Antwort an Jordan Peterson
Ein Kollege schickte mir zwei von Jordan Peterson veröffentlichte Aufforderungen und schlug mir vor, darauf zu antworten. Das tue ich gerne, denn ich habe großen Respekt vor Dr. Petersons mutiger Haltung gegenüber einer herrischen, intoleranten Gedankenpolizei, deren Orwellscher Neusprech den aufgeklärten Rationalismus bedroht. Der Held von 1984, Winston Smith, wurde letzten Endes von O'Brien davon überzeugt, dass, wenn die Partei es will, 2+2 = 5 ist. Winston hatte es zuvor für erforderlich gehalten, sein Credo zu behaupten. „Freiheit ist die Freiheit zu sagen, dass zwei plus zwei vier ergibt. Wenn das gewährt wird, folgt alles andere“.
Zählt Woke als Religion, Sir?
Eine ernst gemeinte Frage...
Meine Antwort auf die Frage lautet nein, wenn man das Übernatürliche in die Definition einer Religion einbezieht, und eine liebe Kollegin bezieht zu dieser Unterscheidung Position. Die folgenden drei Gemeinsamkeiten reichen aber für mich aus, um eine Ja-Antwort auf Jordans Frage zu begründen. Die erste der drei Gemeinsamkeiten ist charakteristisch für Religionen im Allgemeinen. Die beiden anderen sind mit dem Christentum im Besonderen verwandt.
1. Ketzerjagd. Unbarmherzige, rücksichtslose, unnachgiebige Verfolgung von Ketzern: „Töte heute eine TERF“. „Wenn du eine TERF siehst, schlag ihm in die verdammte Fresse“ usw. Es gibt eine Orthodoxie, die nicht in einer bestimmten Schrift niedergeschrieben ist, sondern von allen Verehrern verstanden wird. Und wehe dir, wenn du dagegen sündigst. Zumindest finden Sie sich auf Twitter wieder, wo auf Sie als Fanatiker Schimpfwörtern einprasseln. Und es kann gut sein, dass Sie Ihren Job verlieren, da Universitäten, Regierungen und Unternehmen Schlange stehen, um ihre Tugend zu demonstrieren. Diese neuzeitliche Inquisition in der Art von Torquemada macht deutlich, dass wir es hier mit einer Sekte zu tun haben, die ihr eigenes, religiös erzwungenes Dogma hat: Ein Dogma, das für Außenstehende keinen Sinn ergibt, das aber bei den Insidern der Sekte - den bibeltreuen Führern und ihren Anhängern, die ihnen wie die Schafe folgen - perfekt ankommt.
Warum wird eine (weiße) Frau in Amerika verunglimpft und verflucht, wenn sie sich als schwarz identifiziert, aber gepriesen, wenn sie sich als Mann identifiziert? Das ist ein Widerspruch in sich, denn die Rasse ist ein Kontinuum, während das Geschlecht eine der wenigen echten Binaritäten der Biologie ist. Warum machen Journalisten, Polizisten und Gefängnisbehörden einen respektvollen Kotau vor einem verurteilten Vergewaltiger, indem sie „sie“ als „sie“ bezeichnen, selbst wenn „sie“ ihren „erigierten Penis“ benutzt, um noch mehr Frauen anzufallen? Warum lassen sich so viele von uns auf eine so perverse Verzerrung der Sprache ein, dass sie gefährlich nahe an 2 + 2 = 5 herankommt? Wir kennen die Antwort. Feigheit. Zu viele von uns haben Angst vor dem brüllenden Mob.
2. Vererbte Schuld. Eine der bösartigsten Lehren des Christentums ist die Vorstellung, dass wir alle, selbst kleine Babys, in Sünde geboren werden. Laut Augustinus erbt jedes Kleinkind über eine lange Abstammungslinie von Samen die Sünde Adams. Man kann nicht davon ausgehen, dass Augustinus wusste, dass Adam nie existiert hat und daher weder Sünde noch Samen besitzen konnte. Post-darwinistische „ gebildete Theologen“ sollten es aber besser wissen, und ihre gelehrten Abhandlungen sind schwerer zu respektieren.
Die Erbsünden von heute sind Sklaverei und koloniale Unterdrückung. Alle weißen Menschen werden in Sünde geboren, in der Sünde ihrer Vorfahren. Vom Augenblick ihrer Geburt an haben alle Weißen Anteil am „institutionellen Rassismus“, der wie Adams Samen von ihren Ur-Ur-Ur-Großvätern vererbt wurde, „indem sie die Schuld der Väter auf ihre Kinder bis ins dritte und vierte Glied übertrug […]“ (5.Mose, Deuteronomium 5,9).
3. Transsubstantiation. Katholiken müssen glauben, dass, wenn ein Priester bestimmte magische Worte über sie spricht, Brot und Wein zum Leib und Blut Christi werden. In einem stärkeren Sinne als Protestanten, die Brot und Wein als bloße Symbole betrachten. Die Katholiken berufen sich auf Aristoteles' alberne Unterscheidung zwischen „Akzidenzien“ und wahrer „Substanz“. Die Akzidenzien von Oblate und Wein bleiben Brot und Wein, aber in ihrer Substanz werden sie zu Leib und Blut. Daher auch das Wort „Transsubstantiation“. In ähnlicher Weise spricht ein Mann in der woken Sekte die magische Beschwörung „Ich bin eine Frau“ und wird dadurch zu einer Frau in wahrer Substanz, während „ihr“ intakter Penis und die behaarte Brust nur aristotelische Akzidenzien sind. Transsexuelle haben transubstantiierte Genitalien. Eines muss man den (heutigen) Katholiken zugutehalten: Sie bestehen wenigstens (heutzutage) nicht darauf, dass alle anderen sich ihrem Glauben anschließen müssen.
Peterson hat Recht, wenn er im rhetorischen Ton seiner Frage andeutet, dass es eine Religion des Woken gibt. Ich habe zwei spezifische Ähnlichkeiten mit dem Christentum erwähnt. Wichtiger ist jedoch ihr extremer, intoleranter Eifer, den sie mit den klassischen neuen Sekten teilen, die sich gerade auf den Weg machen, um sich schließlich als Religionen mit einer langen und ehrwürdigen Tradition zu etablieren.
Und damit zur zweiten Herausforderung von Peterson:
Willkommen in der Welt des Posthumanismus, Sir. Eine Welt, zu deren Entstehung Sie auf traurige Weise beigetragen haben. Und nichts Weltliches wird ihr standhalten, wie Sie zweifellos sehen können.
Ich sage das mit echtem Bedauern, nicht zuletzt, weil ich weiß, dass Sie ein echter Wissenschaftler sind - mit dem Glauben an den Logos des Kosmos, der damit einhergeht.
Und doch sind wir hier. Und es würde mich überhaupt nicht überraschen, wenn die woken polytheistischen Neopaganisten die Wissenschaft schneller zerstören als das Christentum.
Ich sehe diese Anschuldigung immer wieder als Graffiti an die Toilettenwand von Twitter gekritzelt. Petersons Ton ist natürlich zivilisierter, aber die Botschaft ist dieselbe. Wir, die wir uns gegen die Irrationalität der Religion ausgesprochen haben, sind schuld am Aufkommen der Irrationalität des Woken.
Es gibt eine gewisse Logik, die man der Anklage zugrunde legen könnte. Ayaan Hirsi Ali, eine persönliche Heldin von mir, hat vorgeschlagen, dass wir in einigen Teilen der Welt das Christentum als Bollwerk gegen den Islam benötigen. Beide Religionen sind gleichermaßen unsinnig, aber der Islam ist das größere Übel. Um es mit den Worten von Hilaire Belloc zu sagen
Immer an das Kindermädchen binden, aus Angst, etwas Schlimmeres zu finden.
Bellocs großer Held GK Chesterton soll (vielleicht fälschlicherweise) der Autor des folgenden Spruchs sein: „Wenn die Menschen sich entscheiden, nicht an Gott zu glauben, glauben sie danach nicht an nichts. Sie werden dann imstande sein, an alles zu glauben."
Ich verstehe das Argument, aber ich liebe die Wahrheit zu sehr, um dem zuzustimmen. Zusammen mit Sam Harris, Dan Dennett, Christopher Hitchens, Victor Stenger, Lawrence Krauss, Michael Shermer und anderen bin ich ausnahmslos gegen alle Religionen. Und das schließt die Sekte des Woken ein. Sich einem irrationalen Dogma entgegenzustellen, indem man ein anderes irrationales Dogma fördert, wäre ein Verrat an allem, was ich liebe und wofür ich stehe.
Die Antwort auf Richard Dawkins' Youtube Kanal: Does Woke Count As A Religion?
Übersetzung: Jörg Elbe
Kommentare
Aus meiner Sicht gibt es noch mehr Ähnlichkeiten zwischen Religion und dem WOKE-Phänomen. Eine davon ist ein Erlösungsversprechen: "Werde WOKE und Du wirst von deinen "Sünden" in Bezug auf Rassismus, Homophobie, Frauenverachtung etc. erlöst." In etwa dafür steht ja der Ausdruck "WOKE".
Diese Ähnlichkeiten sind nicht verwunderlich, sondern zu erwarten: Irrationale Phänomene wie (extreme) Ideologien, Esoterik, "alternative" Heilmethoden, abstruse Verschwörungskonstrukte, Anthroposophie und eben Religion beruhen auf denselben Denkfehlern, Denkfallen und Manipulationstaktiken.
Inhaltlich kann es natürlicch Unterschiede geben - aber erkenntnistheoretisch sitzen alle im selben Boot und rudern verbissen gegen den Strom von Logik, Vernunft und Aufklärung.
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