Zwei ererbte Sprachen

Altüberlieferte Geschichten

Zwei ererbte Sprachen

Bild: The Poetry of Reality, Richard Dawkins

„Erzähl mir eine Geschichte, Vater. Erzähl mir von der Welt, bevor ich geboren wurde. Aber zuerst wiederhole die Geschichte vom Leben deines Vaters und der Welt, in der er lebte, so wie er sie dir in allen Einzelheiten erzählt hat. Und davor das Leben und die Welt deines Großvaters, wie er sie deinem Vater detailliert geschildert hat. Und davor ... die Lebensgeschichte des Ur-Ur-Ur-Ur-Großvaters in seiner Welt, so wie er sie dem Ur-Ur-Ur-Großvater erzählt hat. Wie haben sie vor all diesen Jahrhunderten gelebt? Wie sah die Welt aus?“ Ich möchte alles über diese Vergangenheiten wissen, damit ich die Informationen an meine eigenen Kinder weitergeben kann und nichts in Vergessenheit gerät.

Theoretisch hat die gesprochene Sprache die erzählerische Kraft, eine vollständige und detaillierte Aufzeichnung der Geschichte der Vorfahren zu bewahren, und zwar von den Eltern bis zu den Kindern über eine unbestimmte Reihe von Generationen hinweg. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass es so nicht funktioniert. Es ist lächerlich, wie wenig Information durchgesickert ist. Und das ist gar nicht einmal so schlimm. Die schiere Menge an Informationen, die sich mit jeder Generation ansammelt, würde uns überwältigen. Von meinen acht Urgroßeltern weiß ich entweder nichts oder kaum mehr als ihre Namen. Das ist traurig, aber unvermeidlich. Selbst schriftliche Aufzeichnungen, Briefe, Tagebücher, Chroniken, sind so lückenhaft, dass sich Historiker nicht darauf einigen können, was mit einem gesamten Land geschehen ist, geschweige denn, wie man es interpretieren soll. Dabei hätte die Sprache möglicherweise eine detaillierte Aufzeichnung - alles, was jede Generation der nächsten sagen könnte - über unendlich viele Generationen hinweg übermitteln können.

Die Sprache ist eine der wichtigsten Errungenschaften der menschlichen Spezies und ein Weltwunder. Vorläufer wie der Bienentanz oder der Gesang von Walen und Vögeln sind damit kaum zu vergleichen. Es ist vor allem die Sprache, die unserer Spezies die gesammelte Kraft der kulturellen Evolution verleiht. In Wissenschaft, Technik und Kunst baut jede Generation auf dem Wissen und den Errungenschaften ihrer Vorgänger auf. Wie Newton stehen wir auf den Schultern von Giganten(1), keinem höheren als Newton selbst, sondern häufig auf den weniger starken Schultern von einfachen Menschen, die wiederum von anderen an Größe gewonnen haben. Zusammengenommen steigen wir dorthin auf, wo unsere Vision über den Horizont eines einzelnen Menschen hinausgeht, zum Ereignishorizont des Kosmos selbst und zurück zur heißen Geburt der Zeit. Und doch wissen wir fast nichts von dem, was unsere Urgroßeltern uns hätten erzählen können.

Die kollektive Macht, die von der Sprache ausgeht, ist in der Legende vom Turmbau zu Babel festgehalten, wo sie sogar Gott selbst bedrohte. „Wohlan“, sprach Gott, „lasset uns hinabsteigen, und dort verwirren ihre Sprache, dass sie nicht verstehen Einer die Sprache des Andern.“. Und siehe da, als Ergebnis quasi-evolutionärer Divergenz sprechen wir viele Tausende von gegenseitig unverständlichen Sprachen, wobei die genaue Zahl unbestimmt ist, vor allem, weil Dialekt in Sprache übergeht, so dass wir nicht entscheiden können, wo eine Sprache aufhört und die nächste beginnt. Diese Verwischung zeigt sich sowohl im geografischen Raum (man denke nur an das weltweite Englisch) als auch in der historischen Entwicklung der Sprachen im Laufe der Jahrhunderte (man lese nur einmal Chaucer). Da die Sprache jedoch zum Teil digital ist und in diskrete semantische Einheiten zerlegt ist, die wir Wörter nennen, ist sie in der Lage, eine große Überlieferungstreue zu erreichen, insbesondere in schriftlicher Form. Trotz dieser Fähigkeit werden nur wenige sprachliche Informationen von unseren toten Vorfahren weitergegeben.

Eine andere digitale Sprache

Es gibt aber noch eine andere, ebenfalls digitale Sprache mit weitaus größerer Präzision und Überlieferungsgenauigkeit, die die Informationen der Vorfahren bewahrt, und zwar nicht nur über wenige Generationen, sondern über Hunderte von Millionen. Eine parallele Sprache, die kein menschliches Monopol ist, sondern von allem Leben geteilt wird: von allen Tieren, Pilzen, Pflanzen, Bakterien und Archaeen; eine wahrhaft universelle Sprache, die nicht unter der Verwirrung der Lautverschiebung oder dem generationenübergreifenden Verfall leidet. Sie fällt auch nicht der kumulativen Inflation meiner Eingangsphantasie zum Opfer, denn sie wächst nicht mit jeder Generation. Wie jedes Schulkind weiß, werden erworbene Eigenschaften nicht vererbt. Die genetische Datenbank verändert sich nicht kumulativ, sondern durch Subtraktion und Addition, die ungefähr miteinander Schritt halten.

Diese andere Sprache ist so unerbittlich universell, dass eine Gottheit, die sich vor Babel fürchtet, sie längst im Keim hätte ersticken müssen. Das universelle Wörterbuch der DNS, das in einem Alphabet mit vier Buchstaben geschrieben ist, besteht aus nur 64 Wörtern mit jeweils drei Buchstaben. Durch Synonyme wird das effektive Wörterbuch von 64 Wörtern auf nur zwanzig Codons plus ein Satzzeichen reduziert. In der Regel wird eine Aminosäure durch einige synonyme Tripletts kodiert. Diese Synonymie bedeutet, dass der Code vom Fachlichen her gesehen „degeneriert“ und nicht „redundant“ ist, wie es in Biologie-Lehrbüchern oft fälschlicherweise heißt(2). Die 20 semantischen Bedeutungen sind Aminosäuren, die zu Proteinketten aneinandergereiht sind. Jede Proteinkette kann man sich als einen Satz vorstellen, aber in einem dürftigen Sinn, der der Analogie zur Sprache nicht gerecht wird, und genau hier ist die Analogie am Ende. Die Komplikationen der Embryologie offenbaren eine reichere Semantik. „Satz“ und „Absatz“ sind hier nicht überzeugend, aber eine höhere Bedeutung taucht am Ende langer, interagierender Kausalketten auf, in Form des „Phänotyps“ - Streifen und Farben, Herzen und Lungen, Rückgrat und Verhalten: sowie das, was ich den erweiterten Phänotyp genannt habe.

Erst zu meinen Lebzeiten ist die Wissenschaft in der Lage gewesen, die Sprache der DNS in ihrer direkten, digitalen Form zu lesen. Wir sind aber seit langem in der Lage, ihre indirekten Manifestationen, ihre phänotypischen Auswirkungen, zu lesen. Wir lesen sie in den Formen und Farben von Tieren und Pflanzen, Pilzen und Mikroben, in den kunstvollen Balzspielen und anderen Ritualen von Vögeln und Spinnen, in der enormen Komplexität von Zellen und Nervennetzen, den faszinierenden Farben und Düften von Blumen, der Software, die in Gehirnen und Ganglien läuft, der Hardware von Knochen, Chitin und Holz. Mein nächstes Buch (2024), The Genetic Book of the Dead (Das Genetische Totenbuch), wird sich hauptsächlich damit beschäftigen, was wir aus diesen indirekten Manifestationen ablesen können, obwohl die Biologen der Zukunft nicht so eingeschränkt sein werden und auch das genetische Buch lesen werden.

Anders als Englisch oder Kikuyu, Deutsch oder Kantonesisch dient die Sprache der DNS nicht der interindividuellen Kommunikation(3). Sie dient der transgenerationalen Kommunikation und natürlich der Steuerung des Verlaufs der embryonalen Entwicklung innerhalb jeder Generation. Auf den ersten Blick ist die transgenerationale Kommunikation nicht von der Beschaffenheit, mit der ich diese Einführung begonnen habe, ein Vater der das Kind mit seiner Lebensgeschichte erfreut. Um es zu wiederholen, erworbene Eigenschaften werden nicht vererbt. Und doch gibt es in gewisser Weise eine kodierte Beschreibung der ererbten Welten in der DNS, auch wenn diese nuanciert und schwer zu entschlüsseln ist. Meine These lautet, dass die Welt eines lebenden Organismus, genauer gesagt die aufeinanderfolgenden Welten, in denen seine Vorfahren lebten, durch seinen Körper, sein Verhalten und seine DNS beschrieben wird - und darin gelesen werden kann. Ihr Körper und sein Genom können wie ein Buch gelesen werden, ein Geschichtsbuch, das die aufeinanderfolgenden Welten beschreibt, in denen Ihre Vorfahren überlebt haben. Das ist es, was ich mit dem Genetischen Totenbuch bezwecke.

Dieser Text wurde ursprünglich als Prolog zu meinem nächsten Buch The Genetic Book of the Dead geschrieben das im Herbst 2024 bei Head of Zeus, London, erscheinen wird. Ich habe beschlossen, den Prolog aus dem Buch zu entfernen und ihn stattdessen hier zu veröffentlichen.

Fußnoten

(1) Newtons berühmter Satz stammt aus seinem Brief an Robert Hooke aus dem Jahr 1675, der in einer Großzügigkeit geschrieben ist, die ihre spätere Fehde und das Gerücht widerlegt, er sei auf Kosten von Hookes Wirbelsäulenkrümmung sarkastisch gewesen. Newton könnte Bernhard von Chartres (um 1130) zitiert haben, dessen Worte sogar noch besser zu meinem Anliegen passen als die von Newton: "Wir sind wie Zwerge auf den Schultern von Riesen, so dass wir mehr sehen können als sie und Dinge in größerer Entfernung, nicht aufgrund unserer Sehschärfe oder eines körperlichen Unterschieds, sondern weil wir von ihrer Größe hochgetragen und erhoben werden".

(2) Redundante Wiederholungen schützen vor Irrtum. Zum Beispiel steht auf einem Bankscheck "Einhundert Pfund ... ... 100 Pfund", wobei der Betrag zur Sicherheit zweimal genannt wird. Das ist Redundanz. Das 64-Wörter-DNA-Wörterbuch hat Synonyme, aber das ist eine ganz andere Sache. Synonyme stellen keine Redundanz dar. Es gibt zwei alternative "Wörter" für die Aminosäure Asparagin, nämlich AAC und AAT, aber der genetische Code sagt nicht redundant "AAC AAT", um doppelt sicher zu sein, dass Asparagin entsteht. Er sagt entweder AAC oder AAT. In den Lehrbüchern steht zu Unrecht, dass Synonyme den Code redundant machen. Der korrekte Fachausdruck ist degeneriert. Im genetischen Code mag es eine andere Art von Redundanz geben, aber sie besteht nicht darin, dass eine Aminosäure von mehr als einem RNA-Triplett kodiert werden kann.

(3) Er könnte es aber sein. Er ist reichhaltig genug. Man könnte sich leicht einen Code ausdenken, bei dem jedes der 64 DNA-Tripletts für einen Buchstaben des Alphabets, eine Zahl oder ein Satzzeichen steht. Man könnte dann eine Nachricht schreiben, z. B. den vollständigen Text dieses Buches, ihn in das Genom eines Rhinovirus einfügen, sich selbst mit dem Virus infizieren, ihn auf einem überfüllten Flughafen ausniesen und das Buch in einer Epidemie um die Welt verbreiten. Molekulargenetiker könnten dann überall auf der Welt das Genom sequenzieren und das Buch ausdrucken. Natürlich gibt es bessere Möglichkeiten, den Absatz zu steigern.

Übersetzung: Jörg Elbe

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