Von der Notwendigkeit „böse“ zu sein

Wie konnte es passieren?

Von der Notwendigkeit „böse“ zu sein

Foto: Pixabay.com / Fotorech

Es ist ein Trend: Homer und Platon, Frankreichs „Ethnien blinder Universalismus“, die „republikanischen Werten“ - alles Westeuropäische wird in diesem unseren ach so fortschrittlichen 21. Jahrhundert mit größter Genugtuung dämonisiert. Als hafte ihm Anrüchiges an, diesem Zerbrechlichen, das sich im mühsamen Kampf gegen das Religiös-Totalitäre endlich ein wenig durchgesetzt hat. Als seien das die Mittel, Gesellschaften zu unterdrücken. Kritisches, freies Denken, Aufklärung, Laizismus mutieren so zu retrograden UN-Werten.

Das ist erschütternd. Wie konnte es passieren?

Nun, ich denke, man kann allerlei Erklärungen, politische, soziologische, psychologische, heranziehen. Im Grunde aber ist hier eine sträflich-zersetzende Verkennung historischer Tatsachen am Werke.

Denn die Sache sieht so aus:

Von „Angst“ über „Eigentum“, „Sprache“, „Nepotismus“ und „Tabus“ bis hin zu „Versen“ oder „Zuneigung“ - der menschliche Urgrund ist überall der gleiche. Wir sind tatsächlich das „Universalvolk“, dessen Merkmale der Anthropologe Donald Brown schon vor dreißig Jahren aufgelistet hat. Dieses unser Menschsein hat rund um den Globus magisch-geprägte, patriarchalische Gesellschaften hervorgebracht. Auch unsere Hochkulturen ähnelten deshalb immer einander wie ein Ei dem anderen: Despotien, mit Königen und Priesterkasten an der Spitze, die ihre Untertanen ausgewrungen haben. Ob in Ägypten, Mexiko oder Peru: Heere von Sklaven haben Pyramiden, Tempel und Denkmäler erbaut. Geschichte ist eine lange Aneinanderreihung von Krieg, Vertreibung, Ausbeutung, Vergewaltigung, Grausamkeit: „Ich schnitt ihnen die Eier ab, riss ihre Schwänze aus wie Gurkenschösslinge und hackte ihre Hände ab …“, heißt es in den Annalen des Sanherib.

Wer wissen möchte, wie tief verwurzelt dieses unser Erbe ist, braucht nur einen Seitenblick auf unsere Cousins, die „Killerschimpansen“, zu werfen. Daher: Wären, sagen wir, Azteken über den Ozean gesegelt, hätten sie Europa erreicht, nun, sie hätten kaum weniger gewütet als die Spanier in Amerika. Und was „Aneignung“ betrifft - der Name der römischen Kirche „Santa Maria sopra Minerva“ veranschaulicht, genauso wie die Minarette um die Hagia Sophia, auf welche Weise Geschichte eine Schicht über die andere legt.

Angesichts der Alltäglichkeit von Gräueltaten mutet es fast erstaunlich an, dass Geschichte auch anderes aufweist, Kunst, Wissenschaft, Gesetze, dass sie Sanftheit, Gerechtigkeitssinn, Wissensdurst nicht einfach wegselektiert hat. Liebevoller Umgang mit dem eigenen Nachwuchs, Kooperation, genaue Kenntnis der Umgebung sind jedoch lebensnotwendig und deshalb evolutionsgeschichtlich keine Ausnahme.

Der wirklich qualitative Sprung in der Evolution beginnt, nun ja, in Griechenland und Rom: mit der Emanzipation des Individuums. Dank seiner gewinnen Individualrechte langsam aber stetig an Bedeutung. Dank seiner entwickeln sich Demokratie und Meinungsfreiheit. Dank seiner driften Kirche und Staat auseinander. Dank seiner kann Wissenschaft autonom werden. Und die Verbundenheit, die einst der Sippe, dem Clan, dem Volk galt, weitet sich auf die ganze Menschheit aus. Mag sein, dass „universell“ ein etwas vollmundiger Terminus ist (das Universum hat sich der Mensch noch nicht untertan gemacht), der Allgemeingültigkeitsanspruch der Erkenntnis, dass wir alle Individuen sind, vergänglich und daher umso kostbarer, verdient schon unterstrichen zu werden.

Es ist schwer auszudenken, wie unser Leben ohne diese globalgültigen Werte aussähe. Der Versuch, sie zu „relativieren“, zu „dekonstruieren“, eigentlich: zu verteufeln, ist fatale Regression. Man kann es nicht oft genug betonen: Gerade diese Leistung Europas, in der Antike begründet (sie war ein Segen, diese Antike, und kein „Fluch“, wie die FAZ titelte!), ist das Höchste, was der homo sapiens bisher hervorgebracht hat.

Die Freiheit des Individuums

Nun bedeutet Freiheit des Individuums selbstverständlich, dass dieses tun, sagen und glauben kann, was immer es mag. Es darf hundert Kreuze schlagen oder zig Mal am Tag die „Größe“ einer Nichtexistenz anrufen. Es darf ja auch rauchen. Sich zu Tode fressen. Oder sich auspeitschen lassen.

Stellt das gläubige Individuum seinen „Glauben“ jedoch ständig zur Schau, kann es irgendwann mit der Realität der anderen, Nicht-Gläubigen, konfrontiert werden, die, horribile dictu!, durchaus das Recht haben, den Inhalt jenes „Glaubens“ zu hinterfragen und ihn eventuell als „hoffnungslos überholt“ zu etikettieren. Ja, sie können sogar einwenden, dass die Freiheit von Religion zu einem besseren, schöneren, frischeren Leben führt, als die Religionsfreiheit.

Gläubige Individuen verstehen es aber meisterhaft lästigen Widerspruch im Keim zu ersticken. Sie verschanzen sich hinter „Befindlichkeiten“ und beanspruchen eine Samthandschuh-Behandlung: „Respekt“ für ihre Gefühle, weil sie sonst „verletzt“ werden. Und wenn sie „verletzt“ werden, sind sie „Opfer“, die, wie wir ja alle wissen, so gar keinen Spaß verstehen. Lachen ist ja verletzend. Lachen, Hinterfragen, Zweifeln ist Tat. Böse Tat. Nur allzu folgerichtig daher, dass die Urheber dieser bösen Taten, diese Täter verfolgt, erschossen, gar auf offener Straße geköpft werden. Sie haben das Gute angegriffen. Weil sie dem Bösen anheimgefallen sind. Glasklar sind hier die Rollen verteilt. In aeternum.

Vor diesem Hintergrund sieht es ganz so aus, als dienten die Gläubigen jener „Generation Beleidigt“, die Caroline Fourest beschreibt, als Vorbild.

Dabei gibt es durchaus auch Andere, Leisere, die Anspruch hätten gehört, geschätzt und auch geschützt zu werden. Atheisten, zum Beispiel, die, global gesehen, eine höchst gefährdete Minderheit darstellen. Ihre grauen Zellen werden von so manchem Glaubensinhalt ständig „beleidigt“. Oder Frauen, die es erniedrigend finden, als „Mensch mit Uterus“, Mütter und Väter, die es ablehnen, als „Elternteil 1/2“ bezeichnet zu werden (steigen Ihnen angesichts dieser entpersönlichenden Holzsprache nicht auch die Haare zu Berge?). Oder Überlebende totalitärer Systeme, die sich plötzlich als „privilegierte Weiße“ unter dem Bann der Kollektivschuld wiederfinden. Oder Intellektuelle, die ihre Vordenker Angriffen ausgesetzt sehen, weil krass unhistorisch bewertende Studenten vor lauter Verblendung nicht verstehen, dass ein Kant oder ein Hume die Menschheit weitergebracht haben (und wie!), obwohl sie Kinder ihrer Zeit waren. Und, last but not least, auch Autoren, denen „Canceln“ blüht, wenn sie den engen Maßstäben des modernen Puritanismus nicht entsprechen.

Philip Roth droht, posthum, dieses Schicksal: wegen seiner (großer Graus, gibt es der Sünde mehr?) „obsession with sex“. In deutschen Landen hat es Robert Greene bereits ereilt: Hanser & dtv haben seine „24 Gesetze der Verführung“ aus dem Programm genommen, weil feministische Aktivistinnen vehement dagegen protestiert haben. „Die Zeiten ändern sich“. Wahrlich. Die Zeiten und die Fähigkeiten auch: Ideologieverstopfte Ohren können die Feinheiten des „Spiels mit der Form“ (eines Ratgebers! der Verführung!) nicht mehr wahrnehmen. Auf dem Müllhaufen der Geschichte damit! Es ist somit nur eine Frage der Zeit, bis Ovid für seine „Ars amandi“ wieder ins Exil geschickt oder Baudelaire wegen Pornographie wieder vor Gericht gestellt wird. Der jakobinische Säuberungswahn kann nur tabula rasa machen.

Literatur aber, Kunst überhaupt, ist, so Benn, immer „eine Zumutung“. Sie kehrt das Innere nach außen, schonungslos, seziert das Sein und hinterfragt, kritischst. Sie muss erkennen und das Erkannte ausdrücken: den Menschen und seine Abgründe, dies Leben und seine dionysisch-grausame Schönheit. Optimistisch, harmlos, nett - das kann sie nicht sein. Sie ist, so Bataille, „böse“.

In diesem Sinne: Vor Jahren las ich Allain Robbe-Grillets „Un roman sentimental“, ein perverses Buch, das mich zu einigen nicht sehr schmeichelhaften Überlegungen über den französischen Literaturbetrieb veranlasste. Ich würde es nie weiterempfehlen. Und dennoch: Drohte diesem Buch das Verbot, ich würde es mit aller Kraft verteidigen. Denn die Tatsache, dass auch solche Bücher erscheinen können, garantiert unser aller Freiheit. Und das umso mehr, als die beiden Bücher, die über Jahrhunderte das größte Leid über diese Erde gebracht haben, gar keiner Gefahr laufen, verboten zu werden. Sie heißen (ich wette, Sie haben es nicht erraten!) Bibel und Koran.

(Foto: Ioana Orleanu)

Ioana Orleanu ist eine Autorin und Übersetzerin (geb. 1964 in Bukarest und seit 1981 in Deutschland (Studium in Bochum). Ihre Veröffentlichungen erschienen u.a. in: manuskripte, LICHTUNGEN, Akzente/Hanser, NZZ, Der Freitag, Die Zeit, Observator Cultural, Cicero.

Sie ist die Herausgeberin der zweisprachigen Anthologien Gottfried Benn. Melancholie, Die Schöne, die vorübergeht u.a. Zuletzt erschienen der Roman Limesland und der Erzählband Zwiegespräch mit Liebeli. Sie lebt in Deutschland und Rumänien.

Kommentare

  1. userpic
    Matthias Freyberg

    Ein toller Artikel, ein mutiger und lebensnaher Artikel.

    Zum Teufel mit den alles erstickenden Jakobinern unserer Zeit!

    Matthias

    Antworten

    1. userpic
      Gerhard Mall

      Der Vormarsch von Religionen lässt sich doch durch die Meme, die Kopie von Verhaltensweisen wie von Susan Blackmore vorgeschlagen, erklären. Evolurionsbiologie halte ich ach die These von einem evolutionär stabilen Gleichgewicht zwischen Tauben und Falken für zutreffend. Daraus folgt natürlich auch, dass gelegentlich auch ein Depp oder ein Gangster die Tür zum Erfolg des Homo sapiens aufstösst, allerdings nur gelegentlich, was oft übersehen wird. Der Autorin ist zuzustimmen, wenn sie darauf rekurriert, dass der einzige rationale Maßstab der modernen Welt empirisch falsifizerbare Theorien sind. Dies ist jedoch ein pragmatischer, kein ontologisch zwingender Schluss. Ich erinnere an den Dissens zwischen Popper und Wittgenstein. Ich selbst bin Popperianer, bin mir aber darüber im Klaren, dass dies Geschmackssache und nicht philosophisch zwingend ist.

      Antworten

      1. userpic
        Otto E

        Ein wirklich sehr guter Artikel. Leider hat man zur Zeit verstärkt das Gefühl, dass menschliche Errungenschaften des Zusammenlebens und der Demokratie immer mehr zurück gedrängt werden. Und in der Tat werden die stillen Menschen nicht genügend gehört. Es driften nicht nur Religion und Staat, sondern auch immer mehr Staat und Bürger auseinander. "Bist Du nicht meiner Meinung, dann nieder mit Dir".

        Gruß

        Otto

        Antworten

        1. userpic
          Horst Oberbeil

          Der Artikel rennt offene Türen ein und bringt keine neuen Erkenntnisse, ein Rundumschlag, voller Generalisierungen und Klischees.

          Antworten

          Neuer Kommentar

          (Mögliche Formatierungen**dies** für fett; _dies_ für kursiv und [dies](http://de.richarddawkins.net) für einen Link)

          Ich möchte bei Antworten zu meinen Kommentaren benachrichtigt werden.

          * Eingabe erforderlich