Vom „depressiven Formenkreis“ zum Massenmord?

Nach jeder Bluttat zittere ich erneut. Zunächst einmal im Schock über die Grausamkeit, die wieder einmal angerichtet wurde. Nein, solche Eindrücke dürfen nicht zum Alltag werden. Sie ermahnen uns zum Innehalten.

Vom „depressiven Formenkreis“ zum Massenmord?

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Und doch warte ich dann stets auf diesen einen Satz – und fürchte mich. „Der Täter war offenbar psychisch krank“, immer öfter hören wir diese Aussage bei Katastrophen, bei einzelnen Amokläufern, ob nun damals in Winnenden, in der „Germanwings“-Maschine über den Alpen oder jetzt im Einkaufszentrum in München.

Warum mich diese Zuschreibung ängstigt – und gleichzeitig empört? Wenn man, wie ich, selbst seelisch erkrankt ist, wird man in den folgenden Tagen und Wochen nach solchen Ereignissen immer wieder gefragt, muss sich rechtfertigen, sein eigenes Leiden ausbreiten – und feststellen: „Nein, nicht jeder, der eine Depression hat, wird zum Massenmörder“. Doch scheinbar vermitteln uns Politik und Medien ein anderes Bild. Aus den verkürzten Darstellungen, den Schlagzeilen und dem Sensationsinteresse von Presse und Konsumenten ergeben sich einfache Aneinanderreihungen. Psychisch labil bedeutet unberechenbar, potenziell gefährlich bedeutet Gewaltverbrecher.

Trotz langer Aufklärung ist es für Menschen mit seelischen Leiden bis heute eine große Herausforderung, sich gegen die Diskriminierungen in der Gesellschaft zu wehren. Noch immer kreisen die Vorstellungen von Irrenanstalten, Gummizellen und Zuchthäusern in den Köpfen, nicht selten werde auch ich gefragt, weshalb ich denn noch frei herumlaufen dürfe. „Verrücktsein“ im Sinne der vollkommenen Abnormalität, diese Verknüpfung wird nicht nur auf Menschen mit schwersten psychiatrischen Erkrankungen angewandt. Schon derjenige, der im Betrieb wegen BurnOuts fehlt, dürfte hinterher schräg beäugt werden. Nicht mehr zu funktionieren, und das aus Gründen, die das Gegenüber nicht sehen kann, das wirkt unbegreiflich. Was wir nicht fassen können, glauben wir nicht – und unterstellen gern einmal, dass der Betroffene nur simuliert oder im Zweifel eben vollkommen abgedreht ist.

Die Ausgrenzung ist ein Symptom für dieses herabwürdigende Verhalten. Als wenn es das einzige Persönlichkeitsmerkmal eines Menschen wäre, seine Depression, seine Psychose, seine Angst. Auf den Pressekonferenzen nach den Massakern wird solch eine Neuigkeit wie ein alles erklärender Lösungsansatz verkündet. Nach dem Motto „Ach, der war ja psychisch krank, dann passt das hier ins Bild“. Die Akte ist geschlossen, weil man unter diesen Umständen ja nichts Anderes erwarten konnte. Minutiös wird dann daran gearbeitet, woher welche Waffe kam, wie der Täter von A nach B gelangte oder welche Kleidung er trug. Man mag nur hoffen, dass sich die Ermittler genauso umfangreich mit der offenkundigen Tragödie beschäftigen, die sich im Leben eines Attentäters vor seinem Angriff zugetragen hat. Denn mit einer pauschalen Etikettierung als „psychisch Kranker“ sind wahrlich keine Hintergründe identifiziert, sondern lediglich Vorurteile bedient worden.

Bauen wir genügend Brücken?

Wenn wir uns nun wieder damit beschäftigen, welche innenpolitischen Maßnahmen wir ergreifen können, um adäquat auf die Vorkommnisse der vergangenen Wochen zu reagieren, setzen wir an der falschen Stelle an. Noch ein paar Videokameras mehr, weitere Kontrollen flächendeckend und am besten Fingerabdrücke, Bilder und Daten von jedem. Schlussendlich bleibt im viel gepriesenen Verhältnis von Sicherheit und Freiheit von letzterer nicht mehr viel übrig. Wir reagieren nur, wir fragen viel zu wenig nach den Ursachen. In den vielen Kerzenmeeren, die zum Gedenken an die Opfer aufgestellt werden, findet sich immer wieder ein Schild mit dem „Warum?“. Anscheinend ist es uns aber zu kompliziert, genau diese Frage beantworten zu wollen. Ursachenbekämpfung statt den Knüppel neuer Gesetze – sie würde nicht nur präventiv manche Wurzel ergreifen, sondern auch dabei helfen, Denkmuster zu verstehen und frühzeitiger zu intervenieren. Haben wir  tatsächlich ausreichend Anlaufstellen, die niederschwellig unterstützen können, wenn Betroffene oder Angehörige nach Hilfe suchen? Blicken wir oft genug in Familien, die möglicherweise Schwierigkeiten haben? Bauen wir genügend Brücken, um psychisch Kranke in unsere Mitte zu integrieren?

„Baller-Spiele“ sollen mit dafür verantwortlich gewesen sein, dass in der bayerischen Hauptstadt geschossen wurde. Verehrung für den Amokläufer in Winnenden – und für den Osloer Angreifer. Der Verlust über die Realität, nicht selten sind das Zurückziehen in die Welt der Gewalt und die Ohnmacht über die Trennung zwischen Fiktion und Wirklichkeit Ausdruck von dieser viel besagten Depression. Doch nein, dann hilft eben nicht der Stempel, denn er bringt seelisch leidende Menschen weiter in die Defensive. Sie gehen der Gesellschaft verloren und rutschen ab. Zwar entscheiden sich glücklicherweise nur die wenigsten von ihnen, auf diese Kränkung mit Aggression zu reagieren. Aber wir müssen uns bei jedem Einzelnen auch selbstkritisch befragen. Letztendlich trägt der Täter Verantwortung für sein Handeln, doch sind wir nicht indirekt auch ein Stück weit Schuld, indem wir die Augen verschließen und die zurücklassen, die beispielsweise in der Schule nicht mehr mitkommen, wie es beim Schützen in München der Fall gewesen sein soll? Erfolgs- und Leistungsdruck, Versagensängste, sozialer Abstieg und Ghettoisierung – ein Weltbild des Ignorierens macht sich breit, wenn der Nachbar, Freund, Bekannte erst einmal in diese Spirale gesogen wurde.

Nein, jetzt kann niemand mehr beantworten, ob das Blutbad zu verhindern gewesen wäre. Die Frage stellt sich nun auch nicht länger. Und dennoch ermahnt diese Tat: Gehen wir nicht einfach in den Alltag zurück, indem wir eine rasche Begründung für das Monströse gefunden haben, sondern nehmen wir die Aufforderung aus diesem Schreckensereignis mit. Machen wir es uns nicht zu leicht mit Problemen in unserer Gesellschaft, von denen diese Katastrophe einige zutage führte. Blicken wir genauer hin, wenn es um unsere Nächsten geht, ob als Zivilgesellschaft oder als Staat. Denn Brandmarken macht alles nur schlimmer, frühzeitiges Eingreifen kann dagegen Leben retten…

Kommentare

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    Heike Pfennig

    Danke für die Ausführungen. Ich stimme voll und ganz zu. Es erklärt sehr gut, was mich gerade sehr frustriert.

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      Norbert Schönecker

      "Er war psychisch krank" kann durchaus eine zutreffende (aber nicht ausreichende) Erklärung für einen Amoklauf sein. Genauso, wie "Er hatte Schulden" eine zutreffende (aber nicht ausreichende) Erklärung für einen Banküberfall sein kann. Trotzdem sollen weder alle psychisch Kranken noch alle Kreditnehmer eingesperrt oder auch nur kritisch beäugt werden.
      Ich gebe Herrn Riehle völlig recht: Wie gehen wir psychisch Kranken um? Sie haben spezielle Bedürfnisse, die teils medizinisch (im Fall einer echten Psychose), teils therapeutisch (bei einem Traume) behandelt werden müssen. Manchmal, z.B. bei harmloseren Phobien, braucht es einfach ein wenig Rücksicht der Mitmenschen.
      Manche schwer psychisch kranke Mitmenschen, die aufgrund ihrer Erkrankung eine Gefahr für ihre Mitmenschen darstellen, muss man aber in einem ersten Schritt vor die Wahl stellen: Behandlung oder Sicherheitsverwahrung. Wenn Paranoia einen Teil einer solchen Erkrankung ausmacht, dann wird sich der Kranke vielleicht genau deshalb einer medikamentösen Behandlung widersetzen. Was soll man dann tun? Es ist traurig, aber ein solcher Mensch ist möglicherweise wirklich eine ernsthafte Gefahr für seine Mitmenschen. Ein unkontrolliertes Leben im Öffentlichen Raum wird ihm nicht gewährt werden können.
      Das Problem, das Herr Riehle anspricht, kommt wahrscheinlich - wie so oft - daher, dass der durchschnittliche Staatsbürger zu wenig informiert und dadurch leicht manipulierbar ist. Wer Depressionen, Persönlichkeitsstörungen, Traumata und Psychosen alle durcheinander in einen Topf wirft, der wird schnell vor allen Menschen Angst haben, die jemals in psychotherapeutischer oder psychiatrischer Behandlung waren.
      Nachbemerkung: Nach meiner keineswegs wissenschaftlich überprüften Beobachtung sind fast alle Terroristen und Amokläufer Männer. Und trotzdem stelle ich Männer nicht allgemein unter Terrorismusverdacht. Fürchtet euch nicht!

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