Von Theologen und anderen Esoterikern wird Wissenschaftlern vorgeworfen, sie würden die »Welt des Übernatürlichen« vernachlässigen. Oder, sie würden aus »dogmatischen Gründen« supranaturale Ursachen (etwa Gott) absichtlich ausschließen.
Dabei beruht die angebliche Ablehnung des Überirdischen auf einem langen Diskussionsprozess in der Wissenschaft. Geschichtlich wurde auch Druck auf diesen Hergang ausgeübt, in dem man eine saubere Trennung zwischen dem, was Theologen treiben, und dem, was Naturwissenschaften ausmacht, zu ziehen versuchte. Diese willkürliche Grenzziehung geschah im Interesse der Kirche, die in dem erwachenden Wissen eine Konkurrenz sah. Stichwort dazu ist der Prozess der kirchlichen Inquisition gegen Galileo Galilei, bei dem es vordergründig um die Frage ging, ob sich die Erde um die Sonne oder umgekehrt drehte. Viel entscheidender war aber die Annahme von Galilei, dass es in der Welt naturgemäß zugeht, und dass der Verstand das geeignete Instrument sei, das zu untersuchen – durch Beobachtung und logisches Schließen.
Letztlich steckte die Kirche in dieser Auseinandersetzung eine Niederlage ein und lernte, sich aus dem Gefilde der Naturwissenschaften herauszuhalten. Man etablierte so etwas wie einen Burgfrieden: Die Wissenschaft kümmerte sich um die natürliche Welt, die Kirche um das übernatürliche Seelenheil.
Doch schon rein begrifflich steckt in dem Wort »übernatürlich« oder gleichbedeutend »supranaturalistisch« ein schweres Problem. Es gibt keine saubere Definition dieses Ausdrucks.
Der Philosoph Ludwig Wittgenstein begann das Werk »Tractatus logico-philosophicus« mit folgendem Satz: »Die Welt ist alles, was der Fall ist«. D. h., was wir als (natürliche) Welt bezeichnen, ist die Summe aller Tatsachen. Man kann dies ausführen, in dem man sagt, dass eine wahre Aussage entweder eine Tatsache beschreibt, oder ein logisches Verhältnis von Tatsachen. Was auch bedeutet: Wenn »Gott existiert« eine wahre Aussage ist, handelt es sich bei Gott um eine Tatsache dieser Welt, oder die Aussage ist nicht wahr und dieser Gott existiert nicht.
Theologen haben versucht, dieser Überlegung auszuweichen, in dem sie so etwas wie eine übernatürliche, geistige Sphäre postuliert haben. Man kann, wie einige Philosophen es tun, geistige Dinge einer Art eigenen Sphäre zurechnen: Die Zahl »Eins« ist keine Tatsache dieser Welt. Es ist aber ein natürlicher Umstand, dass Dinge in dieser Welt in der Einzahl vorkommen. Um es kurz zu machen: Man kann Zahlen, Mathematik, Logik, mögliche Aussagen einer eigenen, immateriellen Welt zuordnen. Aber, diese Dinge im weitesten Sinne sind statisch, ewig, zeitlos, immateriell und unveränderlich. Gott wird zwar auch als immateriell bezeichnet, allerdings nicht als statisch: Wenn er der Schöpfer dieser Welt sein soll, muss er aktiv werden können, Überlegungen anstellen und mit der Materie interagieren. Mit der Zweiteilung der Welt in »materiell« und »geistig« wird die Existenz Gottes nicht vorausgesetzt. Dass Geistige ist lediglich etwas, was wir benutzen, um die Welt zu ordnen, um über sie zu reden, um Berechnungen anzustellen. Unser Geist ist beweglich und zur Verarbeitung von Informationen fähig, weil die materiellen Zustände unseres Gehirns in der Lage sind, sich zu ändern.
Einen Geist, der Informationen verarbeiten kann und unabhängig von materiellen Strukturen existiert, haben wir noch nie beobachtet.
Gott muss also mehr sein als bloß immateriell, mehr sein als die Welt des Geistigen: Er muss Informationen verarbeiten können, seinen Zustand anpassen können, und er darf dazu nicht den Beschränkungen der materiellen Welt unterworfen sein, da er diese überhaupt erst erschaffen hat. Materielle Informationsverarbeitung ist immer in der Kapazität begrenzt und braucht Zeit.
Aus diesem Grund impliziert ein Schöpfergott prinzipiell das Geist unabhängig von der Materie ist (dem können wir zustimmen), aber, ohne Mechanismen der natürlichen Welt Informationen verarbeiten kann. Das haben wir noch nie beobachtet. Es entspricht der Definition von »Geist« im Sinne von »Gespenst«. Dieser übernatürliche Geist muss zudem mit der natürlichen, materiellen Welt interagieren können, mindestens indem er sie erschafft. Und da kann man nur eine weitere Welt postulieren: Die Sphäre des Übernatürlichen, über der Natur stehenden, von der beobachtbaren Natur unabhängig existierendem.
Nun machen wir eine Fallunterscheidung, um zu betrachten, wie sich die übernatürlich zur natürlichen Welt verhalten kann:
Fall 1: Die natürliche Welt ist alles, was der Fall ist – impliziert, dass es keine übernatürliche Sphäre gibt. Dies bezeichnet man als »starken Naturalismus«.
Fall 2: Es existiert eine übernatürliche Sphäre und eine natürliche Welt. Beide interagieren nicht miteinander. Dies ist weder logisch noch experimentell vom Fall 1 zu unterscheiden. Dies ist auch nicht die Behauptung derer, die Übernatürliches postulieren, denn dann wäre das nutz- und sinnlos. In diesem Fall würde alles so aussehen und sich so verhalten, als ob der Fall 1 gegeben sei.
Fall 3: Es existieren eine übernatürliche Sphäre und eine natürliche Welt, aber nur die natürliche Welt kann ursächlich etwas in der übernatürlichen Sphäre bewirken. Die Kausalität hat also nur eine Richtung. Dieser Fall ist wiederum nicht vom Fall 1 und 2 zu unterscheiden und ist auch nicht das, was die Vertreter des Supranaturalismus behaupten.
Fall 4: Es existieren eine übernatürliche Sphäre und eine natürliche Welt, aber nur die übernatürliche Welt kann ursächlich etwas in der natürlichen Sphäre bewirken. Und, weil sich das von unserem Fall nicht unterscheidet:
Fall 5: Es existieren eine übernatürliche Sphäre und eine natürliche Welt, die übernatürliche Welt kann ursächlich etwas in der natürlichen Sphäre bewirken und umgekehrt (gegenseitige Beeinflussung).
Die ersten drei Fälle sind für uns uninteressant, weil sich die natürliche Welt dann so verhält, als ob es nichts Übernatürliches gäbe. Die Fälle 4 und 5 sind nicht wirklich unterscheidbar, man kann sie also wie einen einzigen Fall behandeln.
Jetzt ist die Frage, ob der Einfluss aus der übernatürlichen Sphäre nach bestimmten Regeln erfolgt oder solche nicht ermittelbar sind. In letzterem Fall unterscheidet sich die Wirkung nicht vom Zufall. Aus einem Zufall kann man nichts lernen, es sei denn, wenn man große Mengen von Ereignissen behandelt.
Es bleibt als einzige interessanter Möglichkeit übrig, dass es einen Einfluss aus der übernatürlichen Sphäre gibt, die nach bestimmten Regeln funktioniert. Diese Regeln kann man erkennen – aber diese wären dann Bestandteil unserer Naturgesetze. Sie wären von natürlichem Verhalten nicht zu unterscheiden!
Zudem, wenn wir von Ursache und Wirkung reden (Kausalität), dann setzen wir bestimmte Dinge voraus. Damit A die Ursache von B sein kann, müssen folgende Bedingungen erfüllt sein:
1. A und B müssen beide existieren. Wenn A nicht existiert, dann ist es dasselbe, als wenn man behauptet, dass B ohne Ursache passiert. Wenn B vorher nicht existiert, dann entsteht B quasi »aus dem Nichts«. Für den Fall kann man aber nicht feststellen, ob A die Ursache von B ist. Normalerweise besagt Kausalität aber, dass A das Verhalten eines Objektes B beeinflusst, nicht, dass B ganz neu entsteht. Ein Künstler, der eine Skulptur aus einem Stein anfertigt, ändert die Form des Steins.
2. A und B müssen im selben Raumzeitkontinuum existieren. D. h., A und B existieren im selben Raum und zu derselben Zeit. Denn wir haben es mit einem Prozess zu tun, der Zeit voraussetzt: Damit A die Ursache von B ist, muss A zeitlich vor B existieren, oder wenigstens gleichzeitig, die Ursache kommt stets vor der Wirkung.
3. A muss Energie auf B übertragen. Nur dadurch wird B beeinflusst.Die Wirkung ist eine Änderung des Verhaltens von B.
Wenn A übernatürlich ist, muss A Energie erzeugen, die ein Bestandteil unseres Raumzeitkontinuums ist oder wird. Diese wirkt auf B. Diese Energie, wenn sie nicht schon vorher Teil unserer Welt ist, muss quasi aus dem Nichts entstehen. Damit wird ein fundamentales Naturprinzip verletzt, der Energieerhaltungssatz. Dieser besagt, dass in einem geschlossenen System die Summe aller Energien sich nicht ändert.
Wenn eine übernatürliche Sphäre unsere Welt beeinflusst, dann ist letztere wie erstere kein geschlossenes System.
Tatsächlich ist es so, dass aufgrund des Unschärfeprinzips der Energieerhaltungssatz kurzfristig verletzt werden kann. Kurzfristig heißt, nur wenig über dem minimal möglichen Zeitraum hinaus. Aber kurz danach gleicht sich das wieder aus, sodass über einen »längeren« Zeitraum (wir reden hier von milliardstel Sekunden) sich alles wieder ausgleicht. Das geschieht aber alles im Rahmen der bekannten Naturgesetze. Damit man einen übernatürlichen Einfluss behaupten kann, muss man einen längerfristigen Verstoß gegen einen der Energieerhaltungssätze observieren. Das wäre mit Sicherheit möglich! Nur ist das noch nie geschehen.
Die Behauptung, dass die Wissenschaft aus prinzipiellen Gründen nichts Übernatürliches beobachten könne, ist folglich falsch. Solange die supernaturalistische Sphäre sich im Rahmen der Naturgesetze verhält, ist sie von der natürlichen Welt nicht zu unterscheiden – und sie ist damit immer ein Teil der natürlichen Welt. Erst, wenn man systematisch eine Verletzung fundamentaler Prinzipien beobachten könnte, würde sich das ändern. Aber dann könnte man einfach die Naturgesetze anpassen und den neuen Einfluss damit zu einem Teil des beobachtbaren Universums machen.
Naturgesetze sind modellhafte Beschreibungen von dem, was wir an Ereignissen bemerken. Als solche sind sie Änderungen unterworfen, wenn es neue Beobachtungen gibt. Das bedeutet, dass die Fälle 4 und 5 sich tatsächlich nicht vom ersten Fall unterscheiden. Wir integrieren neue Beobachtungen in die natürliche Welt ein. Man kann auch sagen: Wenn wir ein Phänomen wie etwa Telepathie beobachten können, dann kann es sich von da ab nur um ein Ereignis der natürlichen Welt handeln!
Wissenschaft erweitert durch Beobachtung unsere Kenntnis der natürlichen Welt. Wenn man versucht, etwas der Wissenschaft zu »entziehen«, in dem man es für »übernatürlich« erklärt, dann geht dies nur, wenn man behauptet, es sei nicht beobachtbar. Dann kann man aber nicht feststellen, ob es auch wirklich stattgefunden hat!
Das kann man auch anders ausdrücken: Die Bezeichnung »übernatürlich« ist entweder ein Synonym für »unbekannt, unbeobachtet, unerforscht« oder wir haben einen logischen Widerspruch, nämlich, dass wir etwas beobachten, was wir nicht beobachten können. Eine »übernatürliche Ursache« zu behaupten heißt nichts weiter, als zu sagen, dass wir die Ursache nicht kennen (können). Und dann liegt ein weiterer Widerspruch vor, nämlich der, dass wir behaupten, dass wir von etwas die Ursache nicht wissen, aber wir wissen, dass sie übernatürlich ist. Und das ist ganz schlicht reiner Unsinn: Ich weiß etwas, von dem ich weiß, dass ich es nicht weiß oder nicht wissen kann. Ich beobachte etwas, sehe aber nichts. Etwas sieht aus wie ein Teil der natürlichen Welt, ist aber kein Teil der natürlichen Welt.
Schon rein sprachlich ist unbekannt nicht von übernatürlich zu unterscheiden. Wenn wir etwas Übernatürliches beobachten könnten (seine Wirkung), dann wäre dies nicht von einer natürlichen Ursache zu unterscheiden. Die Behauptung, etwas sei übernatürlich beeinflusst, ist daher sinnfrei.
Es gibt Dinge, die wir noch nie beobachtet haben, oder vielleicht auch nie beobachten werden. Aber das macht sie entweder unbeobachtbar, womit wir den Fall nicht vom zweiten Fall in der ersten Auflistung unterscheiden können, oder es ist doch beobachtbar, dann ist es »automatisch« damit ein Teil der natürlichen Welt, von der wir jetzt mehr sehen als vorher.
Es gibt viele zuvor unsichtbare Dinge, die wir schließlich doch observieren konnten, etwa Röntgenstrahlen. Aber es waren immer Wissenschaftler, die das gefunden haben, nie Theologen, Esoteriker oder andere Obskurantisten. Daran wird sich auch nichts ändern, aus den angeführten Gründen.
Kommentare
Das sehe ich viel einfacher:
Einerseits gibt es die Wirklichkeit, von der wir natürlich nur einen Teil wahrnehmen und/oder verstehen können, und andererseits den abergläubischen Unsinn in den Köpfen von Personen, denen zu begegnen ich möglichst vermeide.
Zur Unterscheidung reichen mir Lebenserfahrung und gesunder Menschenverstand: Ich weiß natürlich nicht ganz sicher, ob in meiner Garage ein unsichtbarer rosa Drache lebt, Jesus für mich gestorben ist und die ermordeten Prinzen im Tower spuken - aber wenn ich mich so verhalte, als wäre das nicht der Fall, dann reicht das für alle praktischen Zwecke völlig aus.
marstal08
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Schöner Beitrag. Ich stimme der Hauptlinie natürlich völlig zu, wenn etwas auf unsere Welt Einfluss hat ist es somit auch der wissenschaftlichen Methode zugänglich und der Ausdruck "übernatürlich" ist schlecht definiert. Aber ich ich verstehe einige Teile nicht ganz: 1. Ich sehe nicht wie die oben genannte Fälle 4. und 5. ununterscheidbar sind. Im ersten liegt eine einseitige kausale Beeinflussung vor, im zweiten eine beidseitige. Würde man irgendein "übernatürliches" Phänomen isolieren, könnte man doch feststellen, ob es sich von den Umständen in der "realen" Welt (auf die ein Testleiter Einfluss hat) beeinflussen lässt oder nicht. Das wäre dann doch ein Unterschied zwischen Fall 4. und 5, oder? 2. Können Objekte doch auch entstehen und sich nicht nur ändern. Ein Elektron dass in einem Teilchenbeschleuniger erzeugt wird war vorher nirgendwo vorhanden, es wurde mit seinem Positronpartner neu aus Energie erschaffen. 3. Das mit der Energieübertragung ist schlicht falsch. Ich fühle mich ein wenig unwohl dass meine Argumentation ein wenig wie Quantenmystik klingt, aber viele Experimente in der Quantenphysik (Beispiel per Google: http://quantum.info/andrew/publications/2004/ndqnd.pdf) beinflussen Objekte ohne dass ein Quäntchen Energie fließt. Und das Beipiel der Unschärfenrelation ist hier nicht von Belang, es ist gar keine Energie für die Zustandsänderung nötig. Zum Schluss aber wieder volle Zustimmung.
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Immer, wenn es wie hier um die Frage geht, ob irgendein X existiert, habe ich das Problem, dass mir keine gute Definition des Begriffs 'Existenz' bekannt ist (und mir fällt auch selbst keine ein). Was meinen wir eigentlich, wenn wir sagen, dass etwas existiert? Mir scheint, dass ohne eine solche Definition Überlegungen wie den hier angestellten die begriffliche Klarheit fehlt. Es scheint intuitiv klar, dass der Stuhl, auf dem ich gerade sitze, existiert. Andererseits handelt es sich bei diesem, wie bei jedem anderen Gegenstand, letztlich nur um eine Zusammenballung von Molekülen. Dass es sich um einen 'Stuhl' handelt, ist nur für einen Menschen oder mindestens ein dem Menschen hinlänglich ähnliches Wesen erkennbar oder von Bedeutung.
Vielleicht könnte man sagen, dass etwas genau dann existiert, wenn es in irgendeiner Weise auf mich einwirken kann (ich kann es entweder direkt mit meinen Sinnen oder indirekt durch Messgeräte erfassen). Dann wäre eine übernatürliche Sphäre nur als existent zu betrachten, wenn beobachtbare Wirkungen in der natürlichen Welt von ihr ausgehen. Aber möglicherweise ist eine solche Definition zu eng gefasst, da letztlich subjektiv.
Wie auch immer, ich denke, ohne eine saubere Begriffsklärung ist es müßig, über die Existenz oder Nichtexistenz von Dingen zu streiten...
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Sehr aufschlussreich!
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