Wie die Cancel Culture den Fortschritt bedroht

Und was wir alle für eine freie Debattenkultur tun können

Wie die Cancel Culture den Fortschritt bedroht

Foto: Pixabay.com / jarmoluk

Seit Jahren mehren sich Fälle, in denen Wissenschaftler oder Personen aus Politik und öffentlichem Leben von Vorträgen, Diskussionen oder dem Lehrbetrieb ausgeschlossen werden, weil sie von Meinungen, die dem vorgeblich progressiven Zeitgeist folgen, abweichen. Betroffen davon wurden zum Beispiel der Politikwissenschaftler Herfried Münkler, der Historiker Jörg Baberowski, der Wirtschaftswissenschaftler Bernd Lucke, der Politikwissenschaftler Martin Wagener oder die Biologin Marie-Luise Vollbrecht, um nur einige der prominentesten zu nennen. Sie wurden alle Opfer unfairer und unwissenschaftlicher Angriffe, der Diffamierung und des Ausschlusses aus wissenschaftlichen Debatten. Immer mehr Hochschullehrer beklagen die Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit. Als Ursachen dafür nennen sie bestimmte ideologische Vorgaben, Leitlinien der sog. Politischen Korrektheit und die an deutschen Hochschulen sich breit machende Intoleranz.(1)

Dabei gehören die Meinungs- und die Wissenschaftsfreiheit zu den wichtigsten Errungenschaften der westlichen Zivilisation. Die Meinungsfreiheit wird als das Recht bestimmt, die eigene Meinung ungehindert zu äußern. Dieses Recht wird im Gefolge der europäischen Aufklärung als ein allgemeines Menschenrecht proklamiert.

Der Mensch muss das Recht haben, seine Meinung öffentlich zu äußern, das bedeutet, die Ergebnisse seines Nachdenkens einem breiten Publikum mitzuteilen und somit zur Prüfung vorzulegen. Die Meinungs- und die aus ihr abgeleitete Wissenschaftsfreiheit sind somit ein notwendiges Instrument der Wahrheitsfindung. Die öffentliche Prüfung ist ein wichtiger Bestandteil von Wahrheitsfindung. Das wiederum ist eine Bedingung für den Fortschritt. Ein freier Diskurs, in dem die Wahrheit von Aussagen festgestellt wird, ist eine Grundlage für die Weiterentwicklung der Menschheit.

Darüber hinaus sind das freie Äußern und Konkurrieren von Meinungen eine Voraussetzung für das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft. Bestimmend für die Demokratie sind nicht Harmonie und Einklang, sondern Widerspruch, Streit und Konflikt – übrigens bereits in der Demokratie des klassischen Griechenlands. Die Demokratie zeichnet sich durch Meinungsvielfalt, Pluralismus und nicht durch eine Einheitsmeinung aus.

Das im Gefolge der europäischen Aufklärung postulierte Recht auf Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit wurde in den Menschenrechtserklärungen, den Verfassungen der Nationalstaaten und den Rechtskonventionen übernationaler Gemeinschaften festgeschrieben. Im Artikel 5 des deutschen Grundgesetzes heißt es zur Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit:

„(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt. (2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre. (3) Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.“

Die Wissenschaftsfreiheit betrifft die Freiheit von Lehre und Forschung. Wissenschaftler haben das Recht, den Inhalt und die Methode ihrer Lehrtätigkeit selbst zu gestalten, und sie haben das Recht, den Inhalt und die Methode ihrer Forschung selbst zu bestimmen.

Das Recht auf Freiheit der Wissenschaft stellt nicht nur ein Abwehrrecht gegen öffentliche, meist staatliche Eingriffe, sondern auch ein Schutzrecht dar. Es gewährt dem einzelnen Wissenschaftler einen Freiraum, innerhalb dessen seine wissenschaftliche Arbeit in Forschung und Lehre sowie die Verbreitung wissenschaftlicher Inhalte geschützt sind. Die Schutzpflicht wird dabei von der jeweiligen Hochschule oder wissenschaftlichen Organisation und vom Staat übernommen.

Von der Wissenschaftsfreiheit gedeckt sind die Wahl der Forschungsthemen und der wissenschaftlichen Positionen sowie die Bezugnahme auf unterschiedliche, auch kontroverse Forschungsergebnisse.

Geschützt vom Recht auf Wissenschaftsfreiheit sind auch Positionen, die zu den in der Wissenschaft und auch in der Gesellschaft herrschenden Auffassungen kritisch stehen oder ihnen widersprechen, und zwar insofern sich diese Positionen an wissenschaftliche, vor allem methodologische Standards halten, ferner insofern sie nicht gegen die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland verstoßen.

Das Recht auf Wissenschaftsfreiheit garantiert, dass es in der Wissenschaft unterschiedliche, zum Teil sich widersprechende Positionen, also eine Pluralität von Positionen, geben kann. Kritische Positionen sollen aus dem Forschungsprozess nicht ausgeschlossen, sondern in ihn einbezogen werden.

In diktatorischen Systemen wird die Wissenschaftsfreiheit grundsätzlich eingeschränkt. Das Verbot von Büchern, Texten und anderen Medien ist geradezu ein Merkmal solcher Systeme – im 20. Jahrhundert von Faschismus, Kommunismus und Sozialismus perfektioniert. Aktuelle Diktaturen nutzen zudem moderne Überwachungs- und Repressionsmethoden, um unliebsame Diskurse zu unterdrücken und die Wissenschaft weitgehend oder ausschließlich für Staatszwecke zu instrumentalisieren. So unterdrückt etwa die kommunistische Partei Chinas mit alten stalinistischen und modernen technologischen Methoden freie Forschung in und über China. Gleiches gilt in zunehmendem Maße für Russland. Beide diktatorischen Systeme versuchen überdies Einfluss zu nehmen auf die ausländische Forschung über ihre Länder. Das Paradebeispiel ist China, das mit finanzieller Förderung bestimmter Projekte und Institutionen sowie Partnerschaftsvereinbarungen mit deutschen Hochschulen die hierzulande betriebene Forschung über China zu steuern versucht. Es sei hier betont, dass die in diesem Band behandelten Angriffe auf die Wissenschaftsfreiheit innerhalb der westlichen Demokratien nicht im Kontext solcher totalitären Methoden zu sehen sind, sondern im Zusammenhang anderer gesellschaftlicher und wissenschaftspolitischer Entwicklungen gesehen werden müssen.

Unliebsame Diskurse zu verhindern, das ist seit den 1990er Jahren in den angelsächsischen und westeuropäischen Ländern das Ziel der Cancel Culture. Dazu gehört der Versuch, Texte oder auch gelegentlich Bilder im Sinne bestimmter ideologischer Vorgaben zu korrigieren, von missliebigen Wörtern oder Chiffren zu reinigen und sie aus dem universitären und schulischen Repertoire zu verbannen.

Mit dem Aufkommen der digitalen Kommunikation bilden sich zurzeit neue Methoden von Eingriffen in die Wissenschaftsfreiheit aus. In den sozialen Netzwerken der Internetgesellschaft wird das sogenannte Deplatforming, also der Ausschluss bestimmter Gruppen oder Akteure von Online-Plattformen, zur Ausschaltung von Meinungen und demnach zur Einschränkung von Meinungsfreiheit genutzt, wodurch auch wissenschaftliche Meinungsäußerungen betroffen sein können. Aber auch politische Festlegungen wie aktuell die Vorgabe der neuen Bundesregierung von 2021, wissenschaftliche Publikationen standardmäßig in der Form von Open Access vorzulegen, greifen in den Bereich der Wissenschaftsfreiheit ein. Auf diesem Feld ist noch nicht entschieden, ob die Hinwendung zu Open Access am Ende mehr oder weniger Wissenschaftsfreiheit ermöglichen wird.

Die aktuelle Debatte um die Wissenschaftsfreiheit im deutschen Wissenschaftssystem findet auf unterschiedlichen Schauplätzen und Ebenen statt.(2) Es ist eine Auseinandersetzung um Deutungshoheiten und Einfluss – letztlich eine machtpolitische und weltanschauliche Konfrontation, die aus den Entwicklungen an deutschen Hochschulen und anderen Wissenschaftsorganisationen sowie der Gesellschaft insgesamt in den letzten gut 50 Jahren resultieren. Grundsätzlich muss dabei zwischen zwei Themenfeldern differenziert werden, die im Zusammenhang mit den Fragen nach der Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit eine Rolle spielen:

Das erste Themenfeld, auf dem es zu Eingriffen in die Wissenschaftsfreiheit kommt, ist ein Resultat systemischer Veränderungen im deutschen Wissenschaftsbetrieb des letzten halben Jahrhunderts. Seit den frühen 1970er Jahren ist das akademische System von einer zunehmenden Bürokratisierung und Stärkung von Verwaltungsstrukturen geprägt. Als Eckpunkte dieser Entwicklung seien hier stichwortartig genannt: die politisch motivierte Beschneidung der Rechte der Professoren (Abschaffung der sogenannten Ordinarienuniversität), die Auflösung der alten Fakultäten und die Aufsplitterung in unzählige Fachrichtungen (man denke an die geradezu absurde Zahl von – Stand 2021 – mehr als 20.000 unterschiedlichen Studiengängen an deutschen Hochschulen), die Etablierung von neuen Leitungsgremien und sogenanntem Qualitätsmanagement, die Verschulung der Lehre durch den Bologna-Prozess und die Bewertung wissenschaftlicher Leistungen durch quantitative Faktoren wie die Zitierhäufigkeit (Impact-Faktoren) sowie die Ausrichtung auf Drittmittelprojekte und die damit verbundene „Antragsmaschinerie“. Die durch diese Prozesse etablierten Strukturen haben insofern Einfluss auf die Wissenschaftsfreiheit, als durch sie bestimmte Personengruppen, Themen und Positionen präferiert wurden und werden. Im Ergebnis kommt es zu einer zunehmenden Einflussnahme von Leitungsgremien und Institutionen auf die Auswahl von Personen und Themenwahl, zu einer Verengung auf im Ranking erfolgversprechende Themen sowie zu einer Ökonomisierung des Wissenschaftsbetriebes. Kurz gesagt: Vor allem in den Kultur- und Sozialwissenschaften fließt Geld fließt vor dann, wenn die „richtigen Personen“ die „richtigen Themen“ mit den „richtigen Schlagworten“ beantragen. Aber auch in den Naturwissenschaften müssen Antragsteller zumindest bestimmte Schlagworte bedienen, die von den großen Wissenschaftsorganisationen inzwischen vorgegeben werden, die einen Großteil der Drittmittel ausschütten. Aber auch der Industrie- und Finanzsektor nimmt über Kooperationen, Projektgelder und Stiftungsprofessuren Einfluss auf die Wissenschaft. Wirkliche Autonomie der Wissenschaft ist hier nur durch Distanz zu den Geldgebern möglich, insbesondere wenn es sich um Wirtschaftsunternehmen handelt, die direkte kommerzielle Interessen mit ihrem Engagement verbinden.

Diskreditierung mit moralisierenden und politischen Wertungen

Das zweite Themenfeld umfasst die Versuche bestimmter Gruppen, mit moralisierenden und politischen Wertungen wissenschaftliche Positionen und Personen zu diskreditieren – die zurzeit auch in den Medien vieldiskutierten Themen Cancel-Culture und Political Correctness. Diese Phänomene müssen ebenfalls vor dem Hintergrund politischer und hochschulpolitischer Auseinandersetzungen seit den späten 1960er Jahren gesehen werden. In diesen Konflikten stehen sich Gruppierungen mit unterschiedlichen weltanschaulichen Ansichten gegenüber. Die unter dem akademischen Brennglas entzündeten Konflikte wirken dabei mittels ihrer medialen Präsenz insbesondere in den öffentlich-rechtlichen Medien und den Feuilletons der großen deutschsprachigen Zeitungen weit hinein in Politik und Gesellschaft.

Bereits im Umfeld und in der Folge der sogenannten Studentenrevolte von 1968 war es an den Hochschulen zu Phänomenen wie Störungen, Einschüchterungsversuchen und Diskreditierungen von Wissenschaftlern gekommen, mit denen Gruppierungen aus dem vorwiegend kommunistischen Umfeld versuchten, in ihrem Sinne ideologischen Einfluss auf die Forschung zu nehmen. Dieser Prozess konzentrierte sich naturgemäß auf bestimmte geisteswissenschaftliche Fächer, spielte dagegen eine untergeordnete Rolle in „harten Fächern“ wie Medizin, Jura oder den Naturwissenschaften. In den Geisteswissenschaften kam in der folgenden Generation eine ganze Reihe von Vertretern der sogenannten 68er in führende akademische Positionen, wobei sie häufig dann ihre revolutionäre Einstellung ablegten, wenn es um ihre eigenen nun erlangten Privilegien ging.

Ein wichtiger Faktor für die Situation an den deutschen Universitäten ist der AStA, die sogenannte Studentenvertretung (oder Studierendenvertretung, wie man im Gendersprech sagen würde). Aufgrund des Desinteresses des überwiegenden Teils der Studenten an hochschulpolitischen Fragen ist es kommunistischen und linksradikalen Gruppen seit den 1970er Jahren bis heute gelungen, den AStA als eine ultralinke Organisation mit Überschneidungen zur radikalen Antifa innerhalb der Hochschulen zu etablieren. Canceln und denunzieren gehören dabei durchaus zum Repertoire der Studentenvertreter. Der AStA ist einer der Hauptreiber für Aktionen gegen missliebige Wissenschaftler, denen dann Rassismus, Sexismus oder gleich Faschismus vorgeworfen wird. Häufig haben Vertreter des AStA ebenso wie Frauen-, Gleichstellungs- und Diversity-Beauftragte über Gremienarbeit an den Hochschulen einen direkten Draht zur Hochschulleitung oder setzt diese mit den ihr eigenen Mitteln unter Druck.

Seit den 1990er Jahren steigt die Einflussnahme bestimmter gesellschaftlicher Gruppen, die innerhalb und außerhalb des Wissenschaftsbetriebs moralisierende Positionen vertreten. Es handelt sich um Interessenvertretungen bestimmter Gruppen, die sich selbst als marginalisiert, also im gesellschaftlichen Sinne strukturell benachteiligt, einstufen und daraus weitreichende Ansprüche ableiten, wie etwa das exklusive Recht, über bestimmte Dinge sprechen und bestimmte Themenfelder untersuchen zu dürfen. In einigen Bereichen des Wissenschaftsbetriebes haben die Vertreter solcher ideologischer Konstrukte inzwischen die Deutungshoheit erlangt, so etwa in den sogenannten Gender Studies oder den Postcolonial Studies.

Es gelingt ihnen zunehmend, bestimmte von ihnen vertretene moralisierende Ansprüche im akademischen und medialen Umfeld zu verankern und abweichende Meinungen zu diskreditieren. Dies betrifft inzwischen die Themenbereiche Kolonialismus und seine Folgen, den gesamten Bereich des Feminismus einschließlich Gender-Mainstreaming und das Theoriemodell der Gender Studies, Familienmodelle und sexuelle Diversität, Fragen der Tierhaltung, Tierversuche und Gen-Technik, Ursachen und Folgen von Klimaentwicklung, Rüstung und Formen der Energienutzung, die Einschätzung von Migration als historisches und aktuelles Phänomen und in diesem Kontext auch die Debatten um den Einfluss des politischen Islam und die europäischen Werte sowie zuletzt die Fragen nach der Einschätzung der Maßnahmen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie.

Wissenschaftler, die von solchen moralisierenden Vorgaben abweichende Thesen vertreten, werden meist von Hochschulangehörigen (Studenten und Dozenten) und von hochschulexternen Aktivisten angeprangert. Der Präsident des Deutschen Hochschulverbandes Bernhard Kempen betont:

„Die Freiheit der Wissenschaft ist in Gefahr. Es ist nicht der Staat, der sie bedroht, es sind die Akteure des Wissenschaftssystems selbst, die einen schleichenden Aushöhlungsprozess in Gang gesetzt haben. Er zeigt sich an der Engführung des wissenschaftlichen Diskurses auf einigen Forschungsfeldern wie der Klimaforschung, der Genderforschung, der Migrationsforschung, der Geschichtsforschung … Der Deutsche Hochschulverband verzeichnet eine signifikante Häufung von Fällen, in denen sich Wissenschaftler in ihrer Freiheit durch wissenschaftsimmanente Mechanismen oder ´political correctness` zunehmend eingeengt fühlen.“(3)

Nach Kempen sind es in erster Linie Studenten und Wissenschaftler, die „ihrer eigenen Freiheit ein Grab schaufeln“. Allerdings bleibt der Staat dabei nicht unschuldig, denn er schafft rechtliche und organisatorische Bedingungen, unter denen die Freiheit der Wissenschaft leidet. Und er setzt ideologische Konzepte in die politische Praxis um, wie das am Beispiel des Konzepts „Gender-Mainstreaming“ und seiner politischen Umsetzung in der Wissenschaft und anderen wichtigen Bereichen der Gesellschaft beobachtet werden kann (siehe unten).

Je nach Themenfeld werden den angegriffenen Wissenschaftlern „Rassismus“, Klassismus“, „Biologismus“, „Sexismus“, „Homophobie“, „Neokolonialismus“, „Rechtsextremismus“, „Militarismus“ und ähnliches vorgeworfen oder auch nur das Etikett des „alten weißen Mannes“ angeheftet, das schon an sich ein Paradoxon ist, weil es ja offensichtlich selbst rassistisch, sexistisch und altenfeindlich unterlegt ist. Zweck dieser Diffamierung ist es, kritische Wissenschaftler aus akademischen Projekten und Debatten auszuschließen. Ferner sollen bereits laufende Projekte, die bestimmten ideologischen und politischen Vorstellungen nicht entsprechen, verhindert werden. Auch Publikationen entsprechender Forschungsergebnisse sollen unterbunden werden. Des Weiteren wird versucht, Gastvorträge, zu denen Wissenschaftler oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens eingeladen werden, zu verhindern.

Nicht selten wird verlangt, die Betroffenen aus ihren Positionen zu entfernen. Oder sie werden zum Rücktritt aufgefordert. Einige können diesem Druck nicht standhalten und ziehen sich aus dem akademischen oder öffentlichen Leben zurück. Das Ziel dieser politischen Strategie ist es, Meinungen, die dem als progressiv geltenden Zeitgeist widersprechen, sowie Personen, die diese Meinungen vertreten, aus der Wissenschaft oder dem öffentlichen Leben zu verbannen.

Bezeichnend ist, dass man sich dabei kaum mit den Argumenten des angegriffenen Wissenschaftlers auseinandersetzt, sondern den Fokus auf seine Person, Gruppenzugehörigkeit oder Herkunft legt. Die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf die Person des Wissenschaftlers hat den Zweck, erstens einer sachlich-argumentativen Auseinandersetzung mit seinen Argumenten aus dem Weg zu gehen und ihn zweitens zu diskreditieren, um ihn dadurch aus der Debatte auszuschließen.

Mit Ad-Personam-Angriffen wird bewusst auch ein schlechtes Licht auf die Tätigkeit des Wissenschaftlers geworfen. Ist er als Person erst einmal diskreditiert, kann er auch als Wissenschaftler nicht mehr ernst genommen werden. Überdies kann er nicht als seriöser Ansprechpartner bei bildungs- und hochschulpolitischen Anliegen in Frage kommen. Er steht als Entscheidungsträger in der Wissenschaft auf verlorenem Posten.

Die beliebteste Ad-Personam-Strategie besteht darin, den Wissenschaftler politisch in die rechte Ecke zu stellen. Er wird zu diesem Zweck als „frauenfeindlich“, „homophob“, „transphob“, „islamophob“, „rassistisch“ usw. bezeichnet – alles Attribute, die ihn zu einem „Rechten“ bzw. „Rechtsradikalen“ machen sollen.

Generell wird in den akademischen Debatten zu Themen wie Gender, Rassismus, Homophobie die Person des Wissenschaftlers, genauer: seine Gruppenzugehörigkeit und seine Herkunft, wichtiger als seine Argumente. Beispielsweise wird immer häufiger einem Mann das Recht abgesprochen, an Debatten über Feminismus und Frauenbewegung teilzunehmen, einem weißen Wissenschaftler über People of Colour zu forschen oder einem Heterosexuellen über die Homosexuellen adäquat zu sprechen. Die Gruppenzugehörigkeit und die Herkunft des Wissenschaftlers werden zur Voraussetzung dafür, dass er sich zu bestimmten Themen äußern darf.

Die Folge all der oben genannten Phänomene ist eine Atmosphäre der Angst und des Misstrauens an manchen Bereichen deutscher Hochschulen. Wissenschaftler trauen sich nicht, ihre Meinung öffentlich zu äußern. Die eigene Meinung wird zurückgehalten, um nicht aufzufallen und geächtet zu werden. Wissenschaftler passen sich den herrschenden ideologischen und politischen Vorgaben an. Um nicht in Schwierigkeiten zu geraten, schränken sie sich dabei selbst in Forschung und Lehre ein. Dadurch entsteht die Haltung des vorauseilenden Gehorsams. Solche Wissenschaftler folgen den herrschenden ideologischen und politischen Vorgaben, auch wenn sie ihren eigenen Überzeugungen zuwiderlaufen.

Dieses Phänomen ist besonders im universitären Mittelbau zu beobachten, denn dort haben die meisten Wissenschaftler befristete Verträge. Jüngere Wissenschaftler vermeiden es, kontroverse Themen anzusprechen, um die Verlängerung der Verträge nicht zu gefährden. Dieses Verhalten wird auf höheren akademischen Karrierestufen, insbesondere bei der Bewerbung um Professuren, beibehalten.

Auch bei der Antragstellung für die Finanzierung von wissenschaftlichen Projekten ist Vorsicht geboten, denn auch Anträge werden der Überprüfung in Bezug auf ideologisch-politische Vorstellungen unterworfen.

Den Verletzungen der Wissenschaftsfreiheit liegen die Ideologisierung und die Politisierung der Wissenschaft zugrunde. Es sind bestimmte ideologische Konzepte, die sich auch an den Hochschulen ausgebreitet haben und freie Forschung und Lehre verhindern: Konzepte wie politische Korrektheit, Gender, Diversity, Anti-Rassismus, Postkolonialismus usw. Sie werden zusammenfassend auch als „Identitätspolitik“ bezeichnet. Unter dem Vorwand des Kampfes für die Rechte von Minderheiten werden Normen für die ganze Gesellschaft und somit auch für die Wissenschaft aufgestellt. Oft nehmen diese Normen die Form von gesetzlichen Regelungen an.

Das Ziel der Gleichstellungspolitik

Als Beispiel dafür gilt hier das Konzept des Gender-Mainstreamings. Es ist nicht bloß theoretisch, sondern greift direkt in die Politik ein; es stellt einen Leitfaden für zahlreiche öffentliche Bereiche dar und findet seinen Niederschlag in gesetzlichen Regelungen. Diesem Konzept zufolge soll die Kategorie Geschlecht (engl. gender) zentral sein und in allen relevanten Bereichen der Gesellschaft, also auch in der Wissenschaft, berücksichtigt werden. Das Ziel der mit Gender Mainstreaming verbundenen Politik, die in Deutschland auch als Gleichstellungspolitik bezeichnet wird, ist es, Ungleichheiten im Verhältnis der Geschlechter aufzuheben, wobei Ungleichheit statistische Ungleichheit, also den Umstand, dass es in bestimmten Bereichen weniger Frauen als Männer gibt, bedeutet. Dieses Ziel wird im Bundesgleichstellungsgesetz und in zahlreichen Landesgleichstellungsgesetzen genannt. Im Idealfall soll dabei das Geschlechterverhältnis 50:50 erreicht werden.

Um die Gleichstellungspolitik durchzusetzen, wurde ein System von Gesetzen, Institutionen und Maßnahmen etabliert: Gleichstellungsgesetze, Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte, Gleichstellungsbüros, Frauenfördernetzwerke, Frauenförderprogramme usw. Im akademischen Bereich beinhaltet das Hochschulrahmengesetz des Bundes (HRG) auf Gleichstellung ausgerichtete Vorgaben: die Einsetzung von Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten, angemessene Vertretung von Frauen in Gremien und die Erhöhung des Frauenanteils in der Wissenschaft. An fast jeder Universität gibt es Förderprogramme, die ausschließlich Frauen vorbehalten sind: Mentoring für Studentinnen und Wissenschaftlerinnen, Netzwerke, Stipendien für Doktorandinnen und Habilitandinnen.

Die Gleichstellungsbüros der Hochschulen kontrollieren die Umsetzung der von der Politik vorgegebenen gesetzlichen Gleichstellungsregelungen. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten. Sie haben weitreichende Befugnisse. Sie nehmen an fast allen Einstellungsverfahren teil, sind unter anderem in Berufungskommissionen vertreten. Dort wachen sie darüber, ob Gleichstellungsgesetze und -regelungen eingehalten werden. Zum Beispiel können sie ein Berufungsverfahren zu Fall bringen, wenn in ihm Abweichungen von den Gleichstellungsgesetzen und -regelungen vorkommen.

Das Konzept des Gender-Mainstreamings wurde in den letzten Jahren um das Diversity-Konzept erweitert. Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte nennen sich nun an vielen Hochschulen Diversity-Beauftragte. Ihre Aufgabe ist es, nicht nur die Interessen von Frauen, sondern auch von anderen „marginalisierten Gruppen“ zu vertreten und allen Diskriminierungsversuchen entgegenzuwirken.

Bezeichnend ist, dass für Frauen-, Gleichstellungs- und Diversity-Beauftragte in erster Linie nicht die Qualifikation der Bewerber, sondern ihre Gruppenzugehörigkeit, wie das Geschlecht, die Hautfarbe, die sexuelle Orientierung oder die Religionszugehörigkeit, zählt. An den Hochschulen sollen nicht mehr die fähigsten Wissenschaftler eine Heimat finden, vielmehr sollen Hochschulen zu Orten degradiert werden, an denen eine Repräsentanz von ausgewählten sozialen Gruppen gewährleistet werden muss. Die Gleichstellungspolitik ersetzt das Prinzip der Bestenauslese durch das Proporzprinzip.

Frauen-, Gleichstellungs- und Diversity-Beauftragte agieren als Politikerinnen und nicht als Wissenschaftlerinnen. Sie setzen an den Hochschulen eine politische Agenda durch. Sie verletzen die Selbständigkeit, die Autonomie der Universität und somit die Freiheit der Wissenschaft, denn zur letzteren gehört auch, dass allein die Wissenschaftler über die Belange der akademischen Welt entscheiden.

Es ist kein Zufall, dass angesichts der oben beschriebenen Situation 2021 in Deutschland das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit gegründet wurde. In dem Netzwerk haben sich Hunderte von Wissenschaftlern unterschiedlicher Fachrichtungen zusammengeschlossen. Ihr Anliegen ist es, die Freiheit von Forschung und Lehre gegen ideologische Einschränkungen zu verteidigen und zur Stärkung eines freiheitlichen Klimas in der Wissenschaft beizutragen. Sie beobachten mit Besorgnis den zunehmenden Einfluss von Moral, Ideologie und Politik auf die Wissenschaft und den daraus hervorgehenden Konformitätsdruck in der akademischen Welt.

Zuletzt sahen sich Anfang 2022 der Akademische Senat und das Präsidium der Universität Hamburg gezwungen, angesichts massiver politisch-ideologisch motivierter Angriffe auf Wissenschaftler der Universität einen Kodex Wissenschaftsfreiheit zu verabschieden. Dieser Kodex benennt konkret die „fehlende Bereitschaft, sich mit Vorstellungen und Inhalten, die als unbequem oder bedrohlich empfunden werden, auseinanderzusetzen“ und liest sich als eine deutliche Reaktion auf die im akademischen Umfeld vorherrschende Cancel-Culture.

Es ist wichtig, dass Wissenschaftler die zentralen Ideale der Wissenschaft und unserer offenen, demokratischen Gesellschaft verteidigen. Einige dieser Ideale seien hier erwähnt:

Das kritische Denken ist sowohl für die Wissenschaft als auch für die öffentlichen Debatten und somit die demokratische Willensbildung zentral. Meinungen dürfen nicht dogmatisch angenommen, sondern müssen hinterfragt werden. Die Wissenschaft lebt davon, dass Argumente und Theorien in Frage gestellt werden und gegebenenfalls durch andere, bessere Argumente und Theorien ersetzt werden. Wissenschaftler sollten auch ihre eigenen Überzeugungen in Frage stellen und immer wieder überprüfen. Für den Philosophen Karl Raimund Popper ist Kritik das wichtigste Prinzip und der Motor der Wissenschaft.

Das Ideal der Toleranz sollte in seiner wahren Bedeutung verbreitet werden. Toleranz bedeutet, dass man andere Meinungen zulässt – auch oder gerade Meinungen, die der eigenen widersprechen. Die Befürworter der Identitätspolitik fordern zwar sehr laut Vielfalt und Toleranz, doch in Wirklichkeit sind sie alles andere als tolerant. Sie sind nur tolerant gegenüber Menschen, die ihre eigenen Überzeugungen teilen. Menschen, die sich über ihre Überzeugungen kritisch äußern, werden von ihnen angeprangert, diffamiert und ausgeschlossen. Wahre Toleranz als Zulassen von anderen Meinungen ist hingegen sowohl in der Wissenschaft als auch in der ganzen Gesellschaft eine Voraussetzung für offene und freie Debatten.

In der Wissenschaft sollte der „zwanglose Zwang des besseren Arguments“ (Jürgen Habermas) zählen. Das rationale Argumentieren ist das wichtigste Element der wissenschaftlichen Methodologie. Ohne rationales Argumentieren kann es keine Wissenschaft geben. Deshalb sollte streng zwischen dem Argument und der Person des Argumentierenden getrennt werden. Es ist eine große Errungenschaft der Wissenschaft: genauer der wissenschaftlichen Methodologie, streng zwischen der Person des Forschers und der Gültigkeit seiner Thesen, Argumente und Theorien zu unterscheiden. Wissenschaftliche Thesen, Argumente und Theorien gelten unabhängig von den persönlichen Motiven des Forschers, der sie aufstellt, ferner unabhängig von seiner Gruppenzugehörigkeit und Herkunft. Beispielsweise gilt Einsteins Relativitätstheorie unabhängig von seinen persönlichen Motiven, ja überhaupt unabhängig von seinem personalen Leben.

Wissenschaft sollte sich an Fakten orientieren. Wissenschaftliche Erkenntnisse sollten empirisch belegt werden. Gender Studies, Queer Studies, Postcolonial Studies oder Critical Whiteness Studies geben zwar vor, sich an Fakten zu orientieren, tatsächlich jedoch folgen sie der Lehre des Sozialkonstruktivismus. Ihr zufolge gibt es keine Fakten, vielmehr erschaffen wir uns selbst eine Realität. Beispielsweise sprechen die Gender Studies von vielen Geschlechtern, die allesamt soziale Konstruktionen seien und negieren dabei die aus der Biologie stammenden Fakten zur Zweigeschlechtlichkeit. Orientierung an Fakten ist das beste Mittel, um den Einfluss von Ideologie und Politik auf die Wissenschaft zu bannen.

Bei der Vergabe von wissenschaftlichen Stellen sollte alleine die Qualifikation der Bewerber im Fokus stehen, nicht ihre Gruppenzugehörigkeit, politische Haltung oder sexuelle Orientierung. Das Proporzprinzip, das sich an den Hochschulen durch politische Maßnahmen immer mehr durchsetzt, muss wieder durch das Qualifikationsprinzip beziehungsweise das Prinzip der Bestenauslese ersetzt werden. Allen Quotenregelungen in der Wissenschaft ist eine Absage zu erteilen. Sie sind wissenschaftsfeindlich, sie widersprechen dem Ethos der Wissenschaft und darüber hinaus dem Grundgesetz.

Um der Cancel Culture an den bestehenden Hochschulen etwas entgegenzusetzen, könnten nach US-amerikanischem Vorbild unabhängige Institute und Universitäten gegründet werden: Orte, an denen freier Gedankenaustausch und freie Forschung möglich wäre. Politische Korrektheit und Cancel Culture hätten an diesen Orten keinen Platz. Ansätze dazu gibt es bereits in Form von unabhängigen Internetblogs, Internetforen, Netzwerken und Debattierclubs. Unabhängige und freie Wissenschaft muss finanziert werden. Das zu leisten, wäre die Aufgabe der Zivilgesellschaft, vor allem privater Stiftungen.

Der vorliegende Band versammelt Beiträge von Wissenschaftlern unterschiedlicher Fachrichtungen. Sie behandeln die unterschiedlichen Facetten von Angriffen auf die Wissenschaftsfreiheit. Die Autoren untersuchen historische, ideologische und politische Faktoren, die zur Verletzung von Wissenschaftsfreiheit führen. Sie analysieren ferner die strukturellen Merkmale der Verletzung von Wissenschaftsfreiheit, insbesondere Diffamierungs- und Ausschlussmechanismen.

Viele der Autoren beklagen das an den Hochschulen herrschende Klima der Denunziation, der Einschüchterung und des vorauseilenden Gehorsams. Es ist ein Klima der Unfreiheit.

Einige Autoren haben selbst Erfahrungen mit der Verletzung der Wissenschaftsfreiheit gemacht, von denen sie in dem Sammelband berichten.

Folgende an den Hochschulen verbreitete Tabus werden von ihnen in Einzeluntersuchungen behandelt: Kritik an der Pandemie-Politik, Kritik an der herrschenden Vorstellung vom Klimawandel, Kritik an der Migrationspolitik und Kritik am Feminismus.

Das komplette Inhaltsverzeichnis kann hier eingesehen werden (PDF Datei).

Dieser Artikel gibt eine gekürzte Version der Einleitung zum Buch wieder. Veröffentlicht mit Erlaubnis der Herausgeber.

Fußnoten

(1) Vgl. Thomas Petersen, „Forschungsfreiheit an deutschen Universitäten. Ergebnisse einer Umfrage unter Hochschullehrern“, Institut für Demoskopie Allensbach, Allensbach 2020.

(2) Vgl. eine Zusammenstellung verschiedener Positionen im Heft Wissenschaftsfreiheit der Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte 71, 46/2021, hier besonders der Beitrag von Uwe Schimank, „Universitäten und Gesellschaft im Wandel. Folgen für die Wissenschaftsfreiheit“, S. 42–47.

(3) Kempen, Bernhard, „Universität als Risikozone“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.7.2021.

Harald Schulze-Eisentraut/Alexander Ulfig
Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit.
Wie die Cancel Culture den Fortschritt bedroht und was wir alle für eine freie Debattenkultur tun können
FinanzBuch Verlag, München 2022.

Hier geht's zum Originalartikel...

Kommentare

Neuer Kommentar

(Mögliche Formatierungen**dies** für fett; _dies_ für kursiv und [dies](http://de.richarddawkins.net) für einen Link)

Ich möchte bei Antworten zu meinen Kommentaren benachrichtigt werden.

* Eingabe erforderlich