Ausgegrenzt, ausgeladen, storniert

Wie es ist, gecancelt zu werden

Ausgegrenzt, ausgeladen, storniert

Foto: Pixabay.com / viarami

Eine Universität ist eine sokratische Oase des freien Denkens: ein Zufluchtsort, an dem man jede noch so drängende Frage stellen, jede noch so abwegige Hypothese um des Argumentes willen aufstellen und jede noch so unpopuläre Meinung in Betracht ziehen - und höflich abweisen kann. „Lasst hundert Blumen blühen, lasst hundert Denkschulen streiten“.

Sollte es lesbischen Schwestern erlaubt sein, einander zu heiraten? Die Frage zu stellen, bedeutet nicht, eine Meinung zu äußern. Es ist eine Aufforderung zum Nachdenken, zum Argumentieren, sich Gedanken zu machen: Was ist eigentlich falsch am Inzest? Mit irgendetwas? Es ist eine Aufforderung, das zu tun, was Universitäten tun. Oder tun sollten.

Eine Petrischale in einer IVF-Klinik enthält ein Haufen von befruchteten Eiern. Eine von ihnen wird für die Einpflanzung ausgewählt. Sollte die Auswahl zufällig sein? Oder könnte das Paar das Geschlecht seines Kindes wählen? Sollten sie nach Intelligenz selektieren dürfen? Musikalische Begabung? Sportliche Begabung? Okay, das ist Ihr Aufsatz für nächste Woche.

Nein, ist es nicht. Der Professor, der diesen Aufsatz verfasst hat, würde angezeigt werden, weil er die Studenten „verletzt“ hat und ihnen das Gefühl gibt, dass es „unsicher“ ist. Amerikas tragische Geschichte der Sklaverei und Vergewaltigung - und die heutige Verbreitung von Mischehen - haben dafür gesorgt, dass Rasse ein Spektrum ist. Diese breite Palette an Rassen scheint viel Spielraum zu bieten, um sich als das zu identifizieren, was man möchte. Das könnte einige dazu verleiten, zu argumentieren, dass der Rassen-Regenbogen für Sie da ist: Fühlen Sie sich frei, sich als jede beliebige „Rasse“ zu identifizieren. Oder es wie ich zu tun pflege und „Mensch“ zu schreiben.

Aber was ist mit Ihrem Geschlecht? Wenn sich zwei Menschen unterschiedlicher Hautfarbe paaren, sind ihre Nachkommen gemischtrassig. Wenn sich ein Mann und eine Frau paaren, ist der Nachwuchs kein Hermaphrodit. Diskutieren Sie. Geschlechtsdysphorie ist ein Knackpunkt. Es gibt Menschen, die eine tiefe Diskrepanz zwischen ihren Geschlechtschromosomen und ihrem Verstand empfinden. Manche beschließen nach reiflicher Überlegung, den mutigen Schritt zu wagen, Hormone zu spritzen und sich einer drastischen Operation zu unterziehen. Wir müssen ihren Mut respektieren und sie höflich mit ihren bevorzugten Pronomen ansprechen. Aber wenn eine Person mit einem Penis widerspenstig verlangt, dass wir unsere Sprache ändern und ohne jeden Zweifel behaupten, dass sie tatsächlich eine Frau ist, eine Frau ist, eine Frau ist? Nun, was denkt die Klasse? 1996 ernannte mich die American Humanist Association zu ihrem Humanisten des Jahres. Der Vorstand des Jahres 2021 hat diese Ehrung wieder zurückgenommen. Und warum? Wegen dieses Tweets:

Im Jahr 2015 wurde Rachel Dolezal, eine weiße Ortsverband-Vorsitzende der NAACP, diffamiert, weil sie sich als Schwarze identifizierte. Einige Männer identifizieren sich selbst als Frauen, und einige Frauen identifizieren sich selbst als Männer. Sie werden diffamiert, wenn Sie verneinen, dass sie wortwörtlich das sind, als was sie sich identifizieren.

Diskutiert.

Ich entschuldige mich nicht. Nachdem ich einem Leben lang Lehrer in Oxford war, sind alte Gewohnheiten schwer abzulegen.

Zum Thema:

Richards Twitter Ecke (110)

Rasse ist ein Spektrum

Übersetzung: Jörg Elbe

Hier geht's zum Originalartikel...

Kommentare

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    Bernd Fouquet

    Was sollte es hier auch zu entschuldigen geben?

    Hier wurde lediglich auf sachliche Art und Weise eine Frage gestellt, die auf einen gewissen Widerspruch im Weltbild mancher Leute hinweist:

    Wie kommt es eigentlich, dass man in deren Welt sein Geschlecht durch eine blosse Erklärung aendern kann, ohne dass jemand anders das Recht haette diesen "Geschlechtswechsel" in Frage zu stellen, während dies bei einem analogen Wechsel der "Rasse" (ich verwende mal diesen vorbelasteten Begriff, obwohl ere mir nicht gefällt) nicht darf und sich stattdessen einer schweren Verfehlung schuldig gemacht hat? Diese Frage konnte mir bisher niemand schlüssig beantworten. Warum fordert eigentlich niemand "Pigmentierungstherapie" fuer Menschen, die sich buchstäblich in ihrer Haut nicht zuhause fuehlen?

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      Norbert Schönecker

      S.g. Herr Fouquet!

      Mir scheint, dass es einen gravierenden Fehler in der Analogie von Rasse und Geschlecht gibt:
      Die meisten Menschen (vielleicht sogar alle) fühlen sich einem Geschlecht zugehörig. Als Mann empfinde ich mich als männlich, ich denke und handle männlich. Mein Mann-Sein ist ein konstitutives Element meiner Persönlichkeit.
      Über meine "Rasse" (ich verwende wie Sie das Wort mangels Alternativen) kann ich das nicht sagen. Ich bin zwar kulturell deutsch-österreichisch, das prägt mich in mancher Hinsicht, aber es ist kein Wesenszug von mir. V.a. aber hat es nichts mit meiner Rasse (europid, oder was auch immer) zu tun. Auch ein Zuwanderer aus Zentralafrika kann kulturell ein Mitteleuropäer sein.

      Anders ausgedrückt: dass ich ein Mann bin, wird mir oftmals am Tag bewusst. Dass ich ein Europide bin, nicht.
      Deshalb ist es für mich sehr plausibel, dass jemand das Gefühl haben kann, einen Körper mit dem falschen Geschlecht zu haben. Aber ich kann mir nicht vorstellen, wie jemand das Gefühl haben kann, einen Körper mit der falschen Rasse zu haben.

      Oder, nochmals anders: mit dunkelbrauner Haut wäre ich immer noch derselbe. Mit anderen Geschlechtsmerkmalen nicht.

      Deshalb vermute ich bei einem Menschen, der von sich selbst sagt, er würder einer anderen Rasse angehören als seiner biologischen, weniger ehrliche Motive als bei einem Transsexuellen.
      (Anm.: es könnten aber sehr edle Motive sein, z.B. das Aufzeigen rassistischen Denkens in Form von Satire. Das wäre dann sogar unterstützenswert. Nur das echte Leid darüber, im falschen Körper zu stecken, das nehme ich diesem Menschen nicht ab).

      So, das war mein Beitrag zu Dawkins' Aufforderung "Diskutiert". Denn dass man, gerade im akademischen Bereich, über alles diskutieren kann, dem stimme ich zu.

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        Bernd Fouquet

        Dieser Unterschied leuchtet mir nicht so recht ein, verehrter Herr Schoenecker. Sie mögen das fuer sich ja so empfinden, was aber wenn z.B. ein Schwarzafrikaner sich "kulturell als Mitteleuropäer fühlt" und fuer sich das Recht fordert auch wie ein Mitteleuropaeer aussehen und als vollwertiger Mitteleuropaer gelten zu duerfen, wenn er sich selbst als solcher identifiziert? Soll er dieses Recht haben? Ja oder nein? Wenn nein, weshalb nicht? Und umgekehrt? Darf ich mir die Haut pigmentieren lassen, afrikanische Kleider tragen und mich zukünftig als Schwarzafrikaner identifizieren? Falls nein, mit welcher Begründung?

        Zur Kenntnis nehme ich darüberhinaus, dass Sie genau wie ich das Thema ueberhaupt fuer diskussionsfähig halten und nicht wie manche unserer Mitmenschen durch Tabuisierung jede diesbezügliche Diskussion unterbinden wollen. Das ist doch schon mal eine gemeinsame Basis, auch falls wir moeglicherweise beim Diskussionsgegenstand selber keine grosse Übereinstimmung erzielen sollten.

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          Norbert Schönecker

          S.g. Herr Fouquet!

          Ich bin eben nicht der Meinung, dass ein Schwarzafrikaner, auch wenn er noch so sehr kulturell europäisch wäre, für sich das Recht in Anspruch nehmen kann, wie ein Europäer auszusehen. Weil es nämlich einen offenkundigen Unterschied zwischen dem Aussehen und der Kultur gibt: das Aussehen spielt subjektiv keine große Rolle! Für die meisten Schwarzafrikaner, die bereits in Mitteleuropa geboren und aufgewachsen sind, wäre das eigene afrikanische Aussehen völlig vereinbar mit der europäischen Lebensweise, wenn es nicht von manchen Rassisten zu einem Problem gemacht würde. Ein Schwarzafrikaner kann sich problemlos als Deutscher oder Österreicher fühlen, sein Körper ist nicht das geringste Hindernis. (Das ist eine wenig belegte Behauptung, aber aus meinen wenigen Kontakten mit Wienern afrikanischer Abstammung halte ich sie für zutreffend).

          Bei der Geschlechtszugehörigkeit ist das etwas anderes: wenn ein Mensch in einem männlichen Körper sich selbst als Frau wahrnimmt, dann ist der Blick in den Spiegel für ihn (oder sie) ein sehr großes Problem.

          Und deshalb halte ich Dawkins' Analogie für unpassend, und ich kann verstehen dass gerade antirassistische LGBTQ+-Aktivisten darauf mit Empörung reagieren.

          Inhaltlich sind wir aber gar nicht weit auseinander. Ich halte es tatsächlich für dumm, eine biologische Unterscheidung zwischen Mann und Frau zu leugnen, die auf über 99% der Menschheit zutrifft und rein genetisch nicht zu ändern ist (nach derzeitigem Stand der Technik). Es wäre geradezu vertrottelt, als biologischer Mann einen Frauenarzt aufzusuchen, weil ich mich gerade so feminin fühle. Und es ist unseriös und u.U. sogar gefährlich, aus purer Ideologie die Wirkung der Geschlechtshormone auf das Verhalten zu ignorieren.

          Die Aufforderung zur Diskussion ist auf jeden Fall gut. So wie Sie bin ich der Meinung, dass Tabuisierungen die Wissenschaft hemmen und Menschen trennen. Und Argumente fördern sowohl Wissen als auch Frieden mehr als die oben erwähnte Empörung.

          Mit freundlichen Grüßen!

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        Christ

        Sich einer anderen "Rasse" (vielleicht wäre "Taxon" eine alternative Bezeichnung) angehörig zu erklären - und erst noch mit anderer Hautfarbe - empfinde ich als absurd. Die Abstammung ist nun mal gegeben, selbst wenn die Hautpigmentierung medizinisch verändert oder die Gesichtszüge chirurgisch umgestaltet werden würden. Es gibt genug Wege, sich mit einer anderen Rasse (oder dem anderen Geschlecht) zu solidarisieren. Wann kommt es einem Zeitgenossen in den Sinn, sich mit einem Willensakt zu den Delphinen zugehörig zu erklären?

        Für Atheisten: Der Ursprung ist irreversibel und kann deshalb auch nicht geleugnet oder nach eigenem Gusto mit einer blossen Willenserklärung abgeändert werden.

        Für Christen (zusätzlich): Die Menschheit versucht immer öfters, Gottes Schöpfung zu korrigieren oder zu "verbessern". Was massen wir uns bloss an? Dies verstösst m.E. gegen das 2. Gebot. Wie sollen wir uns für die "neue Schöpfung" im Ewigen Leben als würdig erweisen, wenn wir nicht mal unsere heute erlebbare Schöpfung hochachten und wahren?

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