Oft frage ich mich, warum ich mir die Zeit nehme, einen ganzen Artikel zu schreiben, wenn viele nur die Überschrift lesen, um dann in den Kommentaren einen Weitpinkelwettbewerb anzuzetteln.
Sie wollen kurze Beiträge, kritisieren aber den Mangel an Nuancen.
Nun, von diesem hier gibt es keine „tl;dr“-Version; es muss alles gesagt werden.
Die heutige Podcast-Episode führt die Gesprächsreihe mit Richard Dawkins, Michael Shermer, Adam Carolla, Pete Boghossian und Lawrence Krauss auf „Dogma Debate“ fort.
Dieser Artikel und jene einzelnen Podcast-Diskussionen sind lange überfällige Weckrufe an Linke und andere in der knapp überlebenden „säkularen Gemeinschaft“, Rufe zurück zur Bedeutung von Vernunft.
Wir verzehren uns selbst. Wir zerstören unsere Botschaft. Wir zerfallen.
Dies ist ein Artikel über die Ursachen dafür und darüber, was wir tun können.
Wer in dieser Welt des Schwarzweißdenkens auf extreme Positionen verzichtet, hat den Mob im Genick.
Wer einen Beitrag eines „Black Lives Matter“-Fürsprechers teilt, hasst offensichtlich Polizisten und Weiße.
Mit einem „Backing the Blue“-Auto-Aufkleber herumzufahren, der einst nur Verständnis für den harten Polizistenjob signalisierte, bedeutet jetzt, ein rassistisches Arschloch zu sein.
Wer meint, Milo Yiannopoulos habe die Grenzen der Redefreiheit strapaziert und schikaniere Menschen, ist ein „Social Justice Warrior“, ein Schneeflöckchen, das keinen Widerspruch aushalten kann.
Wenn du hingegen denkst, Milo habe jene Grenzen eingehalten und sollte weiter reden dürfen, auch wenn er komplett daneben liegt, dann hasst du offensichtlich jeden aus der LGBT-Gemeinschaft, du dreckiger Neokonservativer.
Wer dagegen ist, Neonazis aus dem Hinterhalt zu attackieren, kann selbst nur ein Neonazi sein.
Wer aufgrund der persönlichen Erfahrung eines anderen die Existenz einer Gottheit annimmt, wird als Idiot bezeichnet.
Wer sich andererseits weigert, bestimmte Menschen zu meiden, weil ihnen jemand anders aufgrund persönlicher Erfahrung vorwirft, ihn zu drangsalieren, ist natürlich mit allen Drangsalierungen einverstanden.
Wer für Bernie Sanders stimmte, gegen Trump protestierte und zwanzig Jahre mit Linken marschierte, nun aber mit einem „No-Whites-Day“ an der Universität nicht einverstanden ist, muss ein Fanatiker sein.
Ein Atheist, der Religion „Gift für die Kultur“ nennt, schließt qua Definition den Islam ein. Wer aber den Islam „eine giftige Religion“ nennt, ist ein islamophober Rassist, der alle Menschen mit brauner Hautfarbe hasst.
Hier ist eine vernünftig kontroverse Realitätsprüfung: Das Leben Schwarzer hat Bedeutung. Und Polizisten haben harte Jobs.
Es ist möglich, dass eine unbewaffnete Person das Leben eines Beamten bedroht, und manche Polizeibehörden sind bis hinauf zum Leiter von Rassismus durchsetzt.
Beides ist der Fall. Und es ist natürlich so einsichtig, dass es zur Kontroverse führt, eine der beiden Positionen zu vertreten.
Hier noch ein „Reality Check": Man kann Muslime für nette Leute halten und gleichzeitig der Meinung sein, der Islam sei eine giftige Glaubensstruktur. So wie wir durchaus sagen dürfen, dass Christen gute Menschen sein können, während das Christentum die amerikanische Gesellschaft vergiftet.
Das sind keine sich ausschließenden Eigenschaften; wir reden einerseits über Menschen, andererseits über Ideen.
Genauso ist es möglich, dass jemand, der die sozialen Signale eines Fremden nicht versteht, dem einen gruselig erscheint, dem nächsten ahnungslos, einem dritten harmlos und kokett schließlich einem vierten.
Nun wird die subjektive Interpretation privater Wahrnehmungen seit den Hexenprozessen nicht mehr als Evidenz zwecks Vernichtung des Beschuldigten akzeptiert.
Irgendeine der erwähnten Tatsachen zu konstatieren sollte niemals Anlass für Beleidigungen wie „Rassist“, „islamophob“, „Vergewaltiger“, „Nazi“ oder „Gutmensch“ sein.
Dennoch geschieht es ständig, während wir uns in den sozialen Medien in Gruppen aufsplittern.
Wer eines der oben genannten offensichtlichen Fakten auch nur streift, kann eine Unterstellung erwarten, gefolgt von einer Beleidigung, dann wahrscheinlich den Angriff eines Mobs von Tastaturkriegern, die Linke und Skeptiker in Verruf bringen.
Dann zersplittern wir uns.
Unsere Liste der Geblockten wächst. Unsere kleinen Gruppen teilen sich in kleinere auf. Private Facebook-Gruppen betreiben zunehmend Sprachüberwachung, ihre Mitglieder unterliegen der Auslese.
Dann attackieren wir unsere Verbündeten wegen fünf Prozent Meinungsverschiedenheit, anstatt uns auf der Seite der 95 Prozent zu vereinigen und den gemeinsamen Feind von Wissenschaft, Freiheit und Vernunft zu bekämpfen.
Schließlich wundern wir uns, warum wir Wahlen und Finanzierungen verlieren, warum unsere Tagungen kleiner werden.
All das wurzelt in unserem Unvermögen, in dieser Gemeinschaft aktiv zuzuhören.
Hier ist eine Faustregel: Wer ein gegnerisches Argument nicht so formulieren kann, dass die andere Seite zustimmt, der ist nicht in der Lage, ein Gegenargument ins Feld zu führen.
Bitte noch einmal lesen.
Nur wenn wir das können, gelangen wir zu einer kohärenten Widerlegung.
Aber Vernunft taucht selten auf in unserer rückschrittlichen Welt der sozialen Medien, in der Einzeiler mit „wow“ bedacht werden, „Likes“ Screenshot-Trophäen sind und menschliche Verbündete entbehrlicher Abfall.
Wie es üblicherweise abläuft:
Al: „Ich kann nicht glauben, dass Joe 'X-Men' hasst!“
Fred: „Hoppla! Welche Anhaltspunkte hast du?“
Al: „Hier ist ein Video.“ (Zwölfmal angeklickt, stark bearbeitet, mit winzigen, aus dem Kontext gerissenen Clips)
Fred: „Sieht eher wie Propaganda aus; Hass kann ich nicht erkennen. Hast du mehr?“
Al: „Wow, du hasst also auch 'X-Men'!“
Fred: „Hab ich nicht gesagt.“
Al: „Wenn du sagst, du kannst keinen Hass erkennen, meinst du doch, dass 'X-Men' belanglos ist!“
Fred: „Menno, ich will nur bessere Indizien und nicht vorschnell Schlüsse ziehen.“
Al: „Wie kannst du 'X-Men' so bagatellisieren. Blödmann.“
Fred: „Ich versuche doch nur...“
Al: „GEBLOCKT.“
Klingt das vertraut?
Eine Welt, in der die Frage nach weiteren Indizien als hassenswert erscheint, kann nur rückschrittlich genannt werden.
Im linken Spektrum ist es recht üblich geworden, sich gegenseitig mit falschen Behauptungen, Anschuldigungen und Unterstellungen niederzumachen.
Wir sagen dem anderen, was er „wirklich behauptet“, anstatt ihn um Klärung seines Standpunktes zu bitten.
Wir benutzen Aussage A, um Aussage B zu unterstellen, gründen all unseren Hass auf unsere Vermutung und stecken den anderen in eine Schublade, in der er nie sein wollte.
Und dann lehnen wir uns mit einem Glas Wein zurück, laden Facebook und sehen zu, wie die Massen uns in die Popularität „liken“, während unsere Sekte wächst.
Derweil die meisten vernünftigen Leute dazu schweigen, um nicht selbst angegriffen zu werden.
Wir lesen still mit und fragen uns, ob unser Ansehen in der Online-Welt es wert ist, aufs Spiel gesetzt zu werden für einen vernünftigen Menschen, der im Kreuzfeuer steht.
Ich möchte erklären, warum man Leute mit diesem Verhalten die „regressive Linke“ nennt.
Betrachten wir das „Hufeisen-Modell“. [A. d. Ü.: Stellen wir es uns aufrecht vor, wie ein U, nur bauchiger.]
Am untersten Punkt in der Mitte liegen die Moderaten. In der Mitte jeder Seite, an den in der Waagerechten am weitesten voneinander entfernten Punkten, befinden sich die eigentlichen Vertreter von „Rechts“ und „Links“. Hier sind all die vernünftigen Leute, die einander widersprechen, sich aber gegenseitig nicht niedermachen, zu Gewalt greifen oder den anderen zum Schweigen bringen wollen.
Wenn aber die jeweiligen Seiten (links-/rechts-)extremer werden, neigen sie sich wieder aufeinander zu in Richtung derselben extremistischen Ideologie der Herrschaft, mit Hexenjagden, falschen Beschuldigungen, Sprachpolizei (einschließlich Körpersprache) und Gewalt; jede Seite kämpft, um der neue Unterdrücker zu werden und die Opposition auszuschalten.
Ein linksextremer Demonstrant, der vor laufender Kamera einen weißen Nationalisten boxt, erinnert sehr an die Rassisten in den Sechzigern, die Schwarze schlugen für den Versuch, zur Wahl zu gehen.
Linke, die einen konservativen Sprecher mit Gewalt und Zwang zum Verstummen bringen, erinnern sehr an fundamentalistische Christen, die die Eingänge von Abtreibungskliniken blockieren.
Natürlich verstehe ich die Unterschiede und Nuancen. Aber die Aufrufe zu Gewalt und Zwang, um der neue Unterdrücker zu werden, sind der gemeinsame Nenner, der beide extremen Ideologien am oberen Ende des Hufeisen-U konvergieren und beide sich von den amerikanischen Werten von Freiheit und Mitgefühl entfernen lässt.
Wir haben so hart gearbeitet, um progressiv, liberal und „links“ zu werden. Aber unsere extremen Maßnahmen führen uns zurück zur Unterdrückung jener, die uns das Gefühl geben, unrecht zu haben; wir berauben sie der Rechte, die wir selbst beanspruchen.
Sie müssen zum Schweigen gebracht werden, geschlagen, verbannt, gefeuert, lächerlich gemacht und ausgeschlossen werden.
Im Wesentlichen entwickeln wir die liberalen Ziele zurück, weg von Gleichheit, Menschenrechten und Frieden; zurück zu alten, konservativen Vorstellungen von Krieg, Gewalt, Zwang und Blasphemiegesetzen.
Daher ist dies ein Aufruf an alle Linken, zur Vernunft zurückzukehren, selbst angesichts linker Mob-Attacken.
Mein Thema ist strittig, einfach weil es ein vernünftiges Thema ist, weil ich Probleme in meinen Podcasts offen anspreche. Ich mache mich angreifbar, gebe Unwissen zu und strebe nach mitfühlenden Kompromissen, um Frieden zu erlangen. Aber jeder Seite, die mich vereinnahmen will, verweigere ich mich.
Ein Beispiel. In der Sache „Milo gegen die Universität“ sah meine Lösung so aus:
Milo sollte seinen Vortrag halten dürfen. Aber schreibt folgendes in seinen Vertrag: Sobald er einen Studenten hervorzerrt und schikaniert, ist die Rede zu Ende und er muss einen prozentualen Anteil seines Honorars als Buße zahlen dafür, die Regeln der Universität gebrochen zu haben. Alle Demonstranten müssen hundert Meter Abstand vom Eingang des Auditoriums halten, um die Wahrscheinlichkeit von Gewalttaten zu reduzieren.
Beide politischen Extreme hassen das, weil keine der Seiten die Szene dominiert.
Genau. Keiner von euch beiden wird in die Rolle des Unterdrückers schlüpfen. Vernünftige Menschen wollen Gleichberechtigung.
Ein Hoch auf die Vernunft, auch wenn wir dabei Freunde verlieren.
Und so können wir uns vor dem Marsch zurück in die Vergangenheit retten:
Wir vereinbaren, den Blick auf Vernunft, Logik und Evidenz zu richten, nicht auf irgendwelche Klüngel und Mobs.
Gehen wir davon aus, dass wir nicht immun dagegen sind, Falsches zu glauben, nur weil wir die eine große Illusion „Religion“ überwunden haben.
Gebern wir zu, dass Mechanismen der Gruppenpsychologie uns beeinflussen und weigern wir uns, ihnen zu unterliegen.
Lasst uns die Liebe zum Skeptizismus wiedererwecken und ihn auf alle Teile unseres Lebens anwenden, nicht nur auf jene in unserer Komfortzone der Kritik.
Hören wir auf, Menschen mit anderer Meinung zu verteufeln.
Erlauben wir, dass Fragen gestellt werden, ohne hinter ihnen schreckliche Motive zu vermuten.
Und schließlich, benutzen wir bei der Kommunikation die Fähigkeit des aktiven Zuhörens.
Sobald wir das schaffen, können wir ohne Angst vorankommen, uns für das Allgemeinwohl wiedervereinigen und gestärkt gegen die Feinde kämpfen, die versuchen, die Zukunft von Demokratie und Wissenschaft zu zerstören.
Ich glaube, mit etwas Mühe, Selbstkontrolle und aktivem Zuhören können wir auf lange Sicht gewinnen... vernünftigerweise.
Übersetzung: Harald Grundner
David Smalley ist ein Atheist und Stand Up Comedian. Er verbindet seine Liebe zum Entertainment und zu den Medien mit seiner Leidenschaft für Skeptizismus, Wahrheit und Gleichberechtigung durch das Starten von Dogma Debate, einem Podcast, der seinen Focus auf die öffentliche Bildung durch Humor und ungewöhnliche, respektvolle Diskussionen legt.
Twitter: https://twitter.com/davidcsmalley
Kommentare
Sehr schön!
Nur so kann ein friedliches und produktives Zusammenleben gelingen!
Lesenswert sowohl für Atheisten als auch Theisten, für Linke und Rechte, für Progressive und Konservative (wobei ich mich wahrscheinlich in allen genannten Bereichen von Herrn Smalley unterscheide - aber ich denke, wir könnten miteinander reden, ohne nachher aufeinander böse zu sein).
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