Every Thing Must Go (1/2)

Metaphysics Naturalized – Eine Buchrezension

Every Thing Must Go (1/2)

Foto: Pixabay.com / Aris_Tsitiridis

James Ladyman und Don Ross haben mit Every Thing Must Go: Metaphysics Naturalized ein vielbeachtetes Buch vorgelegt. Das Buch ist klug, provozierend und dicht geschrieben. Es enthält mehr interessante Gedanken, als in einer Rezension angemessen besprochen werden können. Ich konzentriere mich daher darauf die Kerngedanken des ersten und dritten Kapitels des Buches zu rezensieren. Der erste Abschnitt dieser Rezension widmet sich zugleich auch dem ersten Kapitel des Buches, in welchem Ladyman und Ross ihre metametaphilosophischen Überlegungen darlegen.

Der zweite Abschnitt der Rezension behandelt dann das dritte Kapitel des Buches. In diesem motivieren Ladyman und Ross ihre revolutionäre Metaphysik des ontischen Strukturenrealismus durch die Relativitätstheorie und die Quantenphysik. Auf den ontischen Strukturenrealismus (OSR) bezieht sich dann auch der Titel des Buches: „Every Thing Must Go“ bringt die Überzeugung des OSR zum Ausdruck, dass letztendlich nur Relationen und gar keine Dinge oder Objekte als Relata dieser Relationen in der physikalischen Welt existieren. Ich persönlich sympathisiere im Allgemeinen stark mit der dem Buch zugrundeliegenden Idee einer naturalisierten Metaphysik und eines naturwissenschaftlichen Weltbildes. Allerdings haben mich die Ansätze und Argumente von L&R im Speziellen nicht überzeugt. Im dritten Abschnitt bringe ich einige Verbesserungsvorschläge und eigene Überlegungen zur naturalisierten Metaphysik an.

1. Die Metametaphysik (Kapitel 1)

Das erste Kapitel des Buches ist der sogenannten Metametaphysik gewidmet. Darunter versteht man das Studium von Fragen wie: Was ist der Gegenstandsbereich der Metaphysik? Was könnten die Methoden einer aufgeklärten Metaphysik sein? Auf welchen Quellen beruht metaphysisches Wissen und ist dieses überhaupt möglich?

1.1. Analytische Metaphysik

Ladyman und Ross (fortan kurz: L&R) beginnen das Kapitel mit einer grundsätzlichen Kritik an der klassisch-analytischen Metaphysik.[1] Darunter verstehen sie Metaphysik, welche entweder auf (i) a priori Methoden oder (ii) völlig veralteten wissenschaftlichen Überzeugungen beruht. Ein Beispiel für eine rein apriorische Metaphysik ist der modale Realismus von David Lewis. Lewis behauptet, dass alle möglichen Welten genauso real sind wie unsere aktuale Welt. Eine mögliche Welt ist dabei eine vollständige Art und Weise, wie unser Universum hätte sein können. In einer möglichen Welt hat also Al Gore die US-Wahl 2000 gewonnen und in einer anderen bevölkern grüne Kängurus die Andromedagalaxie. Lewis glaubt nun, dass alle diese Welten tatsächlich existieren. Er hat eine ganze Reihe von Argumenten für diese Sicht entwickelt[2], die vor allem auf Kosten-Nutzen-Analysen gründen rein a priori sind, das heißt nicht auf Erfahrungen beruhen.

Ein weiteres Beispiel ist Frank Jacksons Argument des unvollständigen Wissens.[3] Jackson fordert uns auf, uns eine perfekte Neurowissenschaftlerin namens Mary vorzustellen. Mary weiß alles, was es wissenschaftlich über das Farbsehen von Menschen zu wissen gibt. Beispielsweise weiß sie genau, welche elektrischen Impulse und biochemischen Reaktionen sich bei einer bestimmten Rotwahrnehmung im Gehirn eines Menschen abspielen. Der Clou ist, dass Mary aber bisher in einem schwarz-weißen Raum gelebt und also noch nie selbst eine Rotempfindung hatte. Jackson behauptet jetzt, dass es etwas gibt, dass Mary noch nicht weiß, nämlich wie es sich subjektiv anfühlt die Farbe Rot wahrzunehmen. Diese zentrale Annahme seiner Argumentation kann er aber offenbar nicht empirisch belegen, sondern beruht auf einem Rückgriff auf Intuitionen. Sie wird gerechtfertigt durch einen Schluss, der sich auf diese allgemeine Form bringen lässt:

(*) Es wird ein Fall imaginiert, in dem F intuitiv (nicht) X ist, was die Annahme rechtfertigt, dass F tatsächlich (nicht) X ist.

Etliche Argumente in der zeitgenössischen analytischen Metaphysik haben diese Form. Kommen wir zu der Metaphysik, welche auf veralteten wissenschaftlichen Überzeugungen beruht. Auch diese zählt nach L&R zu der analytischen Metaphysik. Ein Beispiel, dass in fast jeder Literatur zur naturalisierten Metaphysik auftaucht, ist die These der Humeschen Supervenienz.[4] Diese besagt, grob gesagt, dass die Welt letztendlich auf Grundlage von fundamentalen physikalischen und intrinsischen Eigenschaften besteht. Alles andere in der Welt – einschließlich kausalen und nomologischen Beziehungen – wird durch die Verteilung dieser Eigenschaften festgelegt. Dass diese fundamentalen Eigenschaften intrinsisch sind, bedeutet, dass sie unabhängig voneinander existieren. Diese Sichtweise geht auf Demokrits Atomismus zurück und hielt sich bis hinein in die klassische Physik. Nach L&R induziert die moderne Quantenphysik aber keinen Atomismus, sondern einen Holismus. Sie zeichnet ein Bild von der Welt, in der es auf einer fundamentalen Ebene nicht mehr unteilbare Objekte gibt, die ihre konstitutiven Eigenschaften unabhängig voneinander besitzen. Stattdessen gibt es dort gar keine Objekte, sondern nur noch Struktur (siehe ausführlicher Abschnitt 2 in dieser Rezension).

Die These der Humeschen Supervenienz beruht also auf einer wissenschaftlich veralteten atomistischen Grundüberzeugung. Ähnliches gilt nach L&R auch für viele Diskussionen in der zeitgenössischen Mereologie. Die Mereologie ist die Lehre vom Verhältnis zwischen Teil und Ganzem. Laut L&R beruhen viele mereologische Diskussionen auf der „Containment-Doktrin“. Nach dieser ist ein Ganzes eine Art riesiger Container, das seine Eigenschaften allein aufgrund seiner Teile und deren kausalen Interaktionen untereinander besitzt. Auch diese Vorstellung wird nach L&R durch die Quantenphysik aus Gründen falsifiziert, die wir später noch kennenlernen werden.

Wichtig ist, dass L&R Intuitionen nicht partout für unzuverlässig erklären. Wenn Experimentalphysiker die Intuition haben, dass die Welt im Innersten holistisch strukturiert ist, dann ist diese Intuition empirisch begründet und gehört deshalb ernst genommen.[5] Falls sich allerdings ein analytischer Metaphysiker wie Jackson oder Lewis auf seine Intuitionen beruft, dann beruft er sich nach L&R auf einen vorkritischen „gesunden Menschenverstand“ oder einem naturwissenschaftlich uninformierten Bauchgefühl. Das Problem nach L&R ist dabei, dass sich unsere Intuitionen im Laufe der Evolution in Anpassung an alltägliche (mesokosmische) Größenordnungen entwickelt hat. Wenn überhaupt, dann sind unsere Intuitionen daher nur bei alltäglichen Größenordnungen bzw. Skalen zuverlässig. Denn die Natur ist nicht skalen-invariant, das heißt, sie verhält sich nicht auf allen Größenordnungen gleich. Die newtonsche Mechanik zum Beispiel beschreibt annähernd das Verhalten von Systemen bei alltäglichen Massen und Geschwindigkeiten. Bei nicht-alltäglichen Massen und Geschwindigkeiten verliert sie hingegen ihre Gültigkeit. Ähnliches gilt für die Zustände der Materie. In alltäglichen Situationen erleben wir Materie in den drei Zuständen fest, flüssig und gasförmig. Unter extremen Bedingungen kann Materie aber superfluid werden (etwa bei einem Bose-Einstein-Kondensat) und sich radikal anders verhalten. Da Nicht-Physiker Materie aber nie unter solchen Bedingungen erleben, ist das Verhalten für sie komplett kontraintuitiv.

Weil die empirische Welt nicht immer skalen-invariant ist, sind empirisch uninformierte Schlussfolgerungen über Größenordnungen hinweg immer mit einem besonderen induktiven Risiko verbunden. Beispiele sind die These der Humeschen Supervenienz oder die Containment-Metapher. Beide lassen sich durch die alltägliche Erfahrung motivieren, die ein weitgehend atomistisches Weltbild nahelegen kann. Und beide übertragen dieses Bild auch auf mikroskopische Größenordnungen und verlieren dort aufgrund des Superpositionsprinzips ihre Gültigkeit. Das Problem ist nach L&R also, dass analytische Metaphysiker über die Welt reden, ohne aber unsere besten und reifsten wissenschaftlichen Theorien über die empirische Welt genaustens zu studieren. Je nachdem, welche Metapher einem lieber ist, sitzen sie in ihren Lehnstühlen oder Elfenbeintürmen und entwerfen Weltbilder aufgrund von a-priori Überlegungen oder völlig veralteten wissenschaftlichen Überzeugungen. L&R gehen so weit zu sagen, dass:

„analytic metaphysics, a professional activity engaged in by some extremely intelligent and morally serious people, fails to qualify as part of the enlightened pursuit of objective truth, and should be discontinued. […] standard analytic metaphysics (or ‘neo-scholastic’ metaphysics as we call it) contributes nothing to human knowledge and, where it has any impact at all, systematically misrepresents the relative significance of what we do know on the basis of science.“

- James Ladyman und Don Ross: Every thing must go: Metaphysics Naturalized, S. vii.

1.2. Naturalistische Metaphysik

Trotzdem folgen L&R nicht etwa den Philosophen des Wiener Kreises und erklären metaphysische Aussagen grundsätzlich für sinnlos. Stattdessen schlagen sie eine radikal naturalistische Metaphysik vor. Eine naturalisierte Metaphysik beruht grundsätzlich auf a-posteriorischen (empirischen) wissenschaftlichen Überzeugungen und wohlmöglich auch auf wissenschaftlichen Methoden. Zentral für das Verständnis von L&R ist dabei die Vorstellung, dass naturalisierte Metaphysik versuchen soll, wissenschaftliche Hypothesen zu vereinheitlichen, die in der gegenwärtigen Wissenschaft ernstgenommen werden. Das heißt sie soll metaphysische Theorien entwickeln, die zeigen, dass scheinbar getrennte wissenschaftliche Hypothesen tatsächlich miteinander verbunden sind. Dieser Aufgabe sollte sich eine naturalisierte Metaphysik widmen, denn erstens ist Vereinheitlichung ein erstrebenswertes epistemisches Ziel und zweitens würde sich keine Einzelwissenschaft diesem Ziel widmen. Nach einigen Anläufen formulieren L&R schließlich das Prinzip PNG:

(PNG) Prinzip der naturalistischen Geschlossenheit:[6]

(i) Wenn reife wissenschaftliche Theorien sagen, dass eine Hypothese H außerhalb unserer Untersuchungsfähigkeiten liegt, dann darf die naturalisierte Metaphysik H auch nicht ernstnehmen.[7] Das heißt letztendlich, dass alle ernstzunehmenden Hypothesen prinzipiell empirisch überprüfbar sein müssen.

(ii) Jede metaphysische Theorie muss aufzeigen, dass zwei oder mehr wissenschaftliche Hypothesen gemeinsam mehr Erklärungskraft besitzen als für sich allein genommen und eine der Hypothesen muss der fundamentalen Physik entspringen. Eine wissenschaftliche Hypothese ist dabei eine, die von aktuellen professionellen Wissenschaftlern ernstgenommen wird.

Ich persönlich sympathisiere stark mit der Grundidee einer naturalisierten Metaphysik. Allerdings finde ich den Ansatz von L&R im Allgemeinen zu radikal (siehe Abschnitt 3) und das Prinzip (PNG) im Speziellen wenig überzeugend. Konzentrieren wir uns auf die Aussage (ii): Es ist völlig unklar, weshalb einer der zu vereinheitlichenden wissenschaftlichen Hypothesen der fundamentalen Physik entspringen soll. Eine lebhafte Debatte in der naturalisierten Metaphysik dreht sich beispielsweise um die Frage, ob die klassische Genetik auf die molekulare Biologie zurückgeführt werden kann. Die Grundidee ist, grob gesagt, dass die klassische Genetik Gene über eine bestimmte kausale Rolle definiert. Die molekulare Biologie kann Konfigurationen von Molekülen ausmachen, welche qua Konfiguration genau die kausale Rolle ausführen, die ein bestimmtes Gen charakterisieren. Allerdings kann ein und dieselbe kausale Rolle von vollkommen unterschiedlich zusammengesetzten Molekülkonfigurationen ausgeführt werden. Dieses Problem ist auch als das Problem der multiplen Realisierbarkeit bekannt und stellt in Frage, ob zwischen Genen und Molekülkonfigurationen eine Typen-Identität hergestellt werden kann.[8] Klar ist, dass die Hypothesen aus der klassischen Genetik und der molekularen Biologie zusammen mehr erklären können als einzeln. Beispielsweise kann die Existenz von Genvorkommnissen innerhalb der klassischen Genetik nicht reduktiv erklärt werden und in der Molekularbiologie schon. Es mag sein, dass das Verhalten von Genen weiter reduziert und eines Tages durch die fundamentale Physik erklärt werden kann. Aber bis dahin bedarf es noch viel Arbeit und argumentative Schritte. Für mich ist nicht ersichtlich, warum diese Arbeit und Argumente unabhängig von der fundamentalen Physik kein Bestandteil der naturalisierten Metaphysik sein sollten.[9]

Viele gute Argumente aus der naturalisierten Metaphysik haben überdies gar nichts mit Vereinheitlichung zu tun. Nehmen wir beispielsweise das Argument aus der Speziellen Relativitätstheorie gegen den Präsentismus. Der Präsentismus besagt, dass nur gegenwärtige Ereignisse real existieren. Diese These liegt uns vom Alltagsverständnis her intuitiv wieder sehr nahe: Was in der Zukunft sein wird, existiert intuitiv noch nicht; was in der Vergangenheit war, existiert intuitiv nicht mehr. Und auch diese These ist in der Newtonschen Physik noch unproblematisch. Denn in jener ist Gleichzeitigkeit noch eine zweistellige Relation: Zwei Ereignisse e1 und e2 finden entweder gleichzeitig statt oder nicht. In der Speziellen Relativitätstheorie hingegen ist die Gleichzeitigkeit eine dreistellige Relation: zwei Ereignisse e1 und e2 sind immer nur gleichzeitig relativ zu einem Bezugssystem B1. In Bezug auf ein anderes Bezugssystem B2 findet e1 vor e2 statt und in Bezug auf ein drittes Bezugssystem B3 ist es gerade umgekehrt. Das Argument gegen den Präsentismus lautet also, dass es laut der speziellen Relativitätstheorie keine universelle Gegenwart gibt, weil es keine universelle Gleichzeitigkeit gibt. Also können gegenwärtige Ereignisse auch nicht gegenüber vergangenen oder zukünftigen Ereignissen realer oder sonst wie ontologisch ausgezeichnet sein. Dieses Argument ist regelrecht ein Paradebeispiel für ein Argument aus der naturalisierten Metaphysik. Es nimmt aber nur auf eine wissenschaftliche Hypothese Bezug (die Relativität der Gleichzeitigkeit) und vereinheitlicht diese nicht mit einer weiteren wissenschaftlichen Hypothese.

Das Argument gegen (PNG) lautet daher wie folgt:

(A1) Das Argument aus der Speziellen Relativitätstheorie gegen den Präsentismus ist de facto ein Argument innerhalb der naturalisierten Metaphysik. Gleiches gilt für naturwissenschaftlich informierte Argumente für oder wider die Reduzierbarkeit der klassischen Genetik auf die molekulare Biologie.

(A2) Wenn die Charakterisierung der naturalisierten Metaphysik durch (PNG) extensional angemessen ist, dann sind diese Argumente keine Argumente innerhalb der naturalisierten Metaphysik.

(K1) Die Charakterisierung der naturalisierten Metaphysik durch (PNG) von L&R ist extensional nicht angemessen. Die Extension des Prinzips (PNG) ist zu eng und deshalb versagt (PNG) als ein methodologisches Prinzip.[10]

Letztendlich kann man sich auch fragen, ob Vereinheitlichungsleistungen wirklich der naturalisierten Metaphysik vorenthalten sind. Es stimmt zwar, dass keine Einzelwissenschaft ausdrücklich der Vereinigung im Sinne von (PNG) gewidmet ist. Trotzdem können und vereinheitlichen Einzelwissenschaftler de facto wissenschaftliche Hypothesen immerzu. Das florierende Forschungsfeld der Quantenbiologie ist hier nur ein Beispiel unter vielen. Hier werden Hypothesen aus der fundamentalen Physik (Quantenphysik) mit Hypothesen aus der Biologie vereinheitlicht und folglich Erklärungsgewinne erzielt. Tatsächlich sind interdisziplinär arbeitende Wissenschaftler Experten auf diesem Gebiet und daher scheinbar viel besser ausgebildet um Hypothesen wissenschaftlich zu vereinheitlichen als Metaphysiker. Philosophisch gesprochen kann man das Ergebnis dieser Überlegungen so zusammenfassen: L&R wollten die Metaphysik konservativ auf die Wissenschaft zurückführen. Tatsächlich scheint die Reduktion aber eliminativ, da nach ihr keine Aufgabe für den Metaphysiker übrigbleibt.

2. Der ontische Strukturenrealismus (Kapitel 3)

Der zweite Abschnitt meiner Rezension widmet sich dem dritten Kapitel des Buches. In diesem Kapitel motivieren die Autoren den ontischen Strukturenrealismus anhand der Quantenphysik und der Relativitätstheorie. Der ontische Strukturenrealismus ist eine revolutionäre Metaphysik, nach der es in der physikalischen Welt letztendlich gar keine Dinge (Objekte), sondern nur Relationen gibt. Ich stelle kurz die konzeptuellen Merkmale der Quantenphysik vor (Unterabschnitt 2.1.), auf welchen die Diskussion um den ontischen Strukturenrealismus in Bezug auf die Quantenphysik beruht. Die Argumente für den ontischen Strukturenrealismus in Bezug auf die Relativitätstheorie sind ähnlich (Argument aus Unterbestimmtheit) und werden hier nicht gesondert dargestellt. Anschließend kritisiere ich die Argumente von L&R als philosophisch unzufriedenstellend.

2.1. Physikalische Grundlagen[11]

Die ersten und primären Gegenstände der Quantenphysik sind die Systeme auf der mikrophysikalischen Ebene der Natur. Beispiele für solche Systeme sind Elektronen und Photonen, Protonen und Neutronen einschließlich ihrer Konstituenten (Quarks) ebenso wie ganze Atome. Es ist angebracht auf diese Entitäten ontologisch neutral als „Systeme“ und nicht als „Teilchen“ Bezug zu nehmen, weil sie sich manchmal auch wie Wellen verhalten. Ein mikrophysikalisches System ist dabei in einem sehr weiten Sinne alles auf der grundlegenden Ebene der Natur, von dem Eigenschaften prädiziert werden können.

Es kann zwischen zeitunabhängigen und zeitabhängigen Eigenschaften unterschieden werden. Eine zeitunabhängige Eigenschaft bleibt während der gesamten Existenz eines Systems unverändert. Beispiele sind die Ruhemasse und die Ladung eines Systems.

Ein Elektron etwa hat immer eine Ruhemasse von 0,51 MeV und eine elektrische Ladung von -1e. Eine zeitabhängige Eigenschaft eines Systems ändert sich dahingegen mit dem Zustand eines Systems mit. Beispiele sind hier wiederum der Ort, Impuls, Energie oder Spin in einer gegebenen Raumrichtung eines mikrophysikalischen Systems.

Man kann sich das radikal Neue in der Quantenphysik nun so verdeutlichen: Nehmen wir an, die Eigenschaft eines Systems kann verschiedene Werte wie sagen wir „Up“ ("↑") oder „Down“ ("↓") annehmen. Dann befindet sich das System laut der klassischen Physik immer in einem Zustand, in dem es entweder den Wert „↑“ oder den Wert „↓“ für diese Eigenschaft hat. Das heißt, es besitzt immer einen definiten numerischen Wert für alle seine Eigenschaften. Nach der Quantenphysik gilt für zeitabhängige Eigenschaften nun genau dies nicht. Das heißt nach dem dort gültigen Superpositionsprinzip (SP) kann sich ein System in einem Zustand der Überlagerung der Werte „↑“ und „↓“ befinden.

Das Superpositionsprinzip ist nicht auf einzelne Systeme beschränkt. Auch zusammengesetzte Systeme können sich in einem Zustand der Überlagerung (Superposition) von mehreren Eigenschaftswerten befinden. Das einfachste Beispiel ist ein zusammengesetztes System aus zwei Systemen von Spin ½ im Singulett-Zustand:

|Ψ-〉 = 1 / √2 * (|↑z〉1 |↓z〉2 - |↓z〉1 |↑z〉2).

Diese Formel beschreibt den Gesamtzustand eines zusammengesetzten Gesamtsystems aus zwei Systemen mit Spin ½ wie etwa zwei Elektronen oder Neutronen. Nach ihr befindet sich das Gesamtsystem in einer Überlagerung der Zustände „erstes System Spin up und zweites System Spin down“ (|↑z〉1 |↓z〉2) und „erstes System Spin down und zweites System Spin up“ (|↓z〉1 |↑z〉2) in z-Richtung. Die Teilsysteme haben gar keinen Spinzustand in z-Richtung für sich genommen, ihre Spinzustände sind verschränkt.

Zustandsverschränkungen werden häufig mit einem Holismus assoziiert. Genauer gesagt werden verschränkte Ganze wie das zusammengesetzte System im Singulett-Zustand von den meisten Autoren als holistische Systeme verstanden. Dabei ist ein System grob gesagt holistisch genau dann, wenn es mehr als die Summe seiner Teile ist. Ein verschränktes Ganzes im Singulett-Zustand ist also holistisch, gdw. es in einem gehaltvollen Sinne mehr ist als die zwei Teilsysteme, aus denen es besteht. Da L&R verschränkte Ganze als holistische Systeme begreifen, sind sie auch der Ansicht, dass hier der Atomismus und die „Containment-Doktrin“ versagen, nach der ein Ganzes seine Eigenschaften allein aufgrund seiner Teile und deren kausalen Interaktionen besitzt.

Der Holismus kann als eine horizontale und als eine vertikale These verstanden werden. Als eine horizontale These besagt er Folgendes:[12] Ein System S ist holistisch genau dann, wenn die Teile, aus denen S besteht, hinsichtlich einiger ihrer konstitutiven Eigenschaften davon ontologisch abhängig sind, dass es andere Teile gibt, mit denen sie in einer geeigneten Weise arrangiert sind, dass sie das System S bilden. Die betreffenden Eigenschaften werden als relationale Eigenschaften bezeichnet. Eine relationale Eigenschaft ist eine Eigenschaft, die ein Objekt nur abhängig davon besitzt, dass es in Begleitung anderer Objekte auftritt. Diese Relationen bestehen in den irreduziblen Beziehungen der Teile untereinander, welche das Ganze bilden. Die Teile, welche das holistische Ganze bilden, haben also einige ihrer Eigenschaften nur innerhalb des Ganzen.

2.2. Relationen ohne Relata

Der ontische Strukturenrealismus (OSR) erfüllt diese Definition des Holismus. Und damit kommen wir auf das Werk von Ladyman und Ross zurück. Der OSR in Bezug auf verschränkte Zustände besagt, dass die Elektronen des Ganzen im Singulett-Zustand einige ihrer konstitutiven Eigenschaften nur in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander besitzen. Mithin hat kein Elektron allein für sich eine dieser Eigenschaften. Vielmehr bestehen die Eigenschaften in Relationen der Elektronen untereinander. Das Ganze besteht in einer Struktur im Sinne physikalischer Relationen zwischen den Elektronen.

L&R gehen mit ihrem radikalen OSR aber noch einen entscheidenden Schritt weiter. Nach ihnen gibt es im Falle von Zustandsverschränkungen gar keine Relata (Objekte), sondern nur noch Relationen (Struktur).[13] Da sie mit einer Vielen-Welten-Interpretation sympathisieren, in der Zustandsverschränkung nie aufgelöst werden, vertreten sie, dass es auf einer fundamentalen Ebene immer nur Relationen gibt. Vermeintliche Relata einer bestimmten Beziehung würden sich bei genauerer physikalischer Analyse immer als relationale Strukturen herausstellen. Diese Sichtweise motivieren sie kenntnisreich nicht nur für die fundamentale Materie durch die Quantenphysik, sondern auch für die Raumzeit-Eigenschaften durch die Relativitätsphysik (Kapitel 3). Später übertragen sie diese Sichtweise noch von der fundamentalen Physik auf die Spezialwissenschaften und bauen ihre Position somit zu einer allgemeinen relationalen Metaphysik aus (Kapitel 4).

Der radikale OSR hat viel Kritik auf sich gezogen.[14] Selbst viele Sympathisanten des OSR argumentieren, dass es keine Relationen ohne Relata geben kann. Sprich: Wenn es Relationen gibt, dann gibt es automatisch auch Relata, also Objekte, zwischen denen die Relationen bestehen bzw. die in diesen Relationen stehen. Die Philosophen Michael Esfeld und Vincent Lam haben deshalb einen moderaten OSR entwickelt, nach dem es zwar Objekte gibt, diese aber nichts über das hinaus sind, was in den Relationen steht.[15] Anders ausgedrückt sind die fundamentalen Objekte und Raumzeitpunkte also nur durch ihre relationalen Eigenschaften charakterisiert. Sehen wir uns für ein besseres Verständnis dieser Diskussion zwischen radikalen und moderaten OSR ein Beispiel an:

(A) Tom ist größer als Tim.

In (A) wird behauptet, dass Tom die Eigenschaft hat, größer als Tim zu sein. Diese Eigenschaft besitzt Tom nur insofern es auch Tim gibt. Es ist eine relationale Eigenschaft im oben definierten philosophischen Sinne, nach der ein Objekt eine relationale Eigenschaft nur abhängig davon hat, dass es in Begleitung anderer Objekte auftritt.[16] Wenn Vertreter des moderaten OSR von Relationen sprechen, dann, so ist mein Eindruck, haben sie häufig relationale Eigenschaften in diesem philosophischen Sinne im Kopf. Wenn man Relationen in diesem Sinne versteht, dann ist es eine analytische Wahrheit, dass sie nicht ohne Relata auftreten können. Das heißt dann kann es Relationen ohne Relata qua definitionem nicht geben. Mithin ist das nur eine Sache der Begriffsdefinition.

Wenn dagegen Befürworter des radikalen OSR von Relationen sprechen, verstehen sie Relationen oft mehr in einem physikalischen Sinne. Sie meinen damit dann etwas, das unabhängig von raumzeitlichen Abständen existiert, das nicht in klar abgrenzbaren Raumzeitgebieten lokalisiert ist oder Ähnliches. Nichts schließt aus, dass Relationen in diesem Sinne ontologische Priorität gegenüber lokalisierten Relata zukommen. Nach meiner persönlichen Einschätzung lässt sich ein Großteil der Kontroverse zwischen moderatem und radikalem OSR darauf zurückführen, dass diese beiden Relationsbegriffe durcheinandergebracht werden. So oder so ist die entscheidende Frage aber, wie L&R die grundlegende Idee des OSR begründen und wie überzeugend diese Begründung ist. Um dies zu verstehen, müssen wir uns noch mit einer anderen Debatte vertraut machen.

Fortsetzung in Teil 2.

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