Ein Weg zu objektiver Moral

Warum die Argumente für den wissenschaftlichen Humanismus rational sind

Ein Weg zu objektiver Moral

Foto: Pixabay.com / Tumisu

Als Antwort auf meine Kolumne vom Januar 2019 (Steins Gesetz und die Mission der Wissenschaft) hat der Historiker Richard Weikart von der California State University, der auch Senior Fellow des Center for Science and Culture des Discovery Institute (einer Organisation, die sich für den Intelligent Design Kreationismus einsetzt) ist, eine Kritik geschrieben, in der er behauptet, dass „Michael Shermer wieder einmal Wissenschaft mit Atheismus verwechselt und unerklärlicherweise behauptet, dass die Wissenschaft den Humanismus unterstützen kann“. Er sagt, dass ich versuche, „Geschichte umzuschreiben“, indem ich darauf bestehe, „dass Wissenschaft auf atheistischen Annahmen aufbaut“. Auch wenn ich den Atheismus nie erwähne, sagt Weikart über die folgende Passage meiner Kolumne: „Wissenschaftlicher Naturalismus, wie er hier definiert ist, ist Atheismus“. Urteilen Sie selbst:

Die moderne Wissenschaft entstand im 16. und 17. Jahrhundert nach der wissenschaftlichen Revolution und der Einführung des wissenschaftlichen Naturalismus oder der Vorstellung, dass die Welt von Naturgesetzen und -kräften regiert wird, die bekannt sind, dass alle Phänomene Teil der Natur sind und durch natürliche Ursachen erklärt werden können, und dass die kognitiven, sozialen und moralischen Phänomene des Menschen ebenso Teil dieser erfassbaren Welt sind.

Atheismus ist einfach der fehlende Glaube an einen Gott. Punkt. Er ist keine Weltanschauung, kein Paradigma und keine Ideologie. Die meisten Atheisten bekennen sich natürlich zum wissenschaftlichen Naturalismus, wie ich ihn definiert habe, aber das tun auch viele moderne Theisten wie der renommierte Genetiker und Direktor der National Institutes of Health, Francis Collins, von dem Weikart sagt, er würde „diese atheistische Definition von Wissenschaft“ nicht akzeptieren. Im Gegenteil, ich kenne Dr. Collins und nahm unseren Dialog über genau dieses Thema in mein Buch The Believing Brain (2011, Henry Holt) auf, in welchem er seine Ablehnung des Intelligent Design Kreationismus bekräftigt (sein Buch The Language of God ist eine der besten Widerlegungen aller Formen des Kreationismus) und sein Bekenntnis zum wissenschaftlichen Naturalismus ohne eine zugrundeliegende atheistische Annahme bekräftigt. Zur Evolution des moralischen Bewusstseins sagte Collins zum Beispiel zu mir: „Das schließt nicht aus, dass Gott es geplant hat, denn für einen theistischen Evolutionisten wie mich war die Evolution Gottes ehrfurchtgebietender Plan für die ganze Schöpfung. Wenn Gottes Plan Zehennägel und Schläfenlappen hervorbringen konnte, warum nicht auch ein moralisches Bewusstsein? Wie Collins es 2006 in einem Artikel in Nature mit dem Titel „Building Bridges“ definierte, ist theistische Evolution der Standpunkt, dass „Evolution real ist, aber dass sie von Gott in Gang gesetzt wurde“.

Weikart erklärt weiter, dass Thomas Jefferson (zusammen mit John Locke) die These meiner Kolumne zurückweisen würde, die besagt, dass „der menschliche Fortschritt […] hauptsächlich das Ergebnis der Anwendung des wissenschaftlichen Naturalismus zur Lösung von Problemen war, von der Konstruktion von Brücken und der Ausrottung von Krankheiten bis zur Verlängerung der Lebensspanne und der Ausweitung von Rechten“. Zur Unterstützung zitiert Weikart Jeffersons berühmte Passage aus der Unabhängigkeitserklärung, in welcher der Weise von Monticello die selbstverständliche Wahrheit geltend macht, „ dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören. Tatsächlich ist diese Passage ein Spiegelbild der aufklärerischen Vernunft, nicht des religiösen Glaubens. In seiner Biografie über Benjamin Franklin erzählt Walter Isaacson die Geschichte, wie der Begriff „selbstverständlich“ von Franklin am Freitag, dem 21. Juni 1776, dem ursprünglichen Entwurf von Jefferson hinzugefügt wurde:

Die wichtigste seiner Bearbeitungen war klein, aber von nachhaltiger Bedeutung. Er strich die letzten drei Worte von Jeffersons Satz „Folgende Wahrheiten erachten wir für heilig und unbestreitbar“ durch und änderte sie in die Worte, die jetzt in der Geschichte verankert sind, mit schweren Backslashes, die er oft verwendete: „Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich“.

Die Idee der „selbstverständlichen“ Wahrheiten bezog sich weniger auf John Locke, der Jeffersons bevorzugter Philosoph war, als auf den wissenschaftlichen Determinismus von Isaac Newton und den analytischen Empirismus von Franklins engem Freund David Hume. In dem, was als „Humes Gabel“ bekannt wurde, hatte der große schottische Philosoph zusammen mit Leibniz und anderen eine Theorie entwickelt, die zwischen synthetischen Wahrheiten, die Tatsachen beschreiben (wie z.B. „London ist größer als Philadelphia“), und analytischen Wahrheiten, die aufgrund von Vernunft und Definition selbstverständlich sind („Die Winkel eines Dreiecks betragen 180 Grad“; „Alle Junggesellen sind unverheiratet“), unterschied. Mit der Verwendung des Wortes „heilig“ hatte Jefferson, absichtlich oder unabsichtlich, behauptet, dass das fragliche Prinzip - die Gleichheit der Menschen und ihre Ausstattung durch ihren Schöpfer mit unveräußerlichen Rechten - eine Behauptung der Religion sei. Franklins Bearbeitung verwandelte es stattdessen in eine Aussage der Rationalität.

Was Jeffersons Erklärung betrifft, dass „alle Menschen gleich geschaffen sind“, weit davon entfernt, dass Religion oder die Bibel die Quelle dieses größte aller moralischen Gebote ist, so erklärte Jefferson seine Inspiration ein halbes Jahrhundert, nachdem er sie geschrieben hatte, in einem Brief an Henry Lee im Jahr 1825: „Weder auf Originalität des Prinzips oder des Gefühls abzielend, noch von einer bestimmten und früheren Schrift abgeschrieben, sollte es ein Ausdruck des amerikanischen Geistes sein und diesem Ausdruck den richtigen Ton und Geist verleihen, der bei dieser Gelegenheit gefordert wurde. Seine ganze Autorität beruht dann auf den harmonisierenden Gedanken des Tages, ob sie nun im Gespräch, in Briefen, gedruckten Essays oder in den elementaren Büchern des öffentlichen Rechts wie Aristoteles, Cicero, Locke, Sidney usw. zum Ausdruck kommen.

Schließlich stellt Weikart fest, dass meine Atheisten- und Säkularistenkollegen „argumentiert haben, dass Wissenschaft und/oder Atheismus alle objektive Moral und Menschenrechte untergräbt“, und stellt dabei fest: „E.O. Wilson, Harvard-Professor für Biologie, erklärte in einem gemeinsam mit dem Philosophen Michael Ruse verfassten Artikel: 'Ethik, wie wir sie verstehen, ist eine Illusion, die uns durch unsere Gene verabreicht wird, um uns zur Zusammenarbeit zu bewegen.' Wilson und viele andere gleichgesinnte Wissenschaftler stellen die Wissenschaft so dar, dass sie die Moral und die Menschenrechte untergräbt und keine Grundlage dafür bietet“.

Es stimmt, dass einige Atheisten und Säkularisten die Objektivität von Moral und Menschenrechten ablehnen, aber ich gehöre nicht dazu. In seinem 1998 erschienenen Buch Consilience: The Unity of Knowledge (Knopf) skizziert E.O. Wilson das Problem auf diese Weise: „Entweder sind ethische Gebote wie Gerechtigkeit und Menschenrechte unabhängig von menschlicher Erfahrung oder aber sie sind menschliche Erfindungen.“ Auf der einen Seite, so Wilson, stehen die Transzendentalisten, „die glauben, dass moralische Richtlinien außerhalb des menschlichen Verstandes existieren“. Auf der anderen Seite sind die Empiriker, „die denken, dass sie Erfindungen des Verstandes sind“. Wilson ist ein Empiriker: „Ich glaube an die Unabhängigkeit der moralischen Werte, ob von Gott oder nicht, und ich glaube, dass moralische Werte allein vom Menschen kommen, ob Gott existiert oder nicht.“ Ich schlage einen Transzendentalismus und Empirismus, die beide konsensfähig sind, vor. Und wie?

Moral ist objektiv in dem Sinne, dass sie außerhalb des Verstandes eines Menschen oder einer Kultur existiert, sondern stattdessen der gesamten Menschheit gehört. Die natürliche Auslese schuf die moralischen Emotionen und die damit einhergehenden Verhaltensweisen über Millionen von Jahren der Evolution der Primaten, so dass heute, obwohl wir uns darin einig sind, dass der Mensch Moral und Ethik geschaffen hat (und wir somit Empiriker sind), nicht wir es sind, die die moralischen Emotionen und Verhaltensweisen geschaffen haben, sondern die im Verlauf längst vergangenen Jahrtausende auf unsere paläolithischen Vorfahren einwirkenden Kräfte der Evolution. Wir erben sie, stimmen sie auf unsere kulturellen Kontexte ab und passen sie an und wenden sie innerhalb unserer spezifisch historischen Umstände an. In diesem Sinne existieren die moralischen Emotionen und Verhaltensweisen jenseits von uns, als Produkte einer unpersönlichen Kraft, die man Evolution nennt. So wie die Evolution die Kultur transzendiert, so transzendieren auch Moral und Ethik die Kultur, insofern als letztere direkte Produkte der ersteren sind.

Daher scheint es rational, sowohl ein Transzendentalist als auch ein Empiriker zu sein. Nennen wir es transzendenten Empirismus. Der transzendente Empirismus vermeidet das Übernatürliche (z.B. die Theorie des göttlichen Befehls) als Erklärung der Moral und begründet die Moral dennoch auf etwas anderem als dem Relativismus einer kulturell bestimmten Ethik. Er hat den zusätzlichen Vorteil, dass er eine überprüfbare Hypothese ist, so wie jedes evolutionäre Merkmal der Überprüfung durch die empirische Wissenschaft unterliegen kann. Somit bietet uns der transzendente Empirismus einen Weg zu einer objektiven Moral.

Übersetzung: Jörg Elbe

Der US-amerikanische Psychologe und Wissenschaftsjournalist Dr. Michael Shermer ist Gründer der Skeptics Society, Herausgeber des Magazins SKEPTIC und Verfasser vieler grundlegender Werke rund um die Unterscheidung zwischen Glauben und Wissen. Er hat sich besonders als Kritiker des Kreationismus und der Holocaust-Leugnerszene einen Namen gemacht.

Im November 2018 erschien die deutsche Ausgabe von „The Moral Arc“: Der moralische Fortschritt im Alibri Verlag (gefördert von der Richard Dawkins Foundation Deutschland).

Sein aktuelles Buch Giving the Devil his Due - Reflections of a Scientific Humanist hat er im Juni 2020 in einem Livestream vorgestellt.

http://www.michaelshermer.com
http://www.skeptic.com

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