir nicht einfach Straßenkleider tragen und damit ganz und gar nicht so angezogen sein, wie wir es persönlich für richtig halten. Ein Schüler muss seiner Lehrerin gehorchen und seine Baseball-Kappe und seine Sonnenbrille während des Unterrichts abziehen. Frauen in Hot Pants und einem allzu freizügigen Oberteil werden ins Petersdom nicht hereingelassen. Eine Flugbegleiterin muss die Uniform tragen, die ihr die Airline zur Verfügung gestellt hat, was natürlich auch für die Frontmitarbeitenden einer McDonald’s-Filiale gilt. Es gibt Lokale, wo wir Männer mit Jeans und T-Shirt nicht hereingelassen werden und einen Anzug mit Krawatte tragen müssen.

Ein Mann, der sich für den Posten eines CEO einer Großbank bewirbt, sollte für das Vorstellungsgespräch angemessen angezogen sein. Er kann nicht mit einem FC-Bayern-Fußball-Trikot oder in einem Clown-Kostüm zum Bewerbungsgespräch erscheinen. Sollte so etwas Absurdes dennoch geschehen, würde das Vorstellungsgespräch abgebrochen werden, bevor es überhaupt anfängt und der Kandidat bekäme die Stelle garantiert nicht. Das bedeutet freilich auch, dass eine solche Person nicht mit den Mitteln des Strafrechts sanktioniert würde wie ein Exhibitionist, der sich über das Verbot der öffentlichen Nacktheit hinweggesetzt hat. Vielmehr erfolgt die Sanktionierung primär durch die umgehende Ablehnung seines Stellengesuches, selbst wenn er aufgrund seiner Qualifikationen der geeignete Kandidat für die Stelle wäre. Allenfalls kann natürlich eine solche Person, die sich für ein Vorstellungsgespräch als Clown verkleidet, zudem noch wegen selbstverschuldeter Arbeitslosigkeit sanktioniert werden, was in der Schweiz Einbußen beim Arbeitslosengeld bedeuten könnte.

Zusammengefasst bedeutet dies, dass auch in unseren liberalen Gesellschaften zahlreiche Dresscodes existieren und wir durchaus verpflichtet sind, diese einzuhalten. Das gelingt auch problemlos und vor allem auch ohne das Bewusstsein, dass man gerade dabei ist, eine Regel einzuhalten, weil die entsprechenden Verhaltensweisen in jeder Hinsicht der Norm entsprechen und als selbstverständlich gelten. Anders ausgedrückt stellt sich die Frage in der Regel nicht, weshalb wir nicht nackt durch die Straßen ziehen, oder nicht in einem Clown-Kostüm zum Vorstellungsgespräch gehen sollten. Auch ist es in der Regel nicht das Strafrecht, das uns davon aufhält, dennoch nackt in der Öffentlichkeit aufzutreten, sondern das normkonforme und den gesellschaftlichen Verhältnissen angepasste Verhalten sowie die Vernunft, die so etwas nicht zulassen. Das bedeutet damit, dass die normalen Menschen, welche niemals nackt in die Stadt gehen würden, nicht wirklich die Adressaten der Exhibitionismus-Strafnorm sind, weil die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung diese Selbstverständlichkeit ohnehin einhält. Vielmehr ist der Adressat des Straftatbestandes derjenige, bei dem die Gefahr droht, dass er sich tatsächlich entblößen könnte, weil bei ihm entsprechende sexuelle Bedürfnisse vorhanden sind, die das normwidrige Verhalten hervorrufen könnten. Das heißt also, dass die Strafnorm diese spezifische Person ausbremst und nicht uns, weil wir uns ohnehin nie anders verhalten würden.

Diese Gedanken kann man ohne weiteres auch auf die islamisch motivierte Vollverschleierung übertragen. Eine Vollverschleierung ist in Europa krass normwidrig und hat selbst im Frühmittelalter, als noch bestimmte Verschleierungsarten, die christlich motiviert waren, existierten, nie mit der Kultur und den Gepflogenheiten dieses Kontinents etwas zu tun gehabt. An und für sich kann man von jeder Person, die unser Kontinent besucht oder unsere Staaten zum dauernden Verbleib betritt, erwarten, dass sie dieses krass normwidrige Verhalten unterlässt, insbesondere nachdem sie festgestellt hat, dass diese Regeln hier ganz offensichtlich nicht gelten, sondern eben krass normwidrig sind. Da dies bei gewissen Personen nicht klappt, geht es nicht anders als, dass man das entsprechende normwidrige Verhalten verbietet.

Die Vollverschleierung ist für einen Europäer auch völlig zu Recht extrem irritierend, sofern er damit konfrontiert wird, weil damit wesentliche Normen und Grundwerte, die in unserer Gesellschaft gelten, in Frage gestellt werden. Es geht dabei um die Gleichberechtigung der Geschlechter, die Rolle der Frau in der Gesellschaft, Regeln über die Sexualmoral insbesondere im gesellschaftlichen Zusammenleben von Männern und Frauen und letztendlich auch um die Menschenwürde, weil eine derart extreme Form der Verschleierung eine Frau entmenschlicht. Nicht im Einklang mit den Werten unserer liberalen Gesellschaft ist damit nicht die Ablehnung der Vollverschleierung und das Befürworten eines Verbots, sondern die Toleranz gegenüber dieser Entmenschlichung der Frau und einer totalitären Ideologie, wobei dies ausgerechnet unter Hinweis auf den Liberalismus und auf die Grundrechte erfolgt.

Jedenfalls denke ich nicht, dass wir verpflichtet sind, uns so etwas wie die islamische Vollverschleierung in unserem Alltag anzusehen und in unseren Gesellschaften zu tolerieren, bloß weil die Vollverschleierung das Label Religion trägt, zumal Religion und das entsprechende Grundrecht nicht über anderen Grundrechten, Grundfreiheiten und fundamentalen Prinzipien unserer Gesellschaft stehen und außerdem nie dazu angedacht waren, in Europa eine salafistische Gegengesellschaft einzurichten, welche die extremste Form des Islam auslebt, die sogar in muslimisch geprägten Ländern sanktioniert wird, weil selbst dort das entsprechende Verhalten als krass normwidrig eingestuft wird.

Kommentare

  1. userpic
    Bea Mcl

    Herrvoragend analysiert. Ich drücke Euch glücklichen Schweizern beide Daumen!

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