Am Ende gewinnt Richard Dawkins

San Francisco, 3. Oktober 2024 mit Michael Shermer

Am Ende gewinnt Richard Dawkins

Foto: Peter Clarke

Die meiste Zeit meines Lebens brachte es mein Blut in Wallung, wenn ich nur den Namen „Richard Dawkins“ hörte. Als Christ aufgewachsen, war Dawkins die Verkörperung des Bösen und überschwemmte die Welt mit gefährlichen Ideen über Evolution und Naturalismus. Schlimmer noch, er war dabei selbstgefällig. Mit seiner Schlagfertigkeit und seinem hochtrabenden Oxford-Akzent war er der Hollywood-Archetyp des brillanten Professors. Es ist schwer in Worte zu fassen, wie sehr mich das geärgert hat.

Aber das ist Jahrzehnte her. Ich habe mich verändert. Die Welt hat sich verändert, sehr sogar.

Letzte Woche habe ich über das Ausmaß dieser Veränderung nachgedacht, als ich auf dem Gipfel des Dolores Park in San Francisco saß. Die Skyline der Stadt erstrahlte in einem sanften orangefarbenen Licht. Wenige Augenblicke später legte sich ein verträumter, violetter Dunst über die Stadt, während die Sonne im Pazifik versank. Ich war weit, weit weg von der kleinen Stadt, in der ich aufgewachsen war. Ich nahm mein Handy in die Hand, klickte auf die Waymo-App und rief ein fahrerloses Taxi, das mich abholen und zum Masonic Auditorium fahren sollte, wo Richard Dawkins im Rahmen seiner endgültig letzten Tournee in Amerika einen Vortrag halten würde. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich das einer jüngeren Version von mir beschreiben sollte.

Als Dawkins die Bühne betrat, wurde er mit stehenden Ovationen gefeiert. Michael Shermer, der Herausgeber der Zeitschrift Skeptic, moderierte das Gespräch mit Dawkins. Shermer eröffnete die Diskussion, indem er ein Exemplar von Dawkins' neuer Veröffentlichung The Genetic Book of the Dead hochhielt. Shermer bewarb es als „Ergänzung“ zu Dawkins' Erstlingswerk Das egoistische Gen, das 1976 erstmals veröffentlicht wurde. Dawkins entgegnete, er habe das Buch nicht so gesehen, aber ja, ihm gefalle die Idee es als Ergänzung zu seinem Frühwerk zu betrachten.

Zu Beginn seiner Ausführungen musste Dawkins husten und entschuldigte sich für seine Stimme. Er fühlte sich krank. Persönlich sah er gebrechlicher aus als bei aufgezeichneten Interviews. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück, wich ein paar von Shermers anspornenden Fragen aus, da er es offenbar als zu langwierig empfand, um sich darauf einzulassen, und sah allgemein so aus, als würde er lieber in Oxford bei Kerzenschein ein Buch lesen.

Dies war schließlich seine „Final Bow“-Tour. Er ist 83 Jahre alt.

Im Laufe des Abends gab es jedoch immer wieder Momente, in denen Dawkins voll aufblühte und jeden Anflug von Unmut oder Abgeschlagenheit fallen ließ. Das waren die Momente, in denen er direkt über Evolution und Biologie sprach. Besonders faszinierend ist das Thema seines neuen Buches, das (um daraus zu zitieren) um die Idee kreist, dass: „jedes Tier eine niedergeschriebene Beschreibung der Welt der Vorfahren ist“ und „Gene aus der Vergangenheit als Vorhersage der Welt gesehen werden können, in die ein Tier hineingeboren werden wird“. Auch als Achtzigjähriger ist Dawkins immer noch ein begnadeter Redner, und es gelingt ihm mühelos, Wissenschaft zugänglich und spannend zu machen.

Leider interessiert sich die Welt immer weniger für den Biologen Dawkins, sondern für den Gesellschaftskommentator Dawkins. Seine Meinungen zu sensiblen Themen wie Islam, Identität und Transgender-Debatte beherrschen inzwischen den Online-Diskurs um ihn. Im Jahr 2021 verlor er bekanntlich seine Auszeichnung „Humanist des Jahres“, weil er „Randgruppen herabsetzt“ hatte. Dennoch lässt er sich nicht im Geringsten einschüchtern oder demoralisieren und fährt fort, die progressiven Linken zu verärgern, so wie er es jahrelang mit der christlichen Rechten tat.

Nach der Hälfte seines Gesprächs mit Dawkins wechselte Shermer zu Themen des Kulturkampfes. Zuerst kam die Religion. Dawkins erklärte, dass er die Frage nach der Existenz Gottes faszinierend findet, denn wenn es Gott gäbe, wäre das eine bahnbrechende Offenbarung für unser Verständnis des Universums. Es hat keinen der Zuhörer geschockt, als er erklärte, dass die Wissenschaft die Hypothese der Existenz Gottes jedoch nicht stützt.

Ein Wespennest

Dann kam die Trans-Diskussion, die Shermer mit einem Hauch von Schalk in der Stimme ansetzte, da er wusste, dass das Thema ein Wespennest ist. Wie bei der Religionsdiskussion hielt Dawkins das Thema in der Sphäre der Wissenschaft. Er habe kein Interesse am sozialen Geschlecht, sagte er, das sei psychologisch und soziologisch, sondern nur am biologischen Geschlecht, der reinen Biologie. Wenn man von Pflanzen oder Tieren spreche, egal ob man in die Antike oder in die Gegenwart zurückblicke, sei das Geschlecht binär; es gebe eine kleine und eine große Keimzelle und keine dritte Option. Wenn Dawkins ins Politische abdriftete, dann nur, um seine Meinung kundzutun, dass biologische Männer im Sport nicht gegen biologische Frauen antreten sollten.

Das Publikum war für die Diskussion dieser sensiblen Themen sehr aufgeschlossen. Als Dawkins seine Ansichten über Transfrauen im Frauensport darlegte, brach mindestens die Hälfte des Publikums in Beifall aus. Während des Frage- und Antwortteils widersprachen mehrere Zuhörer Dawkins wegen seiner Ansichten über den Islam und Transfrauen, aber das Gespräch blieb höflich, und Dawkins verlor nie das Publikum, auch wenn er einige der jüngeren Zuhörer dazu brachte, sich in ihren Sitzen zu winden. In bewundernswerter Weise machte Dawkins immer wieder deutlich, dass es sein Ziel war, ein besseres Verständnis der Welt, wie es durch die wissenschaftliche Methode erforscht wurde, zu fördern und wenn wissenschaftliche Fakten bei irgendjemandem Anstoß erregten, dann sei es so.

Ross Andersen, der für The Atlantic über die Final-Bow-Tour berichtete, zeigte sich unbeeindruckt von Dawkins‘ Bereitschaft, sich mit kontroversen Themen auseinanderzusetzen. In dem Artikel „Richard Dawkins Keeps Shrinking“ heißt es: „Während seine Karriere zu Ende geht, nimmt sich ein Mann mit großen Ideen immer kleinere Ziele vor.“

„Dawkins scheint seinen Sinn für Proportionen verloren zu haben“, schreibt Andersen. „Jetzt, da die Mainstream-Kultur die großen Debatten über Evolution und Theismus hinter sich gelassen hat, hat er keinen prominenten Gegner mehr, der so perfekt zu seinem einzigartigen Talent passt, die kreative Kraft der Biologie zu erklären. Und so spielt er mit voller Wucht und ohne viel Unterscheidungsvermögen gegen alles, was ihm auch nur annähernd irrational erscheint.“

Diese Kritik liest sich wie eine betont intellektuelle Version der abfälligen Ratschläge, die man eigenwilligen Sportlern gibt: „Halt die Klappe und dribble.“ In einer Zeit, in der jeder zu allem eine Meinung hat, ist diese Kritik an einer der Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die am wenigsten ein Blatt vor den Mund nimmt, offen gesagt rätselhaft.

Aber, und das ist der springende Punkt, Dawkins braucht sich nicht mehr auf die „großen Debatten“ über Evolution und Theismus zu konzentrieren. Er hat diese Debatten in der breiteren westlichen Kultur gewonnen. Was mich persönlich betrifft, so haben seine Bücher über Evolution und Religion dazu beigetragen, dass ich meine kindlichen Überzeugungen über Religion geändert habe, auch wenn es viele Jahre gedauert hat, bis ich mich mit seinem kämpferischen Redestil anfreunden konnte. Unzählige Menschen haben ähnliche Erfahrungen gemacht. Für diejenigen, die die Evolution immer noch in Frage stellen und an einem festen Glauben an Gott festhalten, sind Dawkins' Werke in jeder Bibliothek und in jedem Buchladen in Amerika zu finden. In der muslimischen Welt sind seine Bücher in mehreren Übersetzungen kostenlos erhältlich.

Man kann darauf wetten, dass Dawkins‘ Ansichten zu den aktuellen Themen des Kulturkampfes auch den Sieg davontragen werden. Religiöse Erweckungen kommen und gehen. Die sogenannten „Großen Erwachen“ (Great Awokenings) kommen und gehen ebenfalls (dem Soziologen Musa al-Gharbi zufolge gab es seit den 1960er Jahren mindestens drei große Perioden „breiter kultureller Unruhen um Identitätsfragen“). Aber das Streben nach Wahrheit durch Wissenschaft und sachliche Argumentation ist ein Grundprinzip. Der Weg, den Dawkins im Laufe seiner Karriere beschritten hat, ist ein Weg, der den wechselnden Gezeiten der Kultur, den Veränderungen in der Politik und den technologischen Fortschritten erfolgreich standgehalten hat.

Es wird einige geben, die froh sind, dass Dawkins die Bühne verlässt und aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwindet. Die Prinzipien, für die er eintrat, werden jedoch fortbestehen. Für diejenigen, denen schon bei der bloßen Erwähnung seines Namens das Blut in Wallung gerät, bietet sein letzter Auftritt eine Gelegenheit zum Nachdenken: Vielleicht liegt das Unbehagen nicht an Dawkins als Person, sondern an seiner unerschrockenen Verteidigung wissenschaftlicher Entdeckung.

Peter Clarke, ein Mitarbeiter von Merion West, ist Schriftsteller in San Francisco und Gastgeber des Podcasts Team Futurism. Sie finden ihn auf X @HeyPeterClarke

Übersetzung: Jörg Elbe

Dieser Artikel erschien zuerst am 10. Oktober 2024 auf Merion West.

„Ich möchte, dass Merion West so ist, dass niemand einen Artikel sehen kann und schon vor dem Öffnen weiß, was darin stehen wird.“ - Erich J. Prinz, Chefredakteur

Merion West wurde 2016 gegründet, um eine neue und unabhängige Stimme in die aktuelle Medienlandschaft zu bringen, die zu polarisierend und sensationsgeil geworden ist. Merion West ist überparteilich und veröffentlicht kritische Kommentare und ausführliche Interviews aus dem gesamten politischen Spektrum und aus der ganzen Welt.

Nach den erfolgreichen Veranstaltungen in den USA und Nordamerika wird Richard Dawkins ab dem 21. Oktober 2024 seine Tour in Großbritannien und der EU fortsetzen. 5 von 11 Veranstaltungen sind bereits ausverkauft. Diese Tournee ist seine Abschiedsvorstellung.

Alle Termine finden sich hier: Ein Abend mit Richard Dawkins - Seine letzte Tournee.

Sein neues Buch „The Genetic Book of the Dead“, welches er auf der Tour vorstellt, ist am 17. September 2024 in den USA und am 17. Oktober 2024  in Großbritannien erschienen.

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Kommentare

  1. userpic
    Andreas Edmüller

    Auch in der Trans-Debatte hat Dawkins hervorragende und wichtige Aufklärungsarbeit geleistet. Zusammen mit anderen Kritikern wie Helen Joyce, Hannah Barnes, Michael Biggs oder Kathleen Stock hat er sich nie einschüchtern lassen und u.a. direkt und indirekt beharrlich das unsägliche "Behandlungsmodell" kritisiert, das an "Transkindern und -jugendlichen" viele Jahre hinweg an der zum Glück mittlerweile (viel zu spät) geschlossenen Tavistock-Klinik (GIDS) verfolgt wurde. Im UK hat man dieses Modell im Rahmen des NHS mittlerweile aufgegeben und dessen wichtigste Bausteine verboten.

    Ich glaube, Dawkins wirft auch bei solchen Themen sein intellektuelles und moralisches Gewicht in die Waagschale, weil man ihn nicht canceln kann und er anderen genau dadurch helfen kann, gehört zu werden. Wer sich auch nur am Rande mit Strategie, Taktik und Auswüchsen der Cancel Culture beschäftigt weiß, wie wichtig sein Engagement gerade in so einem Umfeld war und ist. Einmal mehr: Hut ab vor Richard Dawkins!

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