Identitarismus ist unvereinbar mit dem Humanismus

Humanistisches Projekt an einem gefährlichen Scheideweg

Identitarismus ist unvereinbar mit dem Humanismus

Foto: Pixabay.com / geralt

Identitär: Eine Person oder Ideologie, die dafür eintritt, dass die Gruppenidentität die wichtigste Eigenschaft einer Person ist und dass Gerechtigkeit und Macht in erster Linie auf der Grundlage der Gruppenidentität und nicht des individuellen Verdienstes betrachtet werden müssen. (Quelle: Urban Dictionary)

„Die Bekenntnisse zum Humanismus“: Wir versuchen, trennende Gruppenloyalitäten zu überwinden, die auf Rasse, Religion, Geschlecht, Nationalität, Glauben, Klasse, sexueller Orientierung oder ethnischer Zugehörigkeit beruhen, und bemühen uns, für das gemeinsame Wohl der Menschheit zusammenzuarbeiten. (Paul Kurtz, Free Inquiry, Frühjahr 1987)

Das humanistische Projekt befindet sich an einem gefährlichen Scheideweg. Ich fürchte, dass unser Zusammenhalt als Humanisten durch eine Form des Identitarismus zerrissen wird, die aus langjährigen Freunden Feinde und aus natürlichen Verbündeten Gegner macht.

Gerade zu einer Zeit, in der wir alle zusammenkommen müssen, um gemeinsam gegen den christlichen Nationalismus und die Zunahme religiöser Privilegien in der Gesetzgebung vorzugehen, ist der Humanismus mit einer Spaltung innerhalb seiner eigenen Bewegung konfrontiert. Es ist herzzerreißend, dies zu beobachten, und noch entmutigender, zu wissen, dass der Bruch immer größer zu werden scheint.

Die Spaltung hat mit einem grundlegenden Gebot des Humanismus zu tun, dass die Bereicherung der menschlichen Individualität und die Würdigung des Individuums die Basis darstellt, auf der der Humanismus aufgebaut ist. Der Humanismus wertet das Individuum auf - und das aus gutem Grund: Jeder von uns ist der Held seiner eigenen Geschichte. Nicht nur, dass die individuelle Souveränität für das humanistische Projekt wichtiger ist als die Gruppenzugehörigkeit, auch der Kampf für die individuelle Freiheit - einschließlich der Gewissens- und Meinungsfreiheit und der Freiheit der Wissenschaft - ist Teil der umfassenden Agenda des Humanismus. Er setzt Kreativität frei und gibt uns den Freiraum, unser Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Zumindest war dieser Gedanke früher der Kern des Humanismus.

Heute gibt es einen Teil der Humanisten, die Identitären, die dem Einzelnen und seinen Freiheiten misstrauisch gegenüberstehen. Sie wollen keine freie Gesellschaft, wenn dies bedeutet, dass einige Menschen ihre Freiheit nutzen, um Ideen zu äußern, mit denen sie nicht einverstanden sind. Sie sehen alles durch die enge Brille der Rasse, des Geschlechts, der ethnischen Zugehörigkeit oder einer anderen demografischen Kategorie und versuchen, Gruppen, die sie als marginalisiert ansehen, vor angeblichen psychischen Schäden zu schützen, die durch die Äußerungen anderer verursacht werden.

Dies hat zu einem zersetzenden kulturellen Umfeld geführt, in dem umstrittene Redner auf dem Campus niedergebrüllt werden; sogar liberale Professoren und Zeitungsredakteure verlieren ihren Job wegen winziger, einmaliger Beleidigungen; große historische Persönlichkeiten werden gelöscht, weil sie Männer ihrer Zeit waren; und eine Reihe von haarsträubenden Behauptungen über Mikroaggressionen, kultureller Aneignung und andere Verbrechen gegen die aktuelle Orthodoxie.

Sie hat Humanisten, die für grundlegende bürgerliche Freiheitsrechte wie Redefreiheit und gleichen Rechtsschutz eintreten, gegen andere auf der politischen Linken ausgespielt, die der Meinung sind, dass die individuellen Freiheiten weichen sollten, wenn sie nicht den Interessen ausgewählter Identitätsgruppen dienen. Das wichtigste Merkmal des Symbols der Gerechtigkeit ist nicht das Schwert oder die Waage, sondern die Augenbinde. Die Identitären würden sie abnehmen, damit sie bestimmte Gruppen gegenüber anderen begünstigen kann.

Gute Menschen mit einem humanistischen Herzen werden an den Pranger gestellt, wenn sie sich nicht bis ins kleinste Detail dem identitären Evangelium anschließen. Ein Paradebeispiel dafür ist die Entscheidung der American Humanist Association (AHA) im vergangenen Jahr, ihre Auszeichnung von Richard Dawkins als Humanist des Jahres 1996 zurückzuziehen. Der Mann, der mehr als jeder andere auf der Welt dazu beigetragen hat, die Evolutionsbiologie und das öffentliche Verständnis dieser Wissenschaft voranzubringen, der Millionen von Menschen mit dem Atheismus bekannt gemacht hat und dessen lautstarke Opposition gegen Donald Trump und den Brexit sicherlich seine liberale Glaubwürdigkeit untermauert hat, wurde wegen eines einzigen Tweets zu Transgender-Fragen, der der AHA nicht gefiel, kontaminiert.

Offenbar werden Jahrzehnte guter Arbeit durch 280 Zeichen ausgelöscht. Einfach puff. Kein Wunder, dass eine Umfrage der New York Times(1) kürzlich ergab, dass 84 Prozent der Erwachsenen es für ein „sehr ernstes“ oder „ziemlich ernstes“ Problem halten, dass einige Amerikaner aus Angst vor Vergeltung oder harscher Kritik nicht frei sprechen.

Das ist es, was die Identitären angerichtet haben. Anstatt den Einzelnen aufzurichten und ihm Autonomie und all die außergewöhnliche Einzigartigkeit zu verleihen, die sich daraus ergibt, würden die Identitären uns alle in rassische, ethnische und geschlechtsspezifische Gruppen einteilen und diese Gruppenzugehörigkeit zu unserem bestimmenden Merkmal machen. Dies führt zu der verzerrenden Auswirkung einer Auslöschung persönlicher Handlungsfähigkeit, der  Belohnung der Opferrolle einer  Gruppe und bietet einen Anreiz für den Wettbewerb, als der am meisten Unterdrückte betrachtet zu werden.

Abgesehen davon, dass es von Natur aus spaltend ist, ist dies ein sich selbst verstärkender Defätismus. Dies führt zu extremen Beispielen wie der Planung in Kalifornien zur Abschaffung der Rechenarten als Reaktion auf die anhaltenden Rassenunterschiede in den mathematischen Leistungen.(2) Plötzlich ist ein so rassisch neutrales Fach wie Mathematik zu einem Brennpunkt für Identitäre geworden, die die Ergebnisgleichheit für bestimmte Gruppen sicherstellen wollen, anstatt den weitaus gerechteren Standard der Chancengleichheit. In diesem belasteten Umfeld wird die Verringerung der Notwendigkeit von Strenge und die Abschaffung anspruchsvoller Standards zu einer plausibelen Lösung. Der Begriff des individuellen Verdienstes oder der Anerkennung, dass einige Schüler besser in Mathematik sind als andere, wird rassistisch eingefärbt und gilt als verdächtig.

Unter diesem Angriff auf den gesunden Menschenverstand leidet nicht nur die Wahrheit, sondern wir beginnen, in einer Harrison-Bergeron-Welt zu leben, in der die natürlichen Fähigkeiten eines Menschen zwangsläufig auf dem Altar der Gleichheit oder, wie man heute sagt, der Gerechtigkeit geopfert werden.

Natürlich konzentrieren sich die Identitären nicht nur auf die Rassenfrage. Auch die Geschlechtertrennung steht im Mittelpunkt. Ich war vor kurzem auf einer säkularen Konferenz, als ein humanistischer Führer die Ansicht vertrat, dass man nicht über Abtreibung sprechen dürfe, wenn man keine Gebärmutter habe.

Wirklich? Nur Menschen mit weiblichen Fortpflanzungsorganen sollten zu einem der wichtigsten Themen unserer Zeit gehört werden? Eine solche Forderung ist selbst eine Form von bedauernswerten Sexismus. Und sie scheint absichtlich die Tatsache zu ignorieren, dass viele Menschen mit einer Gebärmutter aktiv gegen das Recht auf Wahlfreiheit sind, während viele Menschen ohne Gebärmutter zu unseren größten Verbündeten für das Abtreibungsrecht gehören. Warum sollten diejenigen von uns, denen die reproduktive Freiheit am Herzen liegt, die Hälfte der gesamten Menschheit aus der Liste der potenziellen Unterstützer und Aktivisten streichen?

Wie bereits von anderen gesagt wurde, die angesichts einer solch engstirnigen Sichtweise fassungslos und beunruhigt sind, muss man nicht arm sein, um eine fundierte Meinung über Möglichkeiten zur Linderung der Armut zu haben. Man muss kein Polizeibeamter sein, um eine fundierte Meinung zur Polizeiarbeit zu haben. Und ebenso muss man keine Frau sein, um eine fundierte Meinung über Abtreibungsrechte zu haben.

Wenn die zu Beginn dieses Artikels zitierte Affirmation, die „trennende Gruppenloyalitäten“ auf der Grundlage oberflächlicher Gruppenzugehörigkeiten ablehnt, keine Ablehnung des Identitarismus ist, dann weiß ich nicht, was es ist. In seinem Essay „Humanismus und die Freiheit des Individuums“ von 1968 stellte Kurtz freiheraus fest:

Jeder Humanismus, der das Individuum nicht wertschätzt, so behaupte ich, ist weder humanistisch noch humanitär. ... Jeder Humanismus, der diesen Namen verdient, sollte sich um die Bewahrung der individuellen Persönlichkeit mit all ihren einzigartigen Idiosynkrasien und Besonderheiten bemühen. Wir brauchen eine Gesellschaft, in der die volle und freie Entfaltung jedes Einzelnen das herrschende Prinzip ist. Das Vorhandensein individueller Freiheit ist somit eine wesentliche Bedingung für das gesellschaftliche Wohl und ein notwendiges Ziel des Humanismus.

Das Individuum ist der wichtigste Bestandteil des Humanismus. Wenn man uns unsere Individualität nimmt, damit wir uns stattdessen vorgeschriebenen Identitätsgruppen anzupassen haben, geht etwas Wesentliches des humanistischen Projekts verloren. Diejenigen, die auf dieses Gesellschaftskonzept drängen, missverstehen den Humanismus, vermindern das menschliche Potenzial und die Selbstverwirklichung und treiben überall einen Keil zwischen guten Menschen.

Übersetzung: Jörg Elbe

Robyn E. Blumner ist CEO und Präsidentin des Center for Inquiry und Executive Director der Richard Dawkins Foundation for Reason & Science.

Anmerkungen

1. The New York Times/Siena College Research Institute February 9–22, 2022 1,507 United States Residents Age 18+

2. Jacey Fortin, “California Tries to Close the Gap in Math, but Sets Off a Backlash” New York Times, November 4, 2021

Hier geht's zum Originalartikel...

Kommentare

  1. userpic
    Uwe Lehnert

    Die beiden letzten Absätze dieses Beitrags – der von Kurtz und der Schlussabsatz von Blumner – fassen die Schlussfolgerungen aus der Ablehnung des Identitarismus sehr gut zusammen.

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