Wissenschaft oder nicht?

Sehr geehrte Förderer der Vernunft und Wissenschaft!

Mit "Wissenschaft" wird bei uns gemeinhin die Naturwissenschaft gemeint, also Physik, Chemie, Biologie und  Medizin. Ich möchte hier zur Diskussion stellen, inwieweit andere universitäre Disziplinen den Titel "Wissenschaft" beanspruchen können.

1) Geschichte

Damit meine ich nicht das simple Auswendiglernen von Jahreszahlen. Das ist sicher keine wissenschaftliche Tätigkeit. Aber den fachgerechten Umgang mit Quellen und die korrekte Einordnung archäologischer Funde kann man m.E. als wissenschaftliche Tätigkeiten bewerten.

Schwieriger wird es, wenn ein Historiker sich mit der Analyse politischer und gesellschaftlicher Ereignisse beschäftigt. Ich halte diese Tätigkeit auf jeden Fall für höchst bedeutsam. So hat sich z.B. das Bild vom "finsteren" Mittelalter in den letzten Jahrzehnten der Forschung stark zum Positiven gewandelt, und die Gegenwart kann aus den neuen Erkenntnissen auch Lehren für die Gegenwart ziehen. Allerdings fließt in solche Analysen immer unweigerlich die persönliche Meinung des Historikers ein. Also werfe ich die Frage auf: Handelt es sich um Wissenschaft?

2) Jus/Jurisprudenz

Auch hier meine ich nicht das sture Lernen von Paragraphen. Einen Rechtsanwalt oder Steuerberater, der mit Gesetzen hantiert, würde ich eher mit einem Techniker als mit einem Wissenschaftler vergleichen. Ein Rechtswissenschaftler geht hingegen der Frage nach, ob die aktuellen Gesetze auch dem dahinterstehenden Recht oder sogar der Gerechtigkeit Genüge tun. Das wiederum wirft die Frage auf, ob es so etwas wie "Recht" oder "Gerechtigkeit" wirklich gibt. Ist es möglich, z.B. das menschliche Recht auf Leben wissenschatflich zu erforschen? Es ist schließlich in keiner Weise messbar, ja, nicht einmal in seiner Existenz beweisbar. Auch darüber, was "Gerechtigkeit" ist, gehen die Meinungen je nach Kultur so weit auseinander, dass man eine objektiv erforschbare "Gerechtigkeit" anzweifeln kann. Kann also die Jurisprudenz überhaupt als Wissenschaft gelten?

3) Kunst am Beispiel Literaturwissenschaft

Wieder: Ein reines Wissen um Daten ist nicht gemeint. Literaturwissenschaftler haben z.B. große Arbeit darin geleistet zu erforschen, wie verschiedene Gattungen der Literatur funktionieren. Lyrik gehorcht anderen Gesetzen als ein Märchen oder ein Drama. Dieses Wissen kann helfen, alte oder gegenwärtige Kulturen anhand der literarischen Werke besser zu verstehen. Die Regeln literarischer Gattungen sind nämlich weltweit erstaunlich ähnlich. Bei der Bewertung der Qualität literarischer Werke hingegen sind der Willkür Tür und Tor geöffnet, und oft haben sich die Kritiken angesehener Literaturwissenschaftler als falsch erwiesen. (Nun, das war in der Physik auch manchmal der Fall.) "Schönheit" ist überhaupt entweder eine Transzendentalie oder einfach Geschmacksache. Kann also die Literaturwissenschaft - und analog die Wissenschaften der Musik und der Bildenden Kunst - als Wissenschaft gelten?

4) Philosophie

Die Philosophie hat ein extrem weites Spektrum. Die Aussagelogik ist als Wissenschaft ähnlich exakt wie die Mathematik, die Ethik eignet sich eher für Diskussionen als für Beweise. Streng wissenschaftlich erforschen kann man wohl eher die Philosophiegeschichte als die Philosophie selbst. Ich meine meine, dass die Philosophie weniger eine eigene Wissenschaft ist, sondern eher ein Hilfsmittel für andere Wissenschaften. So, wie auch die Mathematik ihren Wert nicht alleine hat, sondern als Unterstützerin z.B. der Physik.

5) Sprachen

Das Erforschen von Sprachen ist eine wissenschaftlich höcht anspruchsvolle und äußerst lohnende Tätigkeit. Hier hat man klar umrissene Forschungsgegenstände, manchmal - z.B. in der Etymologie - auch einwandfreie Ergebnisse. Man kann Verwandtschaftsbeziehungen und Wechselwirkungen zwischen Sprachen herstellen und sogar - hier wird es aber schon etwas spekulativ - die Auswirkungen von Sprache auf unser Denken und unsere Kultur untersuchen. Ich würde Sprachwissenschaft eindeutig als Wissenschaft werten.

Herzlichen Dank für Ihr Interesse

der Pfarrer

Kommentare

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    Pyrion

    Im Prinzip lässt sich alles wissenschaftlich bis ins letzte Detail erforschen. Ein Grundproblem bei diesem Ansatz ist das Chaos, das komplexe Systeme aus rein praktischen Gründen (mangelnde Rechenpower, Quantenunschärfe) unberechenbar macht. Bei solchen Systemen (Menschen, Psyche, viele Themen der Biologie, Klima) kann man letztlich nicht mehr das komplette Phänomen begreifen. Es gibt aber immer noch "statistische" Wahrheiten, die sich belegen lassen. Man muss sich nur darüber klar sein dass der Einzelfall sich jederzeit deutlich unterscheiden kann. Die wissenschaftliche Methode wird hier eher noch wichtiger, weil es in diesen Dingen soweit wir es überblicken können niemals endgültige Wahrheiten geben wird. Die wissenschaftlichen, aus der Notwendigkeit heraus stark vereinfachten Modelle werden sich zwar, wenn sie gut sind, der Wirklichkeit immer weiter annähern, diese aber wohl nie komplett für jeden Einzelfall vorhersagen können. Letztlich geht es hier immer um Wahrscheinlichkeiten.

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      marstal08

      Antwort auf #3 von Pfarrer:
      > Antwort auf #2 von Beagle:
      >
      > Ich möchte zu Ihrer einfachen Antwort eine Ergänzung hizufügen: Das Wissenschaftsobjekt muss auch mit der wissenschaftlichen Methode sinnvoll zu erforschen sein. Das trifft nicht immer zu. Nehmen wir als Beispiel die Psychologie. Die hat als Forschungsobjekt die menschlic...

      Beobachtung und Statistik sind auch wissenschaftliche Methoden. Es ist zwar mühsam und mit Unsicherheiten behaftet, aber wenn man unter definierten Bedingungen das Verhalten von Personen beobachtet, dann ist das auch Wissenschaft. Das Wesen der Wissenschaft besteht m.E. darin, dass man beobachtet oder misst und Schlüsse daraus zieht und vor allem jederzeit bereit ist, sich bei neuen Erkenntnissen zu korrigieren.

      Wer eine irgendeine Erkenntnis zu haben glaubt, diese nicht kritisch hinterfragt und nicht zu ändern bereit ist, der kann kein Wissenschaftler sein - egal mit wie viel oder wenig exakter Technik und Berechnung diese Erkenntnis mal gewonnen wurde.
      Insofern sehe ich die Psychologie schon als eine Wissenschaft.

      marstal08

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        Beagle

        Was im Allgemeinen, das heisst, durch die Allgemeinheit der (wissenschaftlich meist kaum bewanderten) Bevölkerung gemeint wird, und was die Tatsachen sind, klafft oft meilenweit auseinander.

        Tatsache ist, dass all diese Fachgebiete Wissenschaftlich sein KÖNNEN. Wissenschaft beschränkt sich nicht auf einen Teilbereich unseres Wissens, sondern betrifft seine Gesamtheit. Der Konjunktiv steht hier, weil die Frage zu stellen ist, ab wann eine Beschäftigung als Wissenschaftlich bezeichnet werden kann, und die Antwort darauf ist überraschend simpel: Sobald die Wissenschaftliche Methode angewendet wird, ist ein Fachgebiet eine Wissenschaft.

        Ist Juristerei eine Wissenschaft? Wenn die Auswirkungen, die Erstellung, das Abstimmverhalten Legislativer Gewalten und ähnliches Erforscht und die Schlüsse daraus angewandt werden, absolut. Wenn mit "Juristerei" das reine Handwerk des rechtlichen Alltags gemeint ist, nein.

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          Gerhardw

          Die Juristerei würde ich als Handwerk bezeichnen, denn auch wenn dort keine Waren in diesem Sinne hergestellt werden (abgesehen von einer Menge lauwarmer Luft) geht es dort hauptsächlich um das Bearbeiten (von Richtern und Gegnern) und das Erstellen von möglichst raffinierten Verträgen. Desalb sollte man dort auch ehen einen Klassischen Meistertitel anstatt einen Doktortitel vergeben.
          Bei der Politik wird es etwas schwieriger. Vor allem im Überschneidungsgebiet mit der Demoskopie, den Wirtschaftswissenschaften, der Soziologie, der Psychologie usw gibt es einiges zu forschen. Aber im Kern ist es wohl eher eine Kunst als eine Wissenschaft.
          Wobei die bildende Kunst an sich durchaus wissenschaftliche Anteile und einige Forschungsgebiete hat und meiner Meinung nach den höheren wissenschaftlichen Weihen würdig sein kann.
          Religionwissenschaft könnte ein interessantes Wissenschaftliches Gebiet sein, wenn dort wenigstens ein Minimum an Neutralität gewährleistet wäre. Das ist aber leider nicht so, deshalb ist die Religionswissenschaft im großen und ganzen keine Wissenschaft sondern eine Farce.
          Philosophie würde ich als Antiwissenschaft bezeichnen. Sie produziert so gut wie kein Wissen, hat praktisch kein Forschungsgebiet ( und wenn, dann wird im Bereich von echten Wissenschaftsgebieten gewildert) und dient meiner Meinung nach lediglich dazu, einer weder durch Forschung noch durch Belege abgesicherten persönlichen Meinung einen (pseudo-)Wissenschaftlichen Anstrich zu verpassen (Ja, ich weiß, das habe ich schon mal geschrieben und nein, eine Aussage eines alten Griechen ist kein Beleg).

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            Pfarrer

            Antwort auf #2 von Beagle:

            Ich möchte zu Ihrer einfachen Antwort eine Ergänzung hizufügen: Das Wissenschaftsobjekt muss auch mit der wissenschaftlichen Methode sinnvoll zu erforschen sein. Das trifft nicht immer zu. Nehmen wir als Beispiel die Psychologie. Die hat als Forschungsobjekt die menschliche Psyche. Selbige ist aber, klassisch verstanden, transzendent und deshalb nicht mit der wissenschaftlichen Methode erforschbar. Wenn man die Psyche völlig auf das Verhalten von Neuronen, Hormonen etc. reduziert, dann ist man schon nicht mehr in der Psychologie, sondern in der Neurologie oder Psychiatrie. Und den Versuch, die Psychologie durch einen Wust von Statistiken naturwissenschaftlich zu färben, halte ich für irregeleitet. Man sollte sich damit abfinden, dass die Psychologie - so wie einige andere Fächer auch - eine wichtige und ernsthafte Disziplin ist, aber halt keine Wissenschaft im strengen Sinne.

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